Apti Bisultanov: Schatten eines Blitzes

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Apti Bisultanov: Schatten eines Blitzes

Bisultanov-Schatten eines Blitzes

TOD EINES FREUNDES IM KRIEG

Das Licht der Lampe zittert
Ein Skalpell verletzt mein Ohr

Es zittern meine Wimpern
Ein Vogel zuckt und stirbt

Es zittern Stein und Asche
Still wie im Sonnengrab

 

 

 

Nachwort

Im legendären Kaukasus, seit der Antike bekannt als Wiege der Zivilisation, Bienenstock der Völker und Berg der Sprachen, leben seit Jahrtausenden kaukasische, indogermanische, semitische und andere Völker miteinander, im kulturellen Austausch mit den sie erobernden Griechen, Römern, Persern, Arabern, Mongolen und Russen. Eines der Urvölker des Kaukasus sind die Tschetschenen, in antiken Quellen genannt als Dzurdzuken, Mitschkisen, Nachrschbandjanen, Auchen, Kisten. Im Unterschied zu fast allen ihren mehr als vierzig Nachbarn hatten sie nie Fürsten, Könige und einen Hofstaat, nie feudale Strukturen. Sie lebten in einem losen Sippenverband als freie Bauern auf freiem Grund, für die die persönliche Freiheit wichtigster Bestandteil ihres Selbstverständnisses war. Sie zu verlieren bedeutete Verlust ihrer Würde. Die Verteidigung ihrer Freiheit, ihrer Sippe, ihrer heiligen Berge und Friedhöfe war oberstes Sittengesetz für jeden kampffähigen Mann. Das ist der Grund, warum sie sich so verzweifelt gegen ihre Unterwerfung wehren. Besonders tragisch war für sie die russische Eroberung, die die Tschetschenen im 19. Jahrhundert auf ein Viertel reduzierte. Unter Stalin setzte sich die koloniale Politik fort. Die tschetschenische Intelligenz verschwand fast vollständig im Rachen der sowjetischen Straflager. Mit zwei Schriftreformen innerhalb weniger Jahrzehnte und dem Verbot ihrer Sprache und Religion sollte den Tschetschenen das geistige Rückgrat gebrochen werden. Bei der Deportation der Tschetschenen nach Mittelasien 1944 kamen fast 60% des Volkes um. Bedrohung von Sprache und Kultur, Überfremdung, Vertreibung und Vernichtung sind die geschichtliche Wirklichkeit, in die der künftige Dichter Apti Bisultanov 1959 hineingeboren wurde, zwei Jahre nach der Rückkehr der Tschetschenen aus der Verbannung.
Apti Bisultanovs Talent erwachte früh. Mit sieben Jahren schrieb er sein erstes Gedicht, mit siebzehn erlebte er die erste Veröffentlichung, mit achtzehn wurde er in den tschetschenischen Literaturzirkel Prometheus aufgenommen, dem bekannte Autoren wie Musa Beksultanov, Selimkhan Jandarbiev und Musa Achmadov angehörten. Doch Tschetschenien gehörte damals noch zur Sowjetunion. Prometheus wurde 1979 verboten, Apti Bisultanov als antisowjetisch verfemt. Apti Bisultanov begeisterte sich für die europäische Moderne, besonders für die spanisch sprachigen Dichter wie Ruben Dario, Pablo Neruda, Cesar Valejo, Frederico Garcia Lorca. Er schrieb vers libre, als in der Metropole Moskau fast ausschließlich gereimt und dem sozialistischen Realismus gehuldigt wurde. Gleichzeitig beschäftigte er sich intensiv mit der tschetschenischen Überlieferung, die reich ist an Formen. Es gibt das Nasam, ein von Männern gesungenes Chorlied, den männlichen Sologesang Usam, Balladen über Helden der tschetschenischen Geschichte, genannt Illi, und das oft von Mädchen gesungene lyrische Volkslied Escher und viele andere.
In der Synthese zwischen den tschetschenischen Volkstraditionen und der modernen europäischen Poesie fand Apti Bisultanov zu seinem eigenen, unverwechselbaren poetischen Stil. Als in der Perestroikazeit seine ersten Gedichtbände erschienen, wurde er schnell bekannt. Seine in freiem Vers verfassten Gedichte trafen ebenso wie seine an die tschetschenische Folklore angelehnten Formen das Herz der Tschetschenen. Viele Gedichte Apti Bisultanovs wurden vertont und leben als Lieder im tschetschenischen Volk.
Sein letzter in Grosny erschienener Gedichtband „Schatten eines Blitzes“ enthält das Poem „In Chaibach verfasst“, welches den Opfern der Deportation unter Stalin gewidmet ist. Sie schlug wie ein Blitz ein in das sowjettschetschenische Bewusstsein und erneuerte das Trauma der existenziellen russischen Bedrohung. Während alle wehrfähigen tschetschenischen Männer im 2. Weltkrieg gegen Deutschland kämpften und viele von ihnen für ihre Tapferkeit Auszeichnungen erhielten, wurden 10.000 Rotarmisten bei den tschetschenischen Familien als Gäste einquartiert. Am 23. Februar 1944, dem Tag der sowjetischen Armee, wurden die tschetschenischen Familien aus ihren Häusern getrieben und deportiert. In dem Bergdorf Chaibach waren 700 Einwohner lebendig verbrannt worden, weil sie wegen hohen Schnees nicht transportiert werden konnten: Der dafür verantwortliche Offizier meldete an Geheimdienstchef Berija:

