Ulrich Karthaus: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Archäischer Torso Apollos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Archäischer Torso Apollos“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Archäischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

 

Die Macht des Lichts

Das Gedicht eröffnet den Band Der neuen Gedichte anderer Teil. Mit dem Titel bezeichnet Rilke nicht die später, nach seinen frühen Gedichten entstandenen, sondern einen qualitativ anderen Typus des Gedichtes. Er spricht 1903 in Briefen an Lou Andreas-Salomé davon:

Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit. Das Modell scheint, das Kunst-Ding ist.

Kunst ist demnach „ganz getragen von Gesetz“, ein Ergebnis von „Disziplin“, „Arbeitenkönnen und Arbeitenmüssen“.
Als ich in den fünfziger Jahren dies Gedicht zum ersten Male las, feierte man Rilkes Lyrik als das herausragende Inspirationsereignis der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts. Erst später lernte ich, daß Dichten auch Arbeit ist. Rilke drückt mit seiner Definition des „Ding“-Gedichtes den uralten Dichterwunsch nach Unsterblichkeit aus, den Horaz zweitausend Jahre vor ihm mit seinem Wort vom monumentum aere perennius – dem Denkmal, dauerhafter als Erz – ausgesprochen hatte und der seither immer wieder das Produktionsethos von Poeten bestimmt.
Und zu einem gewissen Zeitpunkt begann dies Gedicht, seit Jahren bekannt und scheinbar vertraut, mich zu faszinieren, und das kam so. In der deutschen Literaturwissenschaft gab es in den siebziger Jahren die sogenannte Rezeptionsästhetik. Man fragte nach dem Anteil des Lesers am Verständnis literarischer Werke und gelangte bisweilen zu einer übermäßigen Betonung dieses Anteils, so daß von der Substanz der Dichtung nur wenig übrigblieb. Es war dies eine Mode, wie sie deutsche Literaturwissenschaft immer wieder durchgespielt und aus der sie gelernt hat wie aus anderen.
Rilkes Gedicht hat mir damals plötzlich wieder deutlich gemacht, was fast in Vergessenheit geraten war: Ein Kunstwerk ist mehr als ein „Artefakt“, denn das ist schließlich auch ein Dosenöffner oder ein Schuhanzieher. Das Kunstwerk stellt an den Betrachter einen Anspruch, vor dem er bestehen oder versagen kann. Rilke spricht das in der sich steigernden Macht des Lichtes aus, das von dem Stein ausgeht – eine Metapher der Wahrheit. Der Stein „glüht“, „glänzt“, kann „blenden“, und in der dritten Strophe geht dies Leuchten in Bewegung über: es „flimmert“, bricht endlich über seine Grenzen hinaus und blickt den Betrachter an. Es mündet in einem Imperativ:

Du mußt dein Leben ändern.

Was heißt das? Sicherlich ist keine lebensreformerische oder innenarchitektonische Änderung der Lebensweise gemeint, obwohl die Entstehungszeit des Gedichtes, der wir die Reformhäuser und die Inneneinrichtungen des Jugendstils verdanken, das nahelegen könnte. Es ist auch nicht ein Katalog von Geboten gemeint, wie sie den Juden im Dekalog und den Christen in der Bergpredigt verpflichten.
Ich sehe in der Wahrheit, die aus dem Torso leuchtet, etwas wie den „Glanz“, der in Kafkas Türhüter-Parabel „unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“. Auch dies Gesetz wird ja von Kafka nicht definiert oder gar kodifiziert, ebensowenig wie die Änderung des Lebens, die Rilkes Torso fordert. Es ist das individuelle Gesetz des eigenen Lebens, das uns im Kunstwerk begegnet, unsere eigenen unverwirklichten Möglichkeiten. Wir ahnen sie vielleicht in beglückten Augenblicken, aber wir können sie nicht artikulieren, weil sie möglich sind und nicht wirklich. Wir begegnen ihnen nur in einem Akt freier Erkenntnis. Deshalb spricht dies Gedicht von einem Torso und nicht, beispielsweise, vom Apoll von Veji, dessen archaisches Lächeln den Besucher der Villa Giulia in Rom bezaubert.

Ulrich Karthausaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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