Liebesnot

Insgesamt siebzehn Jahre ihres allzu kurzen Lebens hat die russische Dichterin Marina Zwetajewa – geboren 1892 in Moskau, gestorben 1941 in Jelabuga – unfreiwillig im Exil verbracht. Revolution und Kriegskommunismus zwangen die Tochter aus grossbürgerlichem Haus zur Flucht, spurten ihren nomadischen, äusserst entbehrungsreichen Lebensweg ein, der über Berlin, Prag und Paris wieder zurück in die Sowjetunion führte, wo sie sich – nach Tatarstan abgeschoben, als Rückwanderin von den stalinistischen Behörden beargwöhnt und vom Literaturbetrieb faktisch ausgeschlossen – den Tod gab. In einem ihrer späten Briefe umschrieb und erklärte sie ihre damalige Situation wie folgt: «Mit den ständigen Ortswechseln habe ich mein Realitätsgefühl allmählich verloren: Mich gibt es immer weniger … Es bleibt bloss mein grundsätzliches Nein
Dass Marina Zwetajewa ungeachtet ihrer erratischen Vita, ungeachtet auch der Tatsache, dass sie als alleinerziehende Mutter dreier Kinder (von denen eines während des Bürgerkriegs an Unterernährung starb) extrem belastet und stets auf die Armutsgrenze fixiert war, ein umfangreiches literarisches Werk von fast durchweg höchstem Rang geschaffen hat, ist staunenswert genug; noch erstaunlicher – dass von ihr überdies Hunderte von Briefen sowie rund zwei Dutzend Arbeits- und Notizhefte erhalten geblieben sind, die zweifellos – neben Rainer Maria Rilkes Korrespondenzen, Paul Valérys Heften, Franz Kafkas Tagebüchern oder E.M. Ciorans Aufzeichnungen – zu den grossen Zeit- und Lebenszeugnissen des vergangenen Jahrhunderts gehören.
Vier Bände, gut 2.000 Druckseiten insgesamt, sind unter dem schlichten Titel Unveröffentlichtes zwischen 1997 und 2001 aus Marina Zwetajewas weit verstreutem Nachlass publiziert worden, zuletzt – in zwei Bänden – fünfzehn ihrer Notizhefte aus den Jahren 1913 bis 1939, die, sieht man von einigen Zeitlücken ab, als ein durchlaufendes Tagebuch zu lesen sind.
Die Integralität der doch recht disparaten Texte – es finden sich darunter Wahrnehmungs- und Traumnotizen, Briefentwürfe und Werkkonzepte, Mikroessays und Gedichte, Aphorismen und Exzerpte – ergibt sich nicht aus dem chronologischen oder thematischen Zusammenhang, sondern einzig aus der permanenten machtvollen Präsenz der Autorin, die sich zugleich als schreibendes und handelndes Ich sowie als «Heldin» in vielerlei Gestalt zu erkennen gibt, um ganz allein und nur für sich selbst ein Stück Welttheater – eine Tragödie, versteht sich – vorzuführen. Die eingestandne Subjektivität der Inszenierung soll deren objektive Gültigkeit beglaubigen. Deshalb fehlen in den vorliegenden Aufzeichnungen zeitgeschichtliche Realien und Personen weitgehend, während das Privatissimum der Autorin – von den Niederungen der Windelwäsche bis zu den Orgasmen dichterischer Kreativität – minutiös dokumentiert wird.
Die grosse Welt der Zwetajewa ist eine Gegenwelt zur schlech
ten Alltäglichkeit hienieden, gleichwohl ist es keine bloss gute oder gar ideale Welt, es ist ein eigenwilliges riskantes Konstrukt, das eignen Bau- und Funktionsgesetzen folgt und das im Akt seiner Entstehung – durch kühne Vergleiche, Metaphernbildungen, Assoziationen,  rhetorische  Figuren  – auch  eine  eigne Dynamik gewinnt. Die Schreibhefte bilden gewissermassen die Bühne, von der herunter die Autorin (wohlverstanden: ohne Publikum) ihr trotziges Nein an all jene adressiert, die anders sind als sie, mithin an die Mehrheit der Normalverbraucher, von denen der Gang der Dinge auf Erden, wohl oder übel, bestimmt wird und die sie in dem desolaten Gefühl bestärken, niemandes Zeitgenossin zu sein.
Die tragische Intonation, von der die meisten Werke Marina Zwetajewas und grade auch ihre Tagebücher getragen sind, ist ebenso wie ihre fundamentale Einsamkeit und ihr lange inten
dierter Suizid letztlich darauf zurückzuführen, dass sie – unfähig, sich der bestehenden Welt anzupassen – die Welt sich selber anpassen, ja unterwerfen wollte. Womöglich erklärt sich daraus auch ihre befremdliche, bisweilen pathetisch überhöhte Vergötterung starker, «weltbewegender» Männer wie Goethe (als Genie), Casanova (als Beherrscher der Frauenwelt) oder Napoleon (als Staatsmann und Eroberer).
Die Zwetajewa sieht sich als «dezidierte Frondeuse», vereinigt in sich «spartanisches» mit «mystischem» Lebensgefühl, empfindet sich als ein Nichts und kann deshalb Alles werden – der grosse Generator solchen Werdens ist die Liebe. In ihren Aufzeichnungen ist die Liebe, in all ihren Spielarten, mit ihren unvergleichlichen Höhepunkten und in ihrem unvermeidlichen Scheitern, das dominante Thema. Da die Autorin nirgendwo in der Welt sich zu verorten vermochte, sollte ihr Ort die Liebe sein, und sie selbst wollte diesen Ort – auch er eine Art Bühne – in immer wieder andern Rollen bespielen.