Nur an Sie persönlich. Angesichts der Unmöglichkeit des Transports und mit dem Ziel der termingemäßen Erfüllung der Operation „Berge“ war ich gezwungen, die mehr als 700 Einwohner des Dorfes Chaibach zu liquidieren.
Grosny, Behörde für Inneres, Oberstleutnant Gweschiani

In Apti Bisultanovs Poem begegnen dem lyrischen Ich die Schatten der in Chaibach Verbrannten, halten es fest und zwingen es, sie anzuhören. In freien Assoziationen und Abstraktionen beschreibt der Dichter den Bewusstseinswandel, den die Deportation bei den Tschetschenen auslöste, die Rückbesinnung auf sich als Volk und auf die Religion. Chaibach ist Teil einer Apokalypse, die die gesamte Menschheit bedroht. Die dichte Sprache mit ihrer Fülle von Bildern, Wortwiederholungen, Reimen und Querreimen kann im Deutschen nur angedeutet werden. Ebenso wie der daktylische Rhythmus, der der tschetschenischen Dichtung spracheigen ist.
Apti Bisultanov ist einer der wichtigen Initiatoren der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung, die 1991 zum Austritt Tschetscheniens aus der Sowjetunion und der Gründung der Tschetschenischen Republik Itschkeria führte. Angesichts der russischen Kriege von 1994–96 und seit 1999, die mit modernsten Vernichtungswaffen 80% der Infrastruktur des Landes zerstörten und erneut 200.000 Tschetschenen töteten, wirken seine Verse über Chaibach wie eine prophetische Vorwegnahme der Geschichte. Das Dorf seiner Kindheit, Goitschu, welches 5.600 Einwohner zählte, ist seit den russischen Angriffen im März 2000 nur noch Asche und Staub. Selbst die Friedhöfe wurden eingeebnet.
Doch trostlos wie die tschetschenische Wirklichkeit ist Apti Bisultanovs Dichtung nicht. Sie sprüht von Leben und bedeutet wie jede gute Kunst Hoffnung.

Ekkehard Maaß, Nachwort, Februar 2004

 

In den Bergen des Kaukasus

schrieb der tschetschenische Dichter Apti Bislutanov vers libre, als im weiten Russland weitgehend dem sozialistischen Realismus gehuldigt wurde. Seine Vorbilder waren die Dichter der europäischen Moderne, vor allem Frederico Garcia Lorca, dessen Gedichte er aus dem Gedächtnis zitieren kann. Als 1979 der tschetschenische Literaturzirkel Prometheus verboten wurde, wurde auch Apti Bisultanov wegen seiner unangepassten literarischen Form als antisowjetisch verfemt. Apti Bisultanov beschäftigte sich intensiv mit der tschetschenischen Folklore und verfolgte aufmerksam die Entwicklung der modernen europäischen Dichtung. In der Synthese beider fand er zu seinem eigenen, unverwechselbaren poetischen Stil. Er gilt als Erneuerer der tschetschenischen Poesie und Meister der tschetschenischen Sprache.

kitab Verlag, Klappentext, 2001

 

Lyrik und Deportation

Weiße Lämmer
Den ganzen Tag
Träge
Reglos
Eines ruht im Schatten des anderen
Sie warten auf den Abend
Bis es Zeit ist, dass man sie holt
Dann stürzen sie hungrig herbei
Und weiden bis zum Sonnenaufgang
Auf den blauen Wiesen meiner Träume.

