MISTWETTER
(nach Mandelbrot & McLuhan)
Es regnet es regnet die Erde
wird blaß es fällt im Himmel-
blau der Europakarte die Mehrung
bunter Fronten auf Tokio scheint
von einer Schmetterlingsplage
befallen in allen drei Farben
flimmernde Pixel die Bilder ergeben
sich kampflos den aufheiternden
Kommentaren bedroht vom Rauschen
atmosphärischer Störungen wie
Regen und Gewitter das Fernsehen
beeinträchtigt den Empfang
froher Botschaften sie kommen da-
zwischen ist der Regen ein Medium
ist die message
„Blue Box“ wird ein filmtechnisches Verfahren genannt, das es ermöglicht, die vor blauem Hintergrund aufgenommenen Bilder spielerisch mit anderen Hintergründen zu versehen. Der Name steht sowohl für den dabei verwendeten blauen Filter wie für das Spiel mit den Tiefen und Räumen insgesamt. In seiner Spannung zwischen Technik und Romantik charakterisiert der Titel ihres zweiten Lyrikbandes die Arbeitsweise der 1959 geborenen Dichterin Barbara Köhler: das souveräne Spiel mit poetischen Techniken, das zielgerichtete Experiment mit „sprachlichen Räumen, Hintergründen, (Un-)Tiefen“, aber auch die Sehnsucht, von großen Gefühlen zu sprechen in einer Zeit, da die „romantischen Bilder abblättern“.
Film als Metapher unserer Kultur – „in the Movies“ meint auch eine Art sich zu bewegen:
vierundzwanzigmal pro Sekunde
laufe ich mir davon kommt etwas
auf mich zu sagt: Ich
… Filmschnitt, Filmriß, Kameraführung, Synchronisation, Reden „im Off“ sind Techniken der Verfremdung und Verrückung: „Fluchtlinien einer Perspektive“, Vordringen „in ungehörige Räume“. Gesucht wird dabei immer wieder auch nach dem Gestischen, dem Körper, der zu den „körperlosen Stimmen“ gehören könnte. Wie lassen sich Körperlichkeit und Leiblichkeit in einer medialisierten Welt denken? „Wer spricht mich (…), wem denke / ich nach wer sagt ich wer weiß“.
Die Dichterin spricht im Bewußtsein einer geprägten, verschlissenen, streng hierarchisch geordneten Sprache:
Aber uns ist kein Schnabel gewachsen:
Wir reden, wie uns der Mund gestopft wurde.
Paradox: sie redet. Nur, wer ist „wir“? Wir Frauen? Wir Schreibenden? Keine Eindeutigkeit, kein Statement, und dennoch: ein „Aber“…
Lebens- und Sprachwelt gehen ineinander über, „mein Sprach / -Los mein Wortgeschöpf“. Die Köhlersche „Kleine Sprachleere“ faßt Sprache als ein Gefängnis, eine Hürde der Entfremdung, jedoch auch als ein Medium zur Identitätsfindung. Sprache als etwas, das zum eigenen Körper gehört, als eine Art Haut, die Grenze zwischen Innen und Außen, abschottend, schützend und durchlässig zugleich. Um Erstarrtes aufzubrechen, werden Redewendungen beim Wort genommen und spielerisch hin und her gewendet, Bilder „entrahmt“, Phrasen umgeschrieben und eigene sprachliche Muster kritisiert: „Das ist schwarzer Strand und keine Metapher…“
Poetische Form, souverän und achtungsvoll gehandhabt, führt zu neuartigen Sichten auf die Welt: der Chiasmus wird zur Denkfigur, Kreuzung zweier Pole statt einfacher Gegenüberstellung. Unterschiedliche Perspektiven werden miteinander verschränkt, gehen ineinander über. Es entsteht
Die leere Mitte ein ZwischenRaum
die unbewohnbare Hoffnung
Auf dies Weise läßt sich ganz unorthodox auch über die Beziehung zwischen den Geschlechtern sprechen:
wir richten uns
nach den Bildern: du mich und ich dich.
Pronomen und Fälle von Bedeutung.
Barbara Köhler experimentiert lustvoll mit verschiedenen Verfahren, die hierarchisierende Grammatik der deutschen Sprache aufzubrechen. Sätze werden bewußt parataktisch gebaut, Satzzeichen weggelassen oder äußerst sparsam gesetzt, oft bleibt das Ende offen. Jeder Punkt „sitzt“. Gesellschaftliche Strukturen analysiert als eine Frage der Grammatik. Zwischen dem strengen Blocksatz und der scheinbaren Leichtigkeit im Gestus (manchmal bis zur Liedhaftigkeit) entsteht eine Spannung, die irritiert, ein eigener Rhythmus. Leise Ironie und Selbstironie, mitunter ein reizend-lakonischer Ton stellen alle Gewißheiten in Frage.
