Rudolf Walter Leonhardt: Zu Hans Leips Gedicht „Lili Marleen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Leips Gedicht „Lili Marleen“ aus Hans Leip: Die Hafenorgel. –

 

 

 

 

HANS LEIP

Lili Marleen

Vor der Kaserne,
vor dem großen Tor
stand eine Laterne.
Und steht sie noch davor,
so wolln wir uns da wiedersehn,
bei der Laterne wolln wir stehn
wie einst, Lili Marleen.

Unsre beiden Schatten
sahn wie einer aus.
Daß wir so lieb uns hatten,
das sah man gleich daraus.
Und alle Leute solln es sehn,
wenn wir bei der Laterne stehn
wie einst, Lili Marleen.

Schon rief der Posten:
Sie blasen Zapfenstreich.
Es kann drei Tage kosten!
Kamerad, ich komm ja gleich.
Da sagten wir auf Wiedersehn,
wie gerne wollt ich mit dir gehn,
mit dir, Lili Marleen.

Deine Schritte kennt sie,
deinen zieren Gang,
alle Abend brennt sie,
doch mich vergaß sie lang.
Und sollte mir ein Leids geschehn,
wer wird bei der Laterne stehn
mit dir, Lili Marleen?

Aus dem stillen Raume,
aus der Erde Grund
hebt mich wie im Traume
dein verliebter Mund.
Wenn sich die späten Nebel drehn,
werd ich bei der Laterne stehn
wie einst, Lili Marleen.

 

Nina Hagen & Nana Mouskouri singen 1990 „Lili Marleen“.

 

Keine Schnulze

Was an diesem Lied bedarf einer Interpretation? Was, um Himmels willen, rechtfertigt es, dieses Lied in eine illustre Anthologie aufzunehmen?
Es gibt keinen poetischen Text, der zu seiner Zeit einer ähnlich großen Zahl von Menschen derart bekannt gewesen wäre. Die Zahl der Zeitgenossen, die Shakespeares Hamlet kannten oder Goethes Werther, ist groß (geschätzt: etwa 100.000). Sie ist nichts, verglichen mit der Zahl derer, die Hans Leips „Lili Marleen“ kannten und noch kennen (geschätzt: etwa 100 Millionen).
Ist aber nicht die Zahl derer, die jede Schnulze der Hit-Paraden kennen, noch größer? Erstens nein: denn die meisten Schnulzen von heute sind morgen vergessen, dieses Liebeslied aber ist 63 Jahre alt. Und schon deswegen ist es, zweitens, keine Schnulze.
Es hat mit einem Schlager freilich gemeinsam, daß es weltberühmt erst wurde, nachdem es die richtige Musik und dazu die richtige Stimme gefunden hatte. Der Komponist Norbert Schultze war ein talentierter Eklektiker, der leider auch die Melodie für „Bomben auf Engelland“ geschrieben hat. Die Sängerin, die der unvergessenen Lili Marleen ihre Stimme gab, hieß (mit ihrem Künstlernamen) Lale Andersen.
Lale Andersen hatte Respekt vor dem Lied und seinem Dichter. Das kommt ihrem Vortrag ebenso zugute wie die spröde Erotik ihrer Stimme. Besonders deutlich wird das, wenn man ihre Version mit der der berühmtesten Interpretin vergleicht. Marlene Dietrichs Lied wirkt im Vergleich wie eine Salonversion. Sie hatte auch zu wenig Respekt vor dem Text. Die schöne erste Strophe, die stärkste des ganzen Liedes, verdrehte sie zu Unsinn.
Dem hatte freilich der Komponist Vorschub geleistet, indem er seine Fermate nicht hinter den dritten Vers setzte („stand eine Laterne“), wo sie hingehört, sondern hinter den vierten, wo sie nun den Nebensatz („und steht sie noch davor“) von seinem nachfolgenden Hauptsatz trennt („so wolln wir uns da wiedersehn“). Also singt Marlene:

Vor der Kaserne,
vor dem großen Tor,
steht ’ne Laterne,
und steht sie noch davor.

Damit wird Hans Leip, dem wo nicht Kühlen, so doch Klaren aus dem Norden, größeres Unrecht angetan als mit der Parodie von Robert Neumann, die ihn so überflüssigerweise gekränkt hat. Nonsens-Verse schrieb er nicht. Und er dachte gar nicht daran, irrtümlich zu behaupten, daß die Laterne da noch steht.
Eben nicht. Das ist doch ein Lied, das die Vergänglichkeit besingt, die durch Erinnerung noch eine Weile gebannt werden kann. An die Stelle von Wirklichkeit treten Träume. Joseph Goebbels wußte schon, warum er dieses Lied nicht mochte und seine Sängerin verfolgte. Zwar vertrat es für Millionen in aller Welt von 1941 bis 1945 das Nachtgebet, wenn es zum Sendeschluß vom Soldatensender Belgrad ausgestrahlt wurde; aber die Moral einer Truppe, die kämpfen und siegen sollte, wurde dadurch nicht gefestigt im Sinne der Machthaber.
Die ersten drei Strophen hatte Hans Leip 1914 geschrieben, kurz ehe er selber von Berlin an die Front ausrücken mußte. Ein persönliches Erlebnis lag zugrunde. Die beiden letzten, schwächeren, schrieb er 1915 dazu. Ein großes lyrisches Gedicht ist das wohl nicht. Allzu unterschiedlich ist die poetische Intensität der einzelnen Strophen, von der überwältigenden ersten bis zur schwachen fünften.
Aber wenn die „Lili Marleen“ das Lied des Zweiten Weltkrieges werden konnte, in alle europäischen Sprachen übersetzt, wie kein anderes immer wieder variiert, auch parodiert, dann sollten wir den Anteil des Autors an diesem Welterlebnis nicht gering einschätzen.

Rudolf Walter Leonhard, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Bd. 4, Insel Verlag, 1979

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