Die Aufgabe des Dichters bestehe darin, mit Worten an einen Ort zu gelangen, wo vor ihm noch niemand war. Dies sagte der russische Dichter Joseph Brodsky, und man darf seine Worte auch auf die Lyrik von Apti Bisultanov anwenden. Er gilt als bedeutendster tschetschenischer Dichter der Gegenwart. In den vergangenen Wochen wurde er des Öfteren um Interviews gebeten. Allerdings ging es dabei nie um seine Gedichte, sondern um die Lage in Tschetschenien und die Tragödie von Beslan.

Wer immer das getan hat: Es ist die bisher fürchterlichste und schrecklichste Widerspiegelung des tschetschenischen Krieges. Ich sage Ihnen: Beslan, das ist Tschetschenien. Während der letzten fünf Jahre sind in Tschetschenien nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen mindestens 40.000 Kinder umgekommen, mindestens.

Vor dem Krieg arbeitete Apti Bisultanov als Redakteur und Lektor, und während des ersten Tschetschenienkriegs blieb er noch Dichter. Als 1999 jedoch der zweite Tschetschenienkrieg ausbrach, wollte er nicht wieder Opfer sein, sondern schloss sich den Partisanen an. Nur durch die Ereignisse sei er in die Politik hineingezogen worden, die ihm die Zeit für seine eigentliche Arbeit nehme, meint Bisultanov.

Aber das ist mein Leben. Das Wichtigste ist, dass ich natürlich bin und aufrichtig. Ich würde sehr gern ein Jahr von den Tagen, die mir im Leben noch geblieben sind, nur der Kunst widmen.

Die Leiden des tschetschenischen Volks, die Kriege aus Jahrhunderten, die Deportation unter Stalin und schließlich die Tragödie des jetzigen Kriegs – diese Ereignisse sind Stoff vieler Gedichte von Apti Bisultanov. Doch in dem Band Schatten eines Blitzes gibt es auch andere Gedichte, die sich mit dem Wesen des Menschen überhaupt auseinandersetzen. Sie sind von Melancholie gefärbt. So zum Beispiel das Gedicht mit dem Titel „Röntgen“. Es geht vom Bild einer Röntgenaufnahme aus, die den menschlichen Körper blosslegt.

O dieser nackte Baum
Als sähe ich mich selbst

Das runde Nest im Geäst
Mein Herz
Im Rippengestrüpp

Erste Schneeflocken fallen ins Nest
Die erste Trauer des Alters
Tropft
In die runde Tasse des Herzens

Der wunderbare Federico Garcia Lorca hat gesagt: Das Traurigste auf dieser Welt ist es, ein Dichter zu werden. Dichten ist die traurigste Freude.

Schon seit seiner Kindheit hatte sich Apti Bisultanov der Dichtkunst hingegeben. Auch die tschetschenische Tragödie war seit seiner Kindheit präsent. Die Geschichte seiner Familie ist vom Trauma der Deportation geprägt, wie Apti Bisultanov erzählt:

Mein Vater ist sehr früh gestorben, da war ich erst 6 Jahre alt. Er ist an einer Verwundung gestorben, die er im zweiten Weltkrieg bei Leningrad bekommen hat. Trotz seiner Verwundung kämpfte er weiter, doch 1944 wurde er direkt von der Front nach Kasachstan deportiert, als Volksfeind. Meine Mutter hatte 10 Kinder, und fünf von ihnen sind in Kasachstan verhungert. Und von den letzten fünf bin ich der einzige, der in der Heimat geboren ist.