„& die Worte / leicht machen daß keines fällt“, lauten die letzten Zeilen des Bandes, sie enthalten ein poetisches Programm. Die Lyrikerin arbeitet an der Sprache, vorsichtig, tastend, energisch und selbstbewußt. Manchmal bringt sie Worte ins Schweben. Diese Dichtung ist aufregend, vielschichtig, eigenständig, unerklärlich.
Birgit Dahlke, neue deutsche literatur, Heft 502, Juli/August 1995
Michael Basse: Femmage à Magritte
Süddeutsche Zeitung, 10./11.6.1995
Harald Hartung: Alleinsein ist eine gute Sache
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.1995
Kerstin Hensel: Zuckerfreie Welt
Freitag, 31.1.1995
Alexander Kappes: Kleine Delikatessen
Metamorphosen, Frauenliteratur, April-Juni 1996
Peter Michalzik: Eine wunderbare Antwort
Wochenpost, 23.3.1995
Angelika Overath: Mein braves Schindluder
Neue Zürcher Zeitung, 14.11.1995
Stefan Sprang: Schwarze Kunst gegen blauen Budenzauber
Wochenmagazin der Märkischen Allgemeinen, 28.4.1995
Rainer Stöckli: Mit der Sprache reden
Zürichsee-Zeitung / Allgemeiner Anzeiger / Grenzpost, 13.1.1996
Dorothea von Törne: Adam im Hades der Bilder
Tagesspiegel, 9.7.1995
Jürgen Verdofsky: Die Angst ist ein Muttermal
Frankfurter Rundschau, 21.3.1995
Jürgen P. Wallmann: Einübung des Alleinseins
Darmstädter Echo, 26.6.1995
Jürgen P. Wallmann: Fernbedienung für den Gottesbeweis
Die Welt, 15.7.1995
Sibylle Cramer: Kurzschluß
Die Zeit, 7.4.1995
Rüdiger Görner: Die Anrufung der Hälfte des Lebens
Die Presse, 13.4.1996
Das Kapitel zu den Arbeiten von Barbara Köhler stellt, ausgehend von einem Kommentar zu dem Gedicht „Ceci n’est pas un’homme“, die mit Köhlers Sprachreflexion verbundenen Themen und Techniken dar. Die Gedichte reflektieren über das Subjekt in der Sprache und über die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Sprechen (Sprechen durch und über ,sie‘) mit Hilfe von Stilmitteln, die die Polysemie von Wörtern vorwiegend aus der Grammatik erwachsen lassen. Die Analysen von Gedichten und Gedichtabschnitten aus den unterschiedlichen Arbeiten der Autorin vergleichen die implizite und explizite Sprachreflexion mit Köhlers essayistischen Bemerkungen und zeigen, dass das Suchen nach Bedeutungsmöglichkeiten und deren Bewusstmachung die wichtigsten Konstanten in Köhlers Werk sind.
1 „Ceci n’est pas un’homme“
Neben Gedichten und Aufsätzen in Zeitschriften, die in der DDR inoffiziell publiziert wurden,1 umfassen die Arbeiten der 1959 in Burgstädt (Sachsen) geborenen und 1994 nach Duisburg übergesiedelten Autorin Barbara Köhler2 Projekte in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern, Installationen, Performances und selbstständige Buchpublikationen. Zwei davon, Deutsches Roulette (1991) und Blue Box (1995), sind Gedichtbände im traditionellen Sinne; bei der dritten, Wittgensteins Nichte (1999), handelt es sich um „Vermischte Schriften“, um Essays, Gedichte und Kommentare zu Installationen anderer Künstler.3 Ferner sind mehrere kürzere Textsammlungen und Gedichtzyklen erschienen: In Front der See,4 das Künstlerbuch cor responde (1998)5 und der Entwurf Niemands Frau (2000).6 Ins Deutsche übertragen hat Köhler Gedichte von u.a. Gertrude Stein und Samuel Beckett.7 Manche Arbeiten sind an eine breitere Leserschaft gerichtet, andere, vor allem die Texte im Rahmen von Kunstausstellungen, sind wegen begrenzter Auflagenstärke schwer zugänglich. Für ihre Gedichtbände hat Barbara Köhler mehrere Preise erhalten,8 von Deutsches Roulette gibt es ein Jahr von Blue Box fünf Jahre nach dem Erscheinen eine zweite Auflage. Köhlers Texte sind in die meisten Anthologien und größeren Zeitschriften der 1990er Jahre aufgenommen, einige sind in andere Sprachen übersetzt worden. Hermann Korte zählt ihre Gedichte zu der neuen Tendenz der sprachbewussten und experimentellen Schreibtechniken.9 Wolfgang Emmerich, der sich bei seiner Darstellung der Wendezeit-Lyrik auf eine Handvoll Namen beschränkt, widmet Köhler einige Abschnitte und spricht von ihr als von „einer besonderen Begabung“.10 Und Heinz Ludwig Arnold erklärt:
Zwei der stärksten lyrischen Stimmen kommen […] aus der DDR: die von Durs Grünbein und von Barbara Köhler zwei andere aus Köln und aus Wien: Thomas Kling und Peter Waterhouse.11
Im Gegensatz zu dem, was diese Aussagen vermuten lassen, gehört Köhler nicht zu den Bekanntesten ihrer Generation. Die Rezeption ihrer Gedichte durch die Literaturkritik steht, abgesehen von den Rezensionen im Feuilleton und einem Artikel im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur,12 noch am Anfang. Bisher ist im Anschluss an ein Symposium an der Universität Warwick ein Studienband entstanden, der Texte von Köhler, ein Interview, Aufsätze sowie Übersetzungsvarianten zu einem Gedicht enthält.13 Und kürzlich ist eine erste Monografie erschienen: In SPRACHE MACHT GESCHLECHT untersucht Mirjam Bitter Köhlers Lyrik und Essayistik.14
Die Sprachreflexion bei Köhler kann als eine vorwiegend ,grammatikalische‘ Reflexion bezeichnet werden und ist Hauptthema der Gedichte. Ausgehend von der exemplarischen Analyse eines Gedichts sollen im Folgenden einige Aspekte dieser Reflexion untersucht werden. Ausgewählt wurde ein leicht zugängliches Gedicht, das in nuce die Elemente enthält, die Köhler in komplizierteren Texten weiterentwickelt.