Der Ort der Frau ist die Liebe.

Die Liebesaura des Mannes entsteht aus der Liebe der Frau, die Aura der Frau – aus der Liebe zu sich selbst.

Ist es nicht gleichgültig, mit wem man auf Erden schläft, da man doch unter der Erde ohnehin mit jedem schlafen wird, der zufällig da ist.

In der Liebe hat der recht, der mehr Schuld trägt.

Die physische Liebe ist vor allem ein Seelenzustand.

Der Leib ist in der Liebe nicht das Ziel, sondern das Mittel.

Körperliches Zutrauen – das steht bei mir für «Leiden­ schaft».

Auf den Bereich des Geschlechts übertrage ich ganz unter­ schiedliche Dinge: Höflichkeit – Beleidigung – délicatesse de cœur.

Zwei Leidenschaften: das Bett (Träume haben) und der Schreibtisch (sie aufschreiben) – oder: der Schreibtisch (Träu­me haben) und das Bett (sie verwirklichen, im Schlaf ).

Ein Mann, der mich nicht liebt, ist mir ein Rätsel.

Manche meiner Geliebten kenne ich wohl gar nicht.

Ich könnte herrliche – ewige! – Verse schreiben, liebte ich das Ewige ebenso wie das Vergängliche.

Wenn ich an meinen Tod denke, bin ich zutiefst verwirrt: wo­hin dann mit all meiner Liebe?

Als Liebesgöttin konnte die Zwetajewa, wenn sie sich im Spiegel zu sehn bekam, nicht taugen: ihre Schultern waren zu breit, ihre Hände zu schwer, ihr Haar vorzeitig ergraut, ihre Augen stets gerötet und verklebt. Dennoch ist ihr in Liebesdingen nichts fremd geblieben – von der Mutterliebe über die jäh aufglühende Gelegenheitsliebe bis zur Vaterlands- und Gottesliebe, von der ehelichen bis zur lesbischen Liebe hat sie alles, wenn auch nicht alles mit gleicher Intensität erprobt, ganz abgesehn davon, dass sie sich, darüber hinaus, leicht und gern mit mythologischen oder historischen Frauengestalten identifizierte, um so die Liebe einer Diana, einer Carmen, einer Bettina von Arnim, einer Sarah Bernhardt, selbst eines Hl. Johannes (der «vielleicht eine Frau» war!) noch einmal in sich zu versammeln.
Ihre eigne Androgynie hielt Marina Zwetajewa für die ideale Ausformung des sexuellen Leibs, ihre bevorzugten Partner waren transsexuelle «Mädchen», das heisst knabenhafte Frauen (Typ «Jeanne d’Arc») oder weiblich veranlagte Männer (Typ «Chopin»), doch auch von souveränen, vorzugsweise adeligen Damen und soldatisch auftretenden Herren liess sie sich immer wieder faszinieren. Keine ihrer realen Liebesbeziehungen – ausgenommen ihre Ehe, die freilich nur punktuell gelebt wurde und nicht mehr als eine zweitbeste Liebe war – blieb von Dauer, die meisten 
endeten dramatisch, manche (etwa jene mit Pasternak, mit Rilke) gelangten nicht über den Verbalverkehr hinaus.
Die grosse, die grösste Liebe kann und darf für die Zwetajewa, die sich selbst als «Seelenkurtisane» bezeichnet hat, nicht konsumierbar sein, nie ist Liebe «jetzt», und wenn das Glück, also ihr Vollzug im Präsens droht, muss sie abgewiesen werden. Gross kann nur die Erwartung, nicht die Erfüllung der Liebe sein: «Zwei Hilfsverben machen meine Devise aus – Sein ist besser als Haben.» Frage: «Ist das meine Kälte, ist das mein ‹ich brauche keinen›? – Nein, ich leide ja selber darunter, wie ich die Liebe liebe. – Sie will nicht gelingen!.. Ich kann immer nur das Einzelne lieben: Stimmen, Hände, Worte, Lächeln, Gesten … und im Ergebnis: Einsamkeit, Ausgebranntsein, Leere.»
Mit Marina Zwetajewas Unvermögen (oder war es ihr Unwille?), sich zu Lebzeiten als Liebende und als Dichterin durchzusetzen, kontrastiert ihre stolze Gewissheit, dass jedenfalls die Zukunft ihr gehören, dass ein kommendes Jahrhundert sie als Zeitgenossin erkennen würde: «Meine lieben Urenkel, Liebhaber und Leser in 100 Jahren! Mit euch rede ich wie mit lebendigen Menschen, denn ihr werdet sein!..» Und: «Ich hab’s verdient, dass man mich liebt.» Der hochgemute Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Die Zwetajewa ist da.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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