Die Deportation ist das Thema des längsten Gedichtes in dem Band. Es trägt den Titel „Chaibach“ und ist vor zwanzig Jahren entstanden. Chaibach ist der Name eines Dorfs und steht für eines der grausamsten Verbrechen jener Zeit. Im Februar 1944 lag in den Bergen hoher Schnee, so dass die Deportation des Dorfs Chaibach nicht möglich war. Der Kommandant liess daraufhin 700 Dorfbewohner in einen Stall sperren, um sie bei lebendigem Leib zu verbrennen. Eine Geschichte, die Apti Bisultanov sein Leben lang verfolgt hat. In dem Gedicht „Chaibach“ experimentiert er mit verschiedenen Genres der tschetschenischen Literatur: Gesänge und Gebete, die im Tschetschenischen rezitiert werden. Auch wenn man von dieser fremdartigen, wundersamen Sprache kein Wort versteht, kann man sich ihrem Reiz nicht entziehen. Wortwiederholungen, Reime und eine dramatische Entwicklung sind auch für den deutschen Hörer sofort erkennbar, wenn Apti Bisultanov sein Poem rezitiert.

In Tschetschenien selbst allerdings rezitiert heute niemand mehr Gedichte. Das liegt nicht nur daran, dass es im Krieg niemanden mehr gibt, der sie rezitieren könnte.

Die Situation ist heute so, dass die Menschen die Schönheit nicht sehen wollen.

Nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, meinte Adorno.

… und so ist es auch ganz klar, dass es in Tschetschenien keine Poesie mehr gibt.

Nur zehn Gedichte des Bandes sind während des Krieges entstanden, denn im Krieg verstummt die Dichtung. Für Apti Bisultanov ist der Krieg kein Tabuthema, sondern eine Erfahrung. So gebe es im Krieg eine eigenartige Harmonie: Die Dinge sind, was man sie nennt. Ein Feind ist ein Feind, ein Freund ein Freund. Schmerz ist Schmerz und Freude ist wirklich Freude. Eine solche Eindeutigkeit allerdings lässt keine Metaphern zu, und eine Zeit lang konnte Apti Bisultanov sich nicht vorstellen, dass er je wieder Gedichte schreiben würde. Als er vor zwei Jahren nach Deutschland ging, verabschiedete er sich von seinem Land mit einem Gedicht, das den Titel trägt: „Das erste Gedicht beim Verlassen Tschetscheniens“.

Mit beiden Händen
Das Herz fassen
Diesen alten Igel
Und alle Wunden
Mit einer Schusterahle
Fest vernähn
Wie man Stiefel flickt
Und reisen
In alle Himmelsrichtungen
Und schweigen
Wenigstens
Bis ans Ende des Lebens
Aber –

Sieglinde Geisel, Deutschlandfunk, 28.10.2004

Die Wolken über Tschetschenien

– Gespräch mit dem Schriftsteller Apti Bisultanov. –

Der tschetschenische Dichter Apti Bisultanov lebt seit zwei Jahren in Deutschland, nachdem er als Partisan im Tschetschenien-Krieg gekämpft hatte. Experimente mit traditionellen Genres der tschetschenischen Literatur findet man in seinen Gedichten ebenso wie freie Verse. Religion und Poesie lassen sich nicht trennen, meint Bisultanov.
Von Beruf Redaktor und Lektor, war Apti Bisultanov im ersten Tschetschenienkrieg noch Dichter geblieben. Als 1999 jedoch der zweite Tschetschenien-Krieg ausbrach, wollte er nicht wieder Opfer sein und schloss sich den Kämpfern an, bis er drei Jahre später sein Land verliess. Was dies für ihn bedeutete, kann man den Anfangszeilen des Gedichts entnehmen, das er diesem Abschied widmete:

Mit beiden Händen das Herz fassen
Diesen alten Igel
Und alle Wunden mit der Schusterahle
Fest vernähn wie man Stiefel flickt.

Von Kindheit an habe er in der Poesie gelebt, sagt Apti Bisultanov, und wie immer, wenn er von der Poesie spricht, hellt sich sein Gesicht auf. Nur die Umstände hätten ihn zur Politik gebracht, „wenn man es überhaupt so nennen soll“, und er hofft, sich in seinem Leben irgendwann wieder ganz der Kunst widmen zu können. In Tschetschenien würden jetzt kaum mehr Gedichte gelesen. „Die Schönheit der Poesie hat mit dem wirklichen Leben der Menschen nichts mehr zu tun“, sagt Bisultanov.