CECI N’EST PAS UN’HOMME
aaaFemmage à Magritte
Das hat zwei Beine darauf
besteht es glaubt sie wären
ihm wichtig je länger je
lieber hätt es vielleicht
einen Fischschwanz
Das hat einen Kopf damit
schüttelt es nickt bis
ihm schwindelt es stimmt
zu & ab nimmt ab & zu:
das hat Gewicht
Das hat auch eine Sprache
gelernt mit seinem Mund
sagt es Ich es ist bestimmt
komisch es findet sich nicht
zum Lachen
Das hat Augen das sieht sich
vor ihm nach sieht es kommen
Das hat Ohren das hört was
sich gehört hat es gehört
ihm doch nicht
Das tut sächlich bloß das
hat keinen Zweck das hat seine
Regel seine Grammatik ist
unpäßlich aber es macht nix
– das vergeht
Das redet auf das Telefon
ein als wär es ein Mensch
Der Titel dieses Gedichts15 spielt auf René Magrittes bekanntes Werk La trahison des images (1929) an, in das der Satz „Ceci n’est pas une pipe“ integriert ist, und lautlich evoziert es auch sein Gemälde Ceci n’est pas une pomme (1964).16 Der Doppelbezug ist ein Indiz dafür, dass nicht auf ein bestimmtes Bild verwiesen wird, sondern auf ein allgemeines Verfahren Magrittes, das dieser vielfach variiert hat und das der Titel auf eigene Weise nutzt. Dass es sich bei „Ceci“ (dies, das) um eine oder um die Frau handeln kann, spricht schon die Widmung aus: femmage à Magritte (,femme‘ ist das französische Wort für ,Frau‘). Hinter dem Neologismus „femmage“ zeichnet sich auch der Schatten einer Version ab, die mitgelesen wird: ,Ceci n’est pas une femme – hommage à Magritte‘.
Wenn man davon ausgeht, dass eine/die Frau beschrieben wird, so fällt auf, dass sie als Nicht-Mann erscheint. Sie wird durch das bestimmt, was sie nicht ist. Wie auf ein Objekt wird mit dem Demonstrativpronomen ,ceci‘ auf sie gezeigt, bevor, wie in einem Tierlexikon, körperliche Merkmale aufgezählt werden: „hat zwei Beine“, „hat einen Kopf“ usw. Da das französische ,homme‘ sowohl ,Mann‘ als auch ,Mensch‘ bedeutet, kann „pas un’homme“, vor allem in Verbindung mit der letzten Gedichtzeile, auch als ,Nicht-Mensch‘ gelesen werden. In diesem Falle deutet ,ceci‘ auf ein Ding, das im Gedicht im Neutrum steht: „Das“ oder „es“. Diese Pronomen entziehen der Frau das grammatikalische Geschlecht und machen ,sie‘ zum geschlechtlich undefinierten Objekt, ganz im Sinne des „Ceci‘, zum Nicht-Mann und Nicht-Menschen.
