Horst Bienek: Zu Paul Celans Gedicht „Wir lagen…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Wir lagen…“ aus Paul Celan: Lichtzwang.

 

 

 

 

PAUL CELAN

Wir lagen
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang.

 

Ein Stein blutet nicht

In seiner Dankrede zum Büchnerpreis 1960 sagte Paul Celan:

Die Kunst erweitern? Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.

Bis zu dem Gedichtband Sprachgitter hat Celan seinen Gedichten noch Überschriften gegeben, jedes Gedicht war ein Einzelstück, solitär; seit Atemwende verstand er sich mehr und mehr als ein Autor, der an einem Fragment fortschreibt, die Gedichttitel wurden zurückgenommen; der Zeilenanfang in Versalien kündigte einen immer neuen Anfang an, ein immer neues Stammeln, einen immer erneuten Versuch zur Sprachlitanei; das führte immer mehr zur „Enge“, zu Engführungen, zu Verkürzungen, zu Hieroglyphen. Das waren Steine, hingeworfen, roh behauen, Steine, die den Schrei in sich bargen. Wie er es in dem benachbarten Brancusi-Gedicht ausdrückte: ein Schrei im Stein, dem schon behauenen, weißen – der freilich das Wort nicht mehr hergibt, sonst „tät es sich auf als Wunde…“ Und heißt es nicht bei den Propheten: ein Stein blutet nicht? – Bluten die Worte Celans?
Seine letzten Gedichte, so schien es mir, sind wie jene Bernsteine, die ein Insekt einschließen: hier ein Wort, das fremde und ungekannte, das erschreckende. Genicht; Steinblitz; Treckschutenzeit; gesömmert; erluchtet – es ist, als habe er die Gedichte geschrieben, nur um diese Wörter unterzubringen.
Gedichte, die nicht auf Aussage bedacht sind, lassen zahlreiche Interpretationen zu, Celans späte Texte laden dazu ein, essayistische Kunststückchen aufzuführen. Will man ihm nahekommen, muß man gerade dies vermeiden. Einer, der mit dem Wort weit hineinschwingt in die Ausdeutung, will doch beim Wort genommen sein.
Ein Naturgedicht also? Dämmerung, Abend, Nacht, irgendwo im Süden? Nichts weniger als das. In meinem Wörterbuch finde ich für „Macchia“: „charakteristischer immergrüner Buschwald des Mittelmeergebiets, vgl. Maquis‟. Und dort steht dafür: „Gestrüpp, Unterholz“; aber auch noch die andere Bedeutung:

franz. Widerstandsorganisation im 2. Weltkrieg.

Und daran hat Celan wohl gedacht, Verfolgter in dieser Zeit, der später einige Dichter des Maquis übersetzt hat, so Cayrol, so Michaux.
Aber das grelle Wort Maquis hätte den „Zauber“ des Gedichts zerstört, zu früh und zu schrill; es ist eher ein Abbröckeln, ein Verklingen, das Wort Macchia taucht es ein in das schillernd-naturhaft Mehrdeutige. Weil der Autor Angst hat vor dem Eindeutigen.
Doch haben wir erst einmal die Basis des Gedichts gefunden, steht es ziemlich klar vor uns: der Machisard (Maquisard), vielleicht verwundet, den man in den Schutz des Dunkels hineinnehmen wollte, in das Dunkel des eigenen Körpers – aber es herrschte „Lichtzwang“, vielleicht der Tag, der Mond, die Scheinwerfer des Feinds? Oder ist es die Wahrheit des Gedichts, die es ans Licht „zwingt“?
Ein Gedicht, das ein Kunst-Stück fertigbringt: zeitlos kommt es daher, geheimnisvoll, apokryph; und dann schließt es sich auf, in einem Wort, mit einem Wort; und vielleicht ist dieses eine Wort „Lichtzwang“ zugleich eine Aufforderung, das Dunkel seiner Gedichte aufzuzwingen mit Licht!
„Lichtzwang“, so heißt der letzte Gedichtband, den Paul Celan einige Wochen vor seinem Freitod dem Verleger zum Druck übergeben hat. „Lichtzwang“: auch so ein Wort, über das man nicht gerade spekulieren, aber doch noch ein wenig nachdenken sollte. Darübergebeugt wie über einem Insekt, das im Stein eingeschlossen ist. Ein Stein kann nicht bluten. Aber ein Stein kann leuchten.

Horst Bienekaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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