Es heisst, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich. Und dies gilt auch für Tschetschenien.

Bisher sind von ursprünglich einer Million Tschetschenen 200.000 Menschen Opfer des Krieges geworden. Und doch sei im zerstörten Tschetschenien mehr Poesie übrig als im Westen.

Hier gibt es kein Geheimnis, kein Sakrament. Alles ist standardisiert.

Beslan als Spiegel
Gegenüber dem Westen hat Apti Bisultanov keinerlei Naivität – er ist sich bewusst, dass er mit seinen Erfahrungen und Haltungen nicht in das Milieu der westlichen Intellektuellen passt. Die Gedichte seines Bandes Schatten eines Blitzes (NZZ vom 11.9.2004) entstammen einer Welt, in der die Religion alle Fasern des Seins durchwebt.

Religion und Dichtung sind eins, das ist für mich überhaupt keine Frage. Gott hat die Welt geschaffen wie ein Gedicht.

Für einen religiösen Menschen gibt es keine Zufälle, und so erkennt Bisultanov auch im Tschetschenien-Krieg einen tieferen Sinn. „Künde der Welt, die Tschetschenien opfert, / Dass für die Welt Tschetschenien brennt“, heisst es in einem der wenigen Gedichte, die er während des Krieges geschrieben hat. „In Tschetschenien liegt die Welt offen zutage“, erklärt er.

Man erfährt die Wahrheit über das Verhältnis der Russen zu den Tschetschenen, der Russen untereinander, der Tschetschenen untereinander. Und in ihrem Schweigen zum Krieg zeigt auch die übrige Welt ihr wahres Gesicht.

Erst wenn Kinder getötet würden, interessiere sich die Welt für den Konflikt – dies habe die Geiselnahme von Beslan offenbart. Für die tschetschenischen Opfer jedoch interessiere man sich auch dann nicht, wenn Kinder umgebracht würden. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind in den vergangenen fünf Jahren mindestens 40.000 Kinder umgekommen. „Aber auch wenn es 30.000 wären, oder 1.000, oder nur eines – es sterben Kinder“, sagt Bisultanov, der selbst Vater ist.

Beslan war bisher die grausamste, schrecklichste Widerspiegelung des tschetschenischen Kriegs. Beslan ist Tschetschenien.