Noch eine andere Analogie zu Magrittes Meta-Malerei lässt sich herstellen: Magrittes nicht mit einer reellen Pfeife identische optische Darstellung ,ist‘ keine Pfeife. Der daher eigentlich logische Titel irritiert den Betrachter, der den Zeichencharakter nicht bewusst zur Kenntnis nimmt, der beim Zeigen auf ein Bild eher ,das ist ein x‘ sagt als: ,Viele Aspekte dieses Bildes erinnern an meine Vorstellung von einem x‘. In diesem Sinn kann „Ceci n’est pas un’homme“ betonen, dass es sich beim darauf folgenden Gedicht um ein Bild, um nichts anderes als eine Repräsentation dieses ,Es‘ handelt; um einen Text, der etwas über die Frau aussagt, sie sprachlich darstellt, ohne dabei den Referenten ,Mensch‘ in der Wirklichkeit zu bezeichnen. Das Mann-Frau-Wechselspiel kann in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem analog zu Magrittes Bild wiederum als ,Ceci n’est pas une femme“ gelesen werden, diesmal im wörtlichen Sinne. Die Lesarten des Wortes „homme“ – ,Mann‘ und ,Mensch‘ – bleiben nebeneinander bestehen: Im letzten Vers redet das „Das“ „auf das Telefon / ein als wär es ein Mensch“: Es redet lebhaft und setzt Mimik und Gestik ein, als wäre das Telefon ein menschliches Gegenüber, oder es redet, als wäre „es“ selbst ein Mensch, was es laut Gedichttitel – liest man „homme“ als Gattungsnamen – eben nicht ist.
In Magrittes Vorbild löst die Sprache als Schriftzug innerhalb des Gemäldes17 eine neue Wirkung beim Leser-Betrachter aus, der bereits vor der Lektüre das Gesamtbild sieht. Bei Köhler wird der vorangestellte Titel als Erstes gelesen. Dadurch antizipiert der Leser schon vor der Lektüre des Gedichttextes die konzeptionelle Thematik und ist auf ein Weiterspielen damit vorbereitet. Der Titel steht bei aller Verbindung zum Gedicht auch in einem Kontrast dazu. Er erklärt, was der Gegenstand nicht ist, wogegen die Verszeilen das „Es“ jeweils affirmativ definieren. Hier deutet sich einer der Leitfäden von Köhlers Texten an, in denen jedes Etwas-Sein durch ein Etwas-Nicht-Sein bestimmt wird. Selten tritt eine Eigenschaft ohne ihr jeweiliges Gegenstück auf. Dabei handelt es sich indes nicht um einfache bipolare Strukturen, sondern Köhler benennt Dualismen, um sie dann zu differenzieren und in verschiedenen sprachlichen Kombinationen auf mögliche Bedeutungen hin zu prüfen. Einen Schwerpunkt legt sie auf die Mann-Frau-Thematik und das Mittel, diese zu erforschen, ist die Grammatik, was anhand von Köhlers Begriff der „Grammatik einer Differenz“ im Folgenden noch erläutert wird. Ein erster Hinweis darauf, dass Grammatik und Thematik eng zusammenhängen, ergibt sich bereits aus „un’homme“ im Titel. Ein Auslassungszeichen ist an dieser Stelle nicht üblich. Es ist weder phonetisch motiviert noch eine Elision wie in ,l’homme‘.18 Die Schreibweise (und damit die Grammatik) nimmt also an dem Verwirrspiel um die Bedeutung der geschlechtlichen Identität teil, da neben „un“ (ein) auch der unbestimmte Artikel ,une‘ (eine) suggeriert wird, für dessen weggelassenes ,e‘ das Auslassungszeichen stehen könnte.
Auch in jeder der sechs Strophen ist die Grammatik ein Mechanismus der Verwirrung. Auffallend sind die Parallelismen in den ersten vier Fünfzeilern, die anaphorisch jeweils mit „das hat“ beginnen und dann physische und psychische Merkmale des „Es“ aufzählen. Der fünfte Fünfzeiler und der abschließende Zweizeiler enthalten darüber hinaus eine selbstreflexive Ebene. Erstes Merkmal des „Es“ sind die Beine, Metonymie für den Körper, verbunden mit dem Wunsch nach einem verführerischen Aussehen, „vielleicht“ sogar nach der Verwandlung in eine Nixe mit „Fischschwanz“. Der Kopf und die wechselhaften Meinungen des „Es“ werden in der zweiten Strophe durch die Verbindung mit dem Klischee vom ständig wechselnden Gewicht der Frau – „nimmt ab & zu“ – ebenfalls auf die Ebene des rein Körperlichen und des Schönheitsideals gesetzt. Beides, die Gedanken und die Körperfigur, sind beim „Es“ gleichermaßen unbeständig. Auch die Sprache, die „es“ gelernt hat, trägt nicht zu seiner Persönlichkeitsbestimmung bei. Einerseits ermöglicht sie ihm, sich als Ich-Identität zu definieren. Andererseits wird durch die Wendung „mit seinem Mund / sagt es Ich“, durch die vorübergehende Selbstbehauptung („es ist bestimmt“) und deren Umkehrung („es ist bestimmt / komisch“), sowie durch die fehlende Selbstfindung („es findet sich nicht“) und den mangelnden Eigenhumor („es findet sich nicht / zum Lachen“) die identitätsstiftende Kraft der Sprache wieder relativiert.
