Barbara Hahn: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Heimweh“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Heimweh“ aus Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. 

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Heimweh

Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn.

Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
Weiß ich nicht zu deuten.

Die Nacht ist eine Stiefkönigin.

Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
Und küsse die Bilder meiner Sterne.

Meine Lippen leuchten schon
Und sprechen Fernes,

Und bin ein buntes Bilderbuch
Auf deinem Schoß;

Aber dein Antlitz spinnt
Einen Schleier aus Weinen –

Meinen schillernden Vögeln
Sind die Korallen ausgestochen,

An den Hecken der Gärten
Versteinern sich ihre weichen Nester.

Wer salbt meine toten Paläste –
Sie trugen die Kronen meiner Väter,
Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.

 

Die Nacht ist eine Stiefkönigin

Als ob aus der Ferne eine Melodie herüberwehte. Weich und wohlbekannt, mit Anklängen an den Ton von Märchen: Bilderbuch, Schleier, Korallen, Paläste, Kronen. Doch dann immer wieder ein Aufhorchen. Unbekannte Wörter und Wendungen wie Pharaonenwälder, Stiefkönigin, Paläste, die gesalbt werden. Auch im Rhythmus immer wieder ein leichtes Holpern. Und plötzlich entzieht sich das Gedicht; es wird fremd, fast unheimlich. Als ob sich ein Abgrund öffnet.
Nicht, nicht, nicht, dreimal wird in den ersten Strophen etwas verneint. Dem folgt ein Wort, das sich vom „nicht“ nur durch einen Buchstaben unterscheidet: Nacht. „Die Nacht ist eine Stiefkönigin“ – eine einsame Strophe. Es ist keine schützende, sondern eher eine bedrohliche Nacht. Eine Nacht, die nicht einhüllt, sondern einsam macht. Die Nacht des Exils. Doch nur in dieser Nacht scheinen die Geschicke des Ich erkennbar zu sein; sie sind wie in einem Sternbild dargestellt. In etwas, was nur aus großer Entfernung zu sehen ist; im Gedicht aber ist diese Ferne so nah, daß eine Berührung im Kuß möglich wird.
Else Lasker-Schüler, Deutschlands große jüdische Dichterin, mißt in ihrem um 1909 entstandenen Gedicht Nähe und Ferne zu diesem Land aus. In der Mitte des Gedichts – ein langer, langer Satz. In dessen Mitte zwei Verse hintereinander, die beide mit demselben Wort beginnen:

Und sprechen Fernes,
Und bin ein buntes Bilderbuch

Was aber wird hier verbunden? Die versprochene Nähe des Ich zu seinem Du, in dessen Schoß es liegt, erfüllt sich nicht. Weit ist es vom Schoß bis zu den Augen des Du. Ob das Du seinen Blick zum bunten Buch wendet? Zwischen Ich und Du ist der Schleier aus Tränen, den wohl kein Blick durchdringt.
Mit dem „Immer“ am Beginn der vierten Strophe tritt das Gedicht in eine andere Welt. Unaufschiebbare Gedanken an ferne, verlorene Räume stellen sich ein. An die Pharaonenwälder. An ein Exil, das am Schluß des Gedichts mit den Flüssen wiederaufgenommen wird, in denen die Gebete versanken. „Heimweh“ – dieses Gedicht schreibt die Psalmen über das Exil um und nimmt ihnen dabei die Weichheit von Luthers Deutsch. Alle Bilder finden hier ihr Echo. Im 136. Psalm lesen wir vom Mond und den Sternen, die der Nacht vorstehen; wir lesen vom Pharao, der mit seinem Heer ins Schilfmeer gestoßen wurde; im 137. Psalm, der „Wehklage der Gefangenen“, von den Weiden an den Ufern der Wasser von Babel, in die die gefangenen Juden ihre Harfen hängen:

Denn dort hießen sie uns singen, die uns gefangenhielten.

Singen wie die Vögel, denen die Korallen wie Augen ausgestochen wurden. Da reißt ein Schmerz ins Gedicht. Ein Schmerz, der im „sich versteinern“ gleich noch einmal aufgenommen wird. In der Schlußstrophe findet sich dann auch das Wort, das hier vorbereitet wird: tot. Tote Paläste. Und so endet das Gedicht, das sich so lange im Präsens halten konnte, in zwei Versen im Präteritum. Etwas ist vorbei. Etwas ist vergangen. Das Gedicht kann es nicht erinnern. Es kann aber die Lücke aufreißen, die diese Vergangenheit andeutet. Das Du in der Mitte teilt diese Bewegung nicht. Es bleibt in der Mitte, wandert nicht mit an die Ränder. Und so ist es am Schluß ein sehr trauriges, ein sehr einsames Gedicht. Das aus dem Rhythmus der Sprache gefallen ist, in dem es geschrieben wurde.

Ich kann nicht.

Ein Anfang, der wie ein Abgesang klingt. Der ein Lied beginnt, das wie die Gebete der Väter im Wasser versinkt. Ein weinendes Lied. „Heimweh“ – kein Heim im Hintergrund, auf das sich dieses Weh richten könnte.

Barbara Hahnaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00