Die Gleichgültigkeit des Westens habe auch mit der Religionszugehörigkeit der Tschetschenen zu tun: Wären die Tschetschenen keine Muslime, würde der Westen anders reagieren. Dass religiöse Gründe jedoch für den Krieg selbst eine Rolle spielen, weist Bisultanov entschieden zurück. Es handle sich um den Widerstand gegen eine Besetzungsmacht, alles andere sei pure Propaganda. Die Zahl der ausländischen Kämpfer auf tschetschenischer Seite schätzt er auf zehn bis höchstens zwanzig, und dass sich vor allem die junge Generation den Islamisten zuwende, sei eine Folge des Krieges – der Westen jedenfalls habe ihnen bisher keine Hoffnung gegeben.
Von der Leidensgeschichte des tschetschenischen Volks zeugt die Geschichte jeder einzelnen Familie. Bisultanovs Vater kämpfte in der Roten Armee und wurde, trotz einer Verwundung, im Februar 1944 direkt von der Front als „Volksfeind“ mit dem gesamten tschetschenischen Volk nach Kasachstan deportiert. Fünf der zehn Kinder verhungerten, und Apti war als Jüngster der Einzige, der 1959 wieder in der Heimat geboren wurde. Er war sechs Jahre alt, als der Vater an seiner Kriegsverletzung starb. Seine Mutter ist letztes Jahr 89-jährig gestorben, nachdem sie die vollständige Zerstörung ihres Dorfs Goitschu miterlebt hatte. Im Winter 2000 wurde es von russischen Soldaten umstellt. Die Frauen, Kinder und Alten wurden auf ein schneebedecktes Feld getrieben, wo sie zehn Tage unter freiem Himmel ausharren mussten, ohne Essen und Trinken.
Das Poem „Chaibach“ ist vor zwanzig Jahren entstanden, und es gehört zu jenen Gedichten Bisultanovs, die man ohne Kenntnis der tschetschenischen Geschichte nur als Schatten wahrnimmt. Als die Sowjets im Februar 1944 in das Dorf Chaibach kamen, konnten sie die Bewohner wegen des hohen Schnees nicht deportieren. So sperrten sie 700 Menschen in einen Stall und verbrannten sie dort lebendigen Leibes. Apti Bisultanov rezitiert einige Strophen des vielgestaltigen Langgedichts in seiner Muttersprache, die mit ihren Kehllauten und den Vokalverbindungen für europäische Ohren vollkommen fremd klingt; man hört sofort, wie stark sich die traditionellen Genres, mit denen er experimentiert, in Rhythmus und Kadenz unterscheiden.
Neben solchen national gefärbten Gedichten gibt es andere, die auch für nicht-tschetschenische Leser unmittelbar verständlich sind. Die Kraft der Bilder lässt ahnen, dass Bisultanov in seiner Dichtung „an einen Ort gelangt, wo noch niemand war“, wie Joseph Brodsky die Aufgabe des Dichters formulierte. Man liest etwa von Gedanken, die als „weisse Lämmer“ nachts „auf den blauen Wiesen meiner Träume“ weiden. Ein zentrales Motiv ist das Herz: „Das runde Nest im Geäst / Mein Herz / Im Rippengestrüpp“, heisst es im Gedicht „Röntgen“. Kaum je ist das Herz ein Hort privater Gefühle. Es ist „gewaltiger als die Welt“, und es schlägt für das Schicksal des ganzen Volkes. Das Herz ist Sitz der Tapferkeit und eines unbeugsamen Stolzes, der auch Apti Bisultanovs Haltung bestimmt, übrigens ohne jedes Pathos. Die Anekdoten, die er aus dem Krieg erzählt, bezeugen den Freiheitswillen der Tschetschenen, die in ihrer Geschichte nie feudale Strukturen kannten.

Mann gegen Mann
„Ich sage es ganz offen“, meint Bisultanov:

Es gefällt mir, wenn Männer Männer sind und keine Sekunde davor zurückscheuen, für ihre Überzeugung in den Tod zu gehen.

Nicht jeder allerdings, der für seine Überzeugung sterbe, beweise damit Mut. Terroranschläge und Geiselnahmen lehnt Bisultanov strikte ab, abgesehen davon, dass nicht viel dazu gehöre, ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer zu steuern. Mut entscheide sich im Kampf Mann gegen Mann. Der Krieg ist für Apti Bisultanov kein Tabu, sondern eine Erfahrung. Als er in den Krieg gezogen sei, habe er aufgehört zu rauchen und auch sonst keine Sünden begangen, denn er wollte mit reinem Herzen vor den Schöpfer treten.

Im Krieg sind die Dinge das, was man sie nennt. Ein Feind ist ein Feind, ein Freund ein Freund. Schmerz ist Schmerz, und Freude ist wirklich Freude.

Dann allerdings bleibt kein Raum für poetische Metaphern. Damals habe er gedacht, er werde nie wieder Gedichte schreiben.

Erst als er vor zwei Jahren direkt aus den tschetschenischen Wäldern nach Berlin ans Literaturfestival kam, sah er die Dinge anders. Im Publikum seiner Lesung sassen, neben einem Dutzend Exil-Tschetschenen, nur ein paar wenige Deutsche. Diese jedoch bekamen etwas zu hören, was sie noch nie gehört hatten. Mit geschlossenen Augen rezitierte der Dichter-Partisan, gezeichnet von den Entbehrungen der Wälder, das Poem „Chaibach“. Es war eine Begegnung mit der Ästhetik einer anderen Welt. „Ich bin den Deutschen wohl zu archaisch“, meint Bisultanov mit einer Ironie, die seiner Distanz zum Westen die Schärfe nimmt.

Als der Computer erfunden wurde, haben die Wolken nicht aufgehört, über den Himmel zu ziehen. Warum sollte ich verschwinden?

Sieglinde Geisel, Neue Züricher Zeitung, 18.9.2004

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Apti Bisultanov 2010 in Berlin.

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