Die Augen und Ohren werden in ihrer organischen Funktion („das sieht“ / „das sieht sich“; „das hört“ / „das hört was“) und, mit Hilfe von Reflexivpronomen, Verbzusätzen und festen Verbindungen, als Übergang zu ganz anderen Aussagen über das „Es“ angeführt:
das sieht sich
vor ihm nach sieht es kommen
[…]
das hört was
sich gehört hat es gehört
ihm doch nicht
Vorsichtig sein, einem ,Er‘ hinterherschauen, verglichen mit „ihm“ das Nachsehen haben, nicht sein Besitz sein wollen und die Konventionen kennen: All diese Aussagen zu Verhalten und sozialen Verhältnissen sind hier wegen der mehrdeutigen Verben mitzulesen. In der fünften Strophe wird auch das Spiel mit dem „Das“ thematisiert. „Das tut sächlich“: Es benimmt sich grammatisch neutral, wird aber durch eine andere „Grammatik“ als weiblich enttarnt. Mit der Doppelbedeutung von „Regel“ als Sprachregel und als Menstruation („unpäßlich“) werden Körper und Sprache zusammen evoziert. Der Körper macht ein Verleugnen des weiblichen Geschlechts unmöglich und auch das Versteck hinter dem „sächlich[en]“ Artikel bietet keine Zuflucht. Körper und Sprache werden durch die Bedeutungsverschiebung und daher Gleichsetzung von „Grammatik“ und „Regel“ als untrennbar dargestellt.
Der denotative Inhalt der Strophen ist leicht verständlich. Weniger eindeutig bleibt die Frage nach der Perspektive. Die Instanz, die das Es oder die Frau klischeehaft definiert, kann das „Es“ selbst sein, das sich ironisch oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, oder der Mann, der das Bild eines ,Nichthomme‘ zeichnet. Komplexer als der semantische Inhalt auf den ersten Blick ist auch der Aufbau: Von den 27 Verszeilen sind 18 durch ein Enjambement gekennzeichnet, wobei zusätzlich in den meisten Fällen entweder das letzte Wort eines Verses zugleich als Schluss einer Wortgruppe und als Übergang zum nächsten Vers fungiert oder das erste Wort eines Verses gleichzeitig Satzende und -anfang ist.
„[…] je länger je / lieber hätt es vielleicht/ einen Fischschwanz“:
je länger je lieber (die Beine); lieber hätt es vielleicht einen Fischschwanz
„Das hat Ohren das hört was / sich gehört hat es gehört/ ihm doch nicht“:
das hört was; was sich gehört; was sich gehört hat es gehört; es gehört ihm doch nicht
Das gleichzeitige Vor- und Zurückverweisen, bei dem Wörter doppelt gelesen werden müssen, ist durchgängiges Strukturmerkmal des Gedichts und kann auch mitten im Vers auftreten. Obwohl die Satzteile interpunktionslos aneinander anschließen, kann man den Text kaum durchgehend lesen. Immer wieder zwingt ein Wort durch seine Vor- und Rückwärtsbezüge zum Innehalten, zum Neu- und Um-Lesen. Wo ein Wort zu verschiedenen Ausdrücken gehört, verändert sich das Bezeichnete für den Leser während der Lektüre.19 Das Spiel mit der Polysemie verstärkt das Oszillieren des Sinnes, und auch viele Aussagen, die nicht in beide Richtungen weisen, sind mehrdeutig. So kann „das hat Gewicht“ zu demselben Wortfeld wie „nimmt ab & zu“ gehören oder als ironischer Kommentar gemeint sein: Das „Es“ nickt oder schüttelt den Kopf, „bis / ihm schwindelt“; was es sagt, kann also kaum schwerwiegend sein, „Gewicht“ haben.20 Selbst die syntaktischen Beziehungen der Wörter untereinander werden unklar. So kann in „sie wären ihm wichtig“ („sie“ bezeichnet die Beine) das Dativobjekt „ihm“ das Es selbst oder einen Er zum Gegenstand haben.
Mit seinen verschiedenen Lesarten schwankt der Text zwischen leichter Satire, scherzhaftem (Selbst-)Bildnis einer Frau und ernsthaftem Auseinandersetzen mit Möglichkeiten sprachlicher Darstellung – und bringt zudem eine Frage zum Ausdruck, die Köhlers Texte leitmotivisch durchzieht: die Frage nach der Identität des Subjekts in der Sprache.21 Befragt werden auch Geschlecht und sprachliches Genus, und beide sind nicht zu trennen. Damit verbunden ist das Spiel mit den Fürwörtern, wie es sich in diesem Gedicht schon zeigt. Auch der häufige Gebrauch von Präpositionen, Präfixen und Verben, die in Wortspielen gleichzeitig verschiedene Bedeutungen erzeugen, ist für die Mehrzahl von Köhlers Texten charakteristisch. Und nicht zuletzt das Interesse an Konzeptkunst und Metalyrik, das in diesem Text aus der Berufung auf Magritte und der expliziten Thematisierung von Sprache hervorscheint, ist ein konstitutives Merkmal ihres Schreibens. Was sich im hier behandelten Text noch wie ein harmloses Spiel mit der Grammatik und einigen Versatzstücken aus dem feministischen Diskurs liest, enthüllt sich, wenn man es neben andere Gedichte Barbara Köhlers setzt, als hartnäckiges Testen von Sprachstrukturen.
