Eckhard Heftrich: Zu Stefan Georges Gedicht „An Gundolf“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stefan Georges Gedicht „An Gundolf“ aus Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band 6/7: Der siebente Ring. –

 

 

 

 

STEFAN GEORGE

An Gundolf

Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen
Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse:
Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen!
Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse?

 

Poetische Glut

Von George war während meines Germanistik-Studiums in den fünfziger Jahren nie die Rede gewesen, von Rilke desto mehr. 1963 erschien aber in der Zeit eine lange Rezension des Briefwechsels zwischen George und Gundolf, durch die mein bleibendes Interesse geweckt wurde. Mit dem Anspruch auf längst fällige Aufklärung erzählte der Rezensent, Walter Boehlich, eine „Geschichte“: wie nämlich Gundolf, „ein großes Talent“, von George „erst für immer verborgen und dann kalt einer spinnigen Ideologie geopfert worden ist, bis zum physischen Tod“.
Doch schon die Belegstellen, die der Ankläger da gegen George vorbrachte, lagen quer zum schäumenden Redefluß. Dieser Widerspruch weckte die Neugierde und damit ein rasch wachsendes Interesse an dem großen Lyriker, dem zu Lebzeiten so verehrten wie umstrittenen, dann tabuisierten und nun so heftig verklagten „Meister“ des Kreises. Die Lektüre des Briefwechsels selbst erregte den Verdacht, da habe ein tiefsitzendes Ressentiment den Kritiker zur blinden Parteinahme für das angebliche Opfer von Georges „Unmenschlichkeit“ verführt.
Der Rezensent zitierte auch den Anfang des kleinen Spruchgedichtes, aber nur bis „… erfinden kannst…“, und er tat’s, um zu diesem Schluß zu kommen:

Gescheitheit beunruhigte ihn.

Das war so falsch wie schnöde. George brauchte sein Leben lang niemandes Gescheitheit zu fürchten, und schon gar nicht, wenn es sich, wie dem Briefwechsel zu entnehmen, um die Mahnung des dreißigjährigen Dichters an einen ihn verehrenden Studenten handelte. Den Vierzeiler sandte der Ältere im August 1899 nach der zweiten Begegnung dem Neunzehnjährigen. Er redete den Jüngling noch mit „Sie“ an, hatte aber dessen Familiennamen Gundelfinger schon in den poetischeren Gundolf verwandelt: ein Zeichen nicht nur der Zuneigung, sondern auch dafür, daß seine Hoffnung statt der wissenschaftlichen der dichterischen Begabung galt. Und ebendiese sah er bereits bedroht, obwohl sie vorerst kaum mehr als ein Versprechen war.
Schon beim ersten Gespräch soll Gundolf von George eine Antwort auf die kindlich anmutende Frage erhofft haben, welcher von seinen beiden Heroen, Caesar oder Alexander, die bedeutendere Rolle für die Weltgeschichte gespielt habe. Darauf beziehen sich wohl zunächst die „fernen menschen“ und die „sagen“. Hat George gespürt, daß sich da eine Obsession vorbereitete? Gundolf ist von seiner Fixierung auf Caesar nie mehr losgekommen. Aber die Mahnung des Gedichtes geht weit darüber hinaus, versucht sie doch zu bannen, was dann auch die sehr persönliche Tragödie grundieren sollte, die nach zwei Jahrzehnten fruchtbarer Einwirkung und Zusammenarbeit zur Entfremdung und zum Bruch des Meisters mit dem Jünger führte: den fortschreitenden Verlust des Dichterischen, also des Vermögens, ureigenste Erfahrungen unverwechselbar und gültig auszudrücken.
Gundolf wurde kein Dichter, wohl aber ein Literarhistoriker und -interpret von hohem Rang. Ohne die poetische Glut, die durch George angefacht wurde, hätte er vielleicht ein Leben lang fleißig geforscht und gelesen, und der Zweifel des „Warum“ wäre ihm nicht fruchtbar geworden. So aber war sein Schicksal, statt „licht“ und „lösung“, der produktive Riß in der eigenen Existenz. Über dieses Schicksal hinaus, an dem auch George auf seine Weise zu tragen hatte, bleibt das „Warum“ als der Zwiespalt, der jeden begleitet, der mit dem Wort, das selber er erfinden kann, dem Wort der Dichter dient.

Eckhard Heftrichaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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