Ausgelesen

Unlängst las ich bei Terras, dass in Russland in den 1830er und 1840er Jahren ein versierter Leser quantitativ alles lesen konnte, was damals in Buchform oder in Zeitschriften und Almanachen erschien. Ein Kritiker wie Belinskij durfte wohl für sich in Anspruch nehmen, die gesamte literarische Produktion jener Jahre gelesen zu haben, über die er dann in seinen Chroniken berichtete. Und …
… aber heute! Niemand – nicht einmal der professionelle Rezensent ? hat auch nur eine ungefähre Übersicht über das, was neu auf den Büchermarkt kommt, geschweige denn, dass er mehr als einen Bruchteil davon in Händen gehalten oder gar gelesen hätte. Das Besprechungswesen (ich verallgemeinere und lobe mir dabei die wenigen aufzählbaren Ausnahmen) orientiert sich schon längst nicht mehr an der Sache der Literatur, will heissen an eigentlich literarischen Kriterien. Schon die Auswahl dessen, was besprochen wird, ist eher trend- denn qualitätsbestimmt, hat also vorab Inhalte (Plots, Probleme, «Aussagen») zum Gegenstand, die sich leicht rekapitulieren und oft auf den Umfang eines 
Waschzettels eindampfen lassen. Rezensionen solch gängiger Verlagsware sind denn auch meistens nicht viel mehr als Paraphrasen auf Werbetexte – sie machen deutlich, dass Bücher dieser Art nicht mehr gelesen, bloss noch «gesehen» werden müssen.
Es scheint tatsächlich zu genügen, den «neuen XY», die «neue YZ» gesehen zu haben, es genügt, sich ein ungefähres Bild zu machen, sich eine persönliche Meinung zurechtzulegen und darüber im Feuilleton sich auszulassen, allenfalls mit dem Eingeständnis, man sei, als Rezensent, von dem Buch «angetan», gar «angerührt» oder auch nur «gelangweilt», schlimmstenfalls «enttäuscht» gewesen.
Keine Rede jedoch, im Regelfall, vom Text als solchem – vom Bau der Sätze, der Konstruktion von Figuren und Metaphern und Ähnlichem mehr. Nicht dem Text gilt das Interesse, nur dem, was drin steht. Statt die textimmanenten Voraussetzungen zu klären, von denen der jeweilige Autor ausgegangen ist und an denen er zu messen wäre, wird lediglich über die momentane Wirkung berichtet, die der Kritiker an sich selbst wahrnehmen kann und deren Relevanz in Bezug auf das besprochne Werk eher unerheblich ist.
Fragt sich nur: War’s bei Belinskij anders, besser vielleicht? Sind seine Lesarten über den Tag hinaus gültig, anregend, produktiv geblieben? Was man sicherlich sagen darf – er hat die besprochenen Texte gelesen; er hat sie lesen müssen, denn Waschzettel und Werbeprospekte, die von der Kritik als Lesehilfe hätten genutzt werden können, gab’s damals noch nicht.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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