2. Wer ist ich? Spielarten des Subjekt
Wer die Frage stellt: Was ist es, das Ich sagt, ist sich als
Individuum höchst fragwürdig, aber im doppelten Sinne:
fraglich und der Frage würdig.
Gerhard Kaiser22
Das Wesen, das in „Ceci n’est pas un’homme“ beschrieben wird, wird als „Es“ fremdbestimmt, von außen definiert und manipuliert. Redewendungen und Klischees, die selbst sprachspielerisch subvertiert werden, kennzeichnen es auf ambivalente Weise.
das hat auch eine Sprache
gelernt mit seinem Mund
sagt es Ich es ist bestimmt
komisch es findet sich nicht
zum Lachen
Das Einzige, was über das Es als aus dessen eigenem Mund stammend ausgesagt wird, ist das Wort „Ich“. Dies kann auf die Egozentrik eines Wesens hinweisen, das nichts anderes als sich selbst wahrnimmt und benennt, oder es kann als dessen Versuch gewertet werden, eine eigene Identität zu behaupten. Doch wie oben gezeigt, scheitert diese Absicht – „es ist bestimmt / komisch es findet sich nicht / zum Lachen“. Die Sprache, die dem Es dabei helfen könnte, ein Ich zu sein, „hat“ es außerdem nicht einfach, wie dies die erste Zeile vermuten ließe, sondern „hat“ es „gelernt“; auch dadurch kann es nur von außen, über den Umweg einer Sozialisation „Ich“ sagen.
Mit Freuds Konflikt zwischen dem Es und dem Ich hat das Identitätsproblem wenig zu tun. „Es“ bezeichnet hier die dritte Person Singular Neutrum, von der Köhler in ihrem Essay „TANGO. EIN DISTANZ“ sagt:
nur Es ist, es wäre: neutral. Es hat keine Meinung, kann keine haben, Es verhält sich tatsächlich sachlich. Es sagt nicht Ich. Sie aber sagt Ich, er sagt Ich […].23
Was weder ein Er noch eine Sie ist, kann sich nicht selbst manifestieren.24 Der Widerspruch entsteht dort, wo dieses Es, über das die Sprecherinstanz als über ein Objekt spricht, nun doch „Ich“ sagt. Eine ähnlich widersprüchliche Situation taucht in Niemands Frau auf, wo es heißt:
sieht das Objekt ein
Objekt kann sich nicht sehen
[…]25
Beide Lesarten – „sieht das Objekt ein Objekt“ und „ein Objekt kann sich nicht sehen“ – sind grammatisch durch die Nominativ- und Akkusativkodierung von „ein Objekt“ gleichzeitig möglich und widersprechen einander auf semantischer Ebene. Selbst da, wo ein lyrisches Ich von sich selbst spricht, ist Identität nicht gegeben, sondern wird immer aufs Neue erfragt. „Ich bin ich weil mein kleiner Hund mich kennt“, zitiert Köhler Gertrude Stein.26 Erst der Blick des anderen und das Definiertwerden durch den anderen konstituieren das Ich. Zur Eigendefinition führen sie nicht. Köhler spielt in ihren Essays Begegnungen aus verschiedenen Perspektiven durch.
Die erste Person ist das Subjekt des Blickes gegenüber der zweiten Person & sieht sich, falls der Blick erwidert wird, von dieser auch wahrgenommen: als Objekt, angesprochen sieht sie sich als Subjekt – oder doch als Objekt? Als Subobjekt, als Als-ob-Subjekt?27
In den Gedichten vollzieht sich ein Versuch des Selbsterfassens ohne die Begegnung mit einer zweiten Person durch den Blick in den Spiegel. Auf die Häufigkeit des Spiegelmotivs28 hat die Kritik bereits hingewiesen.29 Es wird unterschiedlich bewertet, meist als Leitmotiv, manchmal kritisch als „Klischee“,30 als eine „etwas strapazierte“ Metapher,31 bezeichnet, oder es wird mit Lacans Spiegelstadium in Verbindung gebracht.32 Der Spiegel in Köhlers Gedichten erschafft das Ich und entfremdet es zugleich: Das Ich vor dem Spiegel verwechselt sich mit seinem Bild im Spiegel, so dass es sich selbst als Objekt erfährt und den Blick von außen auf sich zu richten versucht. Auch hier gibt es Selbstwahrnehmung nur als Blickaustausch mit einem anderen.
