Friederike Mayröcker: Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Dieses Eckchen nämlich…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Dieses Eckchen nämlich…“ aus Friederike Mayröcker: Gedichte 1939–2003. 

 

 

 

 

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

DIESES ECKCHEN NÄMLICH VON ARZT DU WEISZT DIESE ZIRREN (ZIRBEN)
von Weisz die der Maler ausspart diese Eckchen von
Maiglöckchenblume dasz der Betrachter ERFINDET im Anschauen
des Bildes weisze Flecken von Maiglöcken Blumen, ja, selbst
den Duft der Blume aus dem Geschauten erfährt, eben so
dieses Fleckchen von Weisz von Bildnis von Tröstung du weiszt
dieses Eckchen von Arzt, während auf dem Tischtuch die üppigen roten
Blütenblätter von Amaryllis wie rote Feuerzungen wie Lappen
wie rote Löffel von Hase, nicht wahr

 

Da hängt der vergangene Sommer,

mein weiszes Gewand

Vogel faltenlos, 2 weisze Steinchen, 1 Gestrüpp im Blumentopf. Am frühen Morgen des 4. Juni 2000 sitze ich am Küchentisch und höre den Ruf des Pirols. 1 biszchen Aulandschaft. Auf dem mit roten Amaryllisblüten bedruckten Tischtuch schreibe ich 1 Gedicht während das Haustelefon läutet: EJ bittet mich zu kommen, ich unterbreche verstört meine Arbeit – obwohl der Anfang des Gedichts geht auf den Anblick ein Gemälde der Malerin Maria Gruber zurück die weiszen (ausgesparten) Stellen sind meine Maiglöckchen Offenbarung. Obwohl der Anfang des Gedichts geht auf den Besuch bei meinem Arzt Herwig Niessner zurück welcher sich verbeugt und die Hände faltet wenn ich die Praxis betrete = die Kommunion des fliederfarbenen Hasen ich will meine Seele tauchen geschrieben 5 Tage vor EJ’s Tod.
Ich gebe mich einer Zerrüttung hin es schwebt mir was vor: dieses Eckchen von Arzt, dieser Zirbenhain im Garten des Peter Handke. Ich wache auf MIT GEFÜHLEN, diese sprieszen wie Veilchen Maiglöckchen Amaryllis, ich betrete das kl. Café und es kommt mir vor: 1 Strausz Veilchen im Glas 1 Strausz Maiglöckchen hinter Glas und ich verlange nach einem Hasen aus Schokolade wie damals in Köln als wir ein paar Schokoladebären in einer Auslage sahen und uns wunderten und lachten und mit dem Finger zeigten und alles wieder verschwand, Dieter Roth usw. Und ich erinnerte mich an einen Abend da ich Joseph Beuys in einem Kellerlokal sah wie er mit einem toten Hasen im Arm durch seine eigene Ausstellung spazierte und die Bilder mit der Pfote des Hasen berührte und mit ihm sprach („wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ Aktion in der Galerie Schmela in Düsseldorf am 26. November ’65), im WALDREGEN / Wehklagen, hatte es was Zierliches ach Diffuses, in der Tram usw. Aber wuszte nicht mehr ob ich geträumt oder ob es im Wachzustand dasz wir mit dunklen Locken am Gemäuer vorüberhuschten auf welchem 1 URINOIR gesprayt, und ich 1 Klagelied anzustimmen begann, es war 1 glühender Sommertag und es hatte was ZIERLICHES von Maiglöckchen und wir huschten an dem heiszen Gemäuer des Schloszgartens vorüber zu einander flüsternd und rufend und wuszten nicht ob. Die Kuckucksblume, bis spät in die Nacht, und ich denke an das zu entstehende Werk sehne mich nach dem zu entstehenden Werk und es schwebt mir was vor „wie 1 Wind vom Gebirg in die Eichen fällt den Schritt auf die weich schwellenden Blumen setzend“ (Sappho ), schreibe mit anatomischem Herzen, der rosa Schnee des Morgenhimmels (es ist Winter geworden) DA hängt der vergangene Sommer: mein weiszes Gewand an der Wand usw., der Hase bin ich, so Joseph Beuys, mir bebten die Zweige.

Friederike Mayröckeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtunddreißigster Band, Insel Verlag, 2015

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