Bericht

Ich erinnere mich an ein spätes Gespräch mit Edmond Jabès in dessen Pariser Wohnung an der Rue Mouffetard. Ich hatte schon mehrere seiner Bücher übersetzt und wollte nun wissen, an welchen weitern Texten ihm im Hinblick auf deutsche Leser am meisten gelegen wäre – was er denn also vorschlagen würde?
Am wichtigsten war ihm damals sein lyrischer Zyklus Récit, den er 1980 beim Verlag Fata Morgana vorgelegt hatte, ein Text, in dem seine grossen Themen wie auch seine dichterischen Verfahren auf diskrete Weise noch einmal vorgeführt werden. Ich kannte dieses schlichte Alterswerk bereits, wusste, dass es sprachlich keine grössern Schwierigkeiten für die Übersetzung bot, ausgenommen allerdings eine leitmotivisch wiederkehrende homophone Fügung – «il et son féminin l’île» –, zu der im Deutschen keine Entsprechung zu finden ist.
Als ich Jabès darauf aufmerksam machte, winkte er ab; man könne die Formulierung, meinte er, durchaus auch wörtlich übersetzen und auf den französischen Gleichklang von «il» (er, männ­lich) und «île» (Insel, weiblich) in einer Fussnote verweisen. Ich mochte mich damals zu dieser Notlösung nicht entscheiden; die Übersetzung blieb unausgeführt.
Zwanzig Jahre sind seither vergangen, und nun bin ich im Zusammenhang mit einem neuen Übersetzungsprojekt erneut mit Récit konfrontiert. Die einstigen Skrupel sind überwunden, doch die von Jabès vorgeschlagne wörtliche Verdeutschung jener Homophonie behagt und genügt mir noch immer nicht.
«Er und seine weibliche Form die Insel.» Oder kürzer, wenn auch durchaus unpoetisch: «Er und sein Femininum die Insel.» Erst als ich die Entsprechung «Er und sie die Insel» gefunden hatte, eine Lösung, durch die der unbrauchbare grammatikalische Begriff «Femininum» die Form des weiblichen Personalpronomens «sie» erhielt und, als Apposition dazu, das auch im Deutschen weibliche Wort «Insel», konnte ich mich an die Arbeit machen.
Der deutsche Wortlaut des Verses hatte jetzt fast die gleiche Silbenzahl wie im Original (6 statt 7), die Bipolarität er/sie ist, obwohl etwas vordergründig, erhalten geblieben, ebenso das Wort Insel, in dem das Pronomen sie noch einmal anagrammatisch aufgehoben ist.
Erst nachträglich wurde mir übrigens klar, was es mit dem prosaischen Gedichttitel Récit auf sich hat. Damit will Jabès wohl nicht bloss auf den andeutungsweise narrativen Charakter des Gedichts verweisen (récit als «Erzählung»), vielmehr – und eigentlich umgekehrt – darauf, dass es sich bei dem Text um ein vorwiegend zitathaftes Schriftstück handelt; denn das Wort récit ist ein perfektes Anagramm sowohl für citer (zitieren) wie auch für écrit (Schriftstück).
In der Übersetzung lässt sich diese mehrdeutige Lesart naturgemäss nicht wiedergeben. Als Entsprechung zu récit habe ich «Bericht» gewählt, ein Wort, in dem wiederum dessen französi
sches Äquivalent anagrammatisch vollständig enthalten ist (bERIChT > RÉCIT) und das überdies die Fürwörter «er» und «ich» in sich birgt, die bei Jabès als lyrische Subjekte figurieren. Wo die Wörter selbst – über ihre Sprachfamilie hinaus – derartige Verwandtschaften erkennen lassen, hat für mich auch eine ansonsten verlustreiche Übersetzung ihre Richtigkeit.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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