ich sitze im spiegel mein bild lächelt
schminkt sich probiert eine geste aus
sein mund spricht liebes er meint dich
in deinen augen das bild
ich sitze im spiegel davor eine andre
legt die hand an das bild es ist glatt
ihr mund bleibt stumm sie meint mich
in ihren augen das bild
ich sitze im spiegel bin ich ein reflex
es ist nichts hinterm bild es ist
ein spiegel und schlag ich dann treff ich
dein gesicht und mein gesicht
zerfällt hast du die scherben
deines blicks gesehen33
Das Ich und sein Spiegelbild verschmelzen ineinander. Zugleich werden sie als zwei Liebende beschrieben – „sein mund spricht liebes er meint dich“. Die Versenkung ins eigene Bild wird sprachlich wie ein Verhältnis zwischen mehreren Personen (ich, du, eine andre) und deren gegenseitiges Beobachten ausgedrückt. Distanz entsteht in dem Augenblick, wo nicht nur das „bild“, sondern auch das Medium des Spiegels wahrgenommen wird. Das Ich entfernt sich von der Idee eines physischen Selbst und erfährt sein Bild im Spiegel als eigentliches Ich, „davor eine andre / legt die hand an das bild“. Diese Erfahrung der Selbstentfremdung und das Hin- und Herschieben der Ich-Entität bis zu deren absichtlicher Aufsplitterung, angekündigt im Spiel mit dem Idiom ,Hand an etwas legen‘ – „und schlag ich dann treff ich / dein gesicht und mein gesicht / zerfällt“ – vollziehen sich analog zum Verschieben der Sprachelemente: „dann treff ich dein gesicht und mein gesicht“ und/oder „dann treff ich dein gesicht[,] und mein gesicht zerfällt“. So wie die Positionen verkehrt werden, verläuft wieder der Bezug einer Wortgruppe in zwei Richtungen. Auch die neunte Zeile ist ein Beispiel für diese Verschiebung, wobei sich „im spiegel“ vor- und rückwärts einerseits auf den Standort bezieht, an dem sich das „Ich“ sieht – „ich sitze im spiegel“ –, und andererseits auf die bloß illusionäre Existenz dieses Standortes: „im spiegel bin ich ein reflex“. „ICH IST DAS SPIEGELBILD MEINES SPIEGELBILDS: ER SIE ES“, heißt es in Selbstportrait.34 Das Subjekt verschwindet in der Objektivität der dritten Person, das Bild des Bildes ist potenzierte Scheinwirklichkeit. Die Zeile „schminkt sich probiert eine geste aus“ stellt die Spiegelszene in den Kontext des Schauspiels, worauf auch die Stellung dieses Gedichts innerhalb des Zyklus „Elektra. Spiegelungen“ hinweist. Der Text folgt unmittelbar auf ein „Vorspiel auf dem Theater“,35 welches als Hommage à Heiner Müller unter anderem auf dessen Elektratext antwortet und mit dem Satz endet: „am schminktisch sitzt elektra legt die maske ab“. Der Ort des Theaters und der Blick einer Schauspielerin in den Spiegel evozieren eine im zweiten Grade konstruierte Identitätsvorstellung. Auch wird dadurch noch einmal die Handlungsunfähigkeit des gespiegelten Ich betont: Es agiert nicht, sondern „probiert eine geste aus“. Obwohl das Rollenspiel den Illusionscharakter der Identität noch intensiviert, ist es nicht dessen Bedingung. Dem Personen-Verwirrspiel ist in Köhlers Texten das Subjekt im Allgemeinen ausgesetzt. „ich nenne mich du“,36 erklärt das lyrische Ich und es spricht von sich selbst auch in der dritten Person: „in der Lukácskonditorei sitzt ich und schreibt“37 lautet die mittlere Zeile eines Vers-Palindroms.38 „The displacement of the self, which extends even into the grammar (,sitzt ich und schreibt‘), forces a sudden distance to the lyric subject as it moves into the third person“, erklärt Karen Leeder, und sie weist darauf hin, dass gerade die Tätigkeit des Schreibens von Bedeutung ist. Schreiben sei eine andere Form von „displacement of self into ,other‘, subject into ,role‘“.39 Der Versuch des Ich, sich gleichzeitig als sprechendes, schreibendes, beobachtendes Subjekt und als Gegenüber zu betrachten, findet also seinen Ausdruck im Zusammenspiel von grammatischen Pronomen-Wechseln und der Ebene von Medien und Kunst. Die Augen der anderen, Spiegel, Fotografie, Film oder Computer sowie Schreiben und Theaterspielen erzeugen Bilder des Ich, die dieses zu immer neuen Selbstreflexionen stimulieren, in folgendem Beispiel zu einem Gedanken über das Fotografiert-Werden.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa[…] ich lächele
uneinsichtig vor dem Verschwinden
in einem Apparat der Bilder lügt
verwüstete Augenblicke Papier das tut
als ob es ein Mensch ist letzte Chance
einer Bewegung: ich wechsele
Standbein und Spielbein ich stehe
aaaaaaaaaain Frage40
Das Ich in den Gedichten existiert trotz seiner unsicheren Position, seines Verschwindens in zahllosen Spiegelungen und Bildern, seines Verlustes einer festen Identität. Es kommt nicht davon los, Ich zu sagen. Die Subjektivität ist trotz ihrer Verschiebungen Grundlage und Voraussetzung des Sprechens. Ein wirklich verschwundenes Ich könnte sich konsequenterweise nicht mehr selbst nennen. Das Thema der Identitätssuche könnte außerdem für irrelevant befunden werden. „Die Ichfunktion geht gegen Null“,41 heißt es in einem Gedicht; trotzdem hält hartnäckig entweder ein lyrisches Ich an seiner Selbstthematisierung oder eine andere Instanz an einer inszenierten Reflexion über das Wort „Ich“ fest. In letzterem Fall, der vor allem im Zyklus „Niemands Frau“ auftritt, wird über ein Ich zwar aus einer distanzierteren Perspektive heraus gesprochen, doch diese zeugt ebenso stark wie die oben besprochenen Spiegelungen von der Bedeutung des ständigen Fragens nach dem Subjekt der Sprache:
Im Hades: im Schatten: Stimmen. Stimmen und
Namen. Stimmen die Namen nennen Stimmen die
Ich sagen. Die sagen: Ich will. Will nicht.
