Michael Braun zu Sarah Kirschs Gedicht „Salome“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Salome“ aus dem Lyrikband Sarah Kirsch: Zaubersprüche. –

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

Salome

Das Riesenrad dreht sich nicht, es ist Nacht.
Der Wind bewegt die Gondeln, in der obersten
Auf einer Holzbank die Tänzerin, die Schuhe
Zertanzt. Sie ist achtzehn mit allen Diplomen
Seit sie den Roten liebt den mit der weißen Haut
Er über die Welt spricht
Tanzt sie wie eine Feder.

Der Rote wiegelt die Leute auf
Da steht er am Fenster zählt Flugblätter ab
Setzt sich aufs Fahrrad rollt über das Pflaster.
Das war das Attentat.
Der Rote hat eine Kugel im Kopf und redet
Irre. Das Riesenrad dreht sich nicht

Salome schaukelt
Kommt nicht aus der Gondel, nicht diese Nacht
Salome hat sich
Eingeschlossen. Später
Muß sie gehn und fordert den Kopf.

Sie tanzt wie eine Feder
Leicht gebogen, den Kopf zurück, auf den Zehn.

 

Liebeserklärung und Revolutionsgedächtnis

Was haben die Dichter nicht alles aus Salome, der Tänzerin mit den zwei Köpfen, dem eigenen und dem des Täufers, gemacht! Den Kirchenvätern und den Aufklärungsdichtern war sie als leichtfertige verführerische Tänzerin ein Dorn im Auge, Heine hingegen fühlte sich von dem „Liebeswahnsinn“ und den ästhetischen Reizen der Figur angezogen. Um 1900 machte Salome als Femme fatale auf der europäischen Bühne Karriere. Oscar Wildes Skandalstück Salome war zeitweise gerichtlich verboten; Sarah Bernhardt, die bekannteste Schauspielerin ihrer Zeit, die bei der Pariser Uraufführung des Dramas 1896 die Titelrolle spielte, wurde aufgrund ihrer jüdischen Herkunft auf fatale Weise mit der gespielten Figur identifiziert. Als schöne jüdische Verderberin und als „existentielle Außenseiterin“ (Hans Mayer) ist Salome in der frühen Moderne viele Bühnentode gestorben, einen grausamer als den anderen. Eigentlich merkwürdig, daß die Gegenwartslyriker achtlos an dieser Kunstfigur vorbeigegangen sind. Nur nicht Sarah Kirsch! Monolithisch steht ihr Salome-Gedicht in der spätmodernen Rezeption des Mythos. Es findet sich in dem Band Zaubersprüche, der 1973 in der DDR erschien, vier Jahre bevor die Autorin, die sich „den Gesetzen / die hierorts walten länger nicht ergeben“ konnte, in den Westen ausreiste.
Das Judentum Salomes spielt für die Autorin, die sich aus Protest gegen den latenten Antisemitismus des Vaters einen jüdischen Vornamen gegeben und 1967 die traurige „Legende über Lilja“ geschrieben hat, hier aber keine Rolle. Ihre Salome ist eine hochgejubelte Tänzerin, eine junge Hoffnungsträgerin der Kunst. Aber sie steckt in keiner beneidenswerten Situation. In einer Gondel sitzt sie fest, nachts, hoch oben auf dem Riesenrad, mit zertanzten Schuhen. Das Märchenmotiv leitet über in die Erinnerung an eine Liebe, in der die Zeit zum Tanzen gebracht wird. Salomes Tanz gilt dem „Roten“, einer tragischen Figur mit einer „Kugel im Kopf“. Rot ist die klassische Farbe der Revolution, und den „Roten“ kann man mühelos mit dem „Berufsrevolutionär“ Rudi Dutschke identifizieren, der von den einen als „Volksfeind“ verhetzt, von den anderen als intellektueller „Charismatiker“ der Achtundsechziger Generation gefeiert wurde. 1961 ist er aus der DDR nach West-Berlin gegangen. Seine Dissidenten-Biographie deckt sich zeitweise mit Kirschs eigenen frühen DDR-Erfahrungen.
Im Mittelpunkt des Gedichts steht – als einziger Vers in der Vergangenheitsform – „das Attentat“ auf dem Berliner Kurfürstendamm vom 11. April 1968, an dessen Spätfolgen Dutschke 1979 starb. Gehört er zu den poetischen Maskeraden der Dichterin? Denn nicht Revolutionsgedächtnis, vielmehr Liebeserklärung ist ja die erste Hälfte des Gedichts.
In der zweiten Gedichthälfte geht es um die Folgen der Liebe, die mit den Folgen des Attentats untrennbar zusammenhängt. Der „Rote“ hat der Tänzerin nichts mehr zu sagen, weder auf die Sprache der Revolution noch auf die Sprache der Liebe kann sie mehr zählen. Ihr steht ein gefallener Prophet, ein hilfloser Rebell gegenüber, der nur noch Flugblätter abzählen und auf dem Fahrrad übers Pflaster rollen kann. An ihm sind alle persönlichen Hoffnungen der Künstlerin auf Fortschritt und Freiheit zerschellt. Deshalb scheint die Tänzerin, die nicht mehr versteht, was der „irre“ Redende sagt, nur sieht, was er tut, auch mit einem Liebesverrat abzurechnen: Sie „fordert den Kopf“ des Geliebten – und den des Lesers, der zwischen den Zeilen den Protest der bewegten und bewegenden Kunst gegen das stillstehende „Riesenrad“ der Geschichte des Realsozialismus mitlesen kann.
Aber „Salome“ ist kein typisches DDR-Gedicht. Sarah Kirschs Zaubersprüche artikulieren „Widerrede“ und „Klagruf“ gegen jede Art von politischer und persönlicher Freiheitsunterdrückung. Aufwiegelung der Massen, Rebellion gegen die „Könige des Herzens“ und die des Staates sind schlechte Lösungen, um die „Freiheit… groß werden zu lassen“. Salomes leiser Triumph am Ende bleibt der Tanz. In ihm kehrt das Gedicht, fast selbstvergessen, ohne ästhetischen Aufwand, mit schlichtem Vokabular, nach vier immer kürzer werdenden Strophen zu seinem Anfang zurück. Der im vorletzten Vers wiederholte Feder-Vergleich unterstreicht, daß es, auch ohne große Worte, die Kunst ist, um die sich zu allen Zeiten die Salome-Figur dreht.

Michael Braun, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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