Diese Frau

Immer wieder, während Wochen, war mir diese Frau zufällig vorgekommen, wie von selbst; wie im Traum. Und doch wohl – bei der Häufigkeit! – nicht ohne Grund.
Ob sie es wollte? Weil ich es hoffte?
Ich traf sie, sie traf mich auf den Plätzen und Brücken dieser Stadt. Oft saß ich ihr unversehens in der Straßenbahn gegenüber. Oder sie setzte sich zu mir auf eine öffentliche Bank. Und wenn ich gelegentlich aus dem Kellergeschoß durch die vergitterte Luke hinaus – hinauf ins Freie – sah, konnte ich ihrem gesenkten Blick begegnen.

Mehr nicht.
Aber ich begann sie zu mögen, sie wurde mir wichtig und leicht. Fast ebenso oft, wie ich in Wirklichkeit mit ihr zusammenstieß, dachte ich an sie; versuchte, mir ihre Stimme auszumalen, mal weiß, mal grün. Doch eigentlich war diese Frau präzis genug vorhanden; sie war sogar, indem ich sie mir dachte, überdeutlich da, wenn auch eben deshalb nicht zu haben.
So gewöhnte ich mich daran, daß es sie gab; daß wir einander da und dort trafen, ohne uns näherzukommen. Wir gehörten – wie nur? – jeder zu des andern Leben. Die Linie ihres Rists, ihres Nackens könnte ich noch heute nachzeichnen auf diesem Papier, und der Geruch ihrer Haut war mir bis zur Bewußtlosigkeit vertraut. Anders kam mir freilich ihr strahlend nach innen gerichtetes Lächeln vor; Leihgabe hinter Glas. So begann ich sie zu vergessen. Bis eines Tags eine starke, nicht mehr ganz junge Dame am Steuer ihres Sportkabrioletts scharf bremsend neben mir am Straßenrand anhielt, aus lachsroten Polstern vertraulich zu mir herübergrüßte und, während sie den Schlag aufstieß, sehr leise, fast beschwörend sagte:
»Komm! Schlafen wir zusammen. Wer schläft, der ist nicht tot …«
Doch war es schon zu spät; es war zu dunkel. Ich konnte mich nicht mehr erinnern. So blieb sie unerkannt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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