Nicht Ich. Ich sein. Sein nicht. Nicht-Ich.
Will ich. Ich will. Echos Echolalien Lallen42
In diesem Textfragment sind Subjekte nichts als Sprache. Es sprechen „Stimmen und Namen“ aus der Unterwelt. Die Personengalerie hinter diesem Stimmengewirr wird zwar anschließend vorgestellt, aber es handelt sich dabei um eine skurrile Mischung von Gestalten und Persönlichkeiten aus griechischer Mythologie, Bibel, Märchen und wissenschaftlichen Laboratorien (um „Kreuzungen / aus dem Gen- gene- dem -alogischen Labor am / Ende aller Versuchsreihen ein Lallen Hallen“),43 so dass von Individuen kaum die Rede sein kann. Diese „Schatten im chatroom“ existieren nur in der Sprache und durch sie, sind virtuelle Subjekte und können mit einem Mausklick zum Verschwinden, nicht aber zum Verstummen gebracht werden:
Befehl UNDO. ERROR & Löschen. Dann Rauschen, weiss – –44
Weiß evoziert Leere, Zeichenlosigkeit, das Rauschen indessen deutet auf eine Spur von Sprache oder Geräusch; das unverständliche und referenzlose ,weiße Rauschen‘ ist noch nicht identisch mit völligem Schweigen. Was sich Ich nennt, befindet sich an der Grenze zur Auflösung. Seine Sprache ist ein Stammeln, das Gerede der Stimmen ist widersprüchlich und ohne festlegbare Bedeutung. Auch das Sprechen der lyrischen Aussageinstanz gleicht sich dieser Sprache an. Und dennoch ist das Ich anwesend.
Das verunsicherte, nicht mit sich selbst identische oder von der Grenze des Existierens her sprechende Ich in diesen Texten ist in unentwirrbare Geflechte von Personen, Pronomen, Spiegelungen und Wortverschiebungen verstrickt, ein „Subobjekt“ in einer unerklärbaren Welt und in einer Sprache, die grammatikalisch aufgebrochen wird, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachpartikeln ständig andere Richtungen einschlagen lässt und einem Wort explizit mehrere gegenläufige Bedeutungen zuspricht. Doch das Spiel hat Methode: Es lässt sich in Barbara Köhlers Gedichten eine Entsprechung von Ich, Sprache und ,Welt‘ beobachten. In dem Maße, in dem das Ich in Frage steht, tut dies jeweils auch die übrige Textwirklichkeit. Der relativ traditionell dargestellten Welt in einigen Gedichten entspricht ein herkömmliches lyrisches Ich, das Gefühle oder Erlebnisse ausdrückt. Wo dagegen die Welt buchstäblich Kopf steht, ist auch dem Ich keine Orientierung möglich. So überlagern sich beispielsweise zwei kontradiktorische Positionen des Ich: „der himmel unten / oben der asphalt und ich / geh ja bloß drauf“ durch den Doppelsinn des Verbs (es bezeichnet das Gehen auf einer Oberfläche oder das Zugrundegehen, das Zerstörtwerden).45 Und wo das Ich melancholisch-ironisch eine gescheiterte Liebesbeziehung verarbeiten will, dort wird das ,wahre Ich‘ ebenfalls ironisiert und doppelsinnig auf ein vielleicht gewahrtes Gesicht reduziert:
gefärbtes haar
fällt ins gesicht das wahre ich
der kellner sagt den preis
ich zahle und geh46
Die in Textwelt und grammatischem Spiel herrschende Gleichzeitigkeit der Gegensätze in zahlreichen Gedichten konstituiert dort auch das Ich. „Ich ist Schrödingers Katze“,47 gleichzeitig tot und lebendig, Subjekt und Objekt, Ich und Es, Schauspieler und Spiegelbild. Die Frage „wer sagt ich“48 wird auf die unterschiedlichste Weise gestellt, aber weder für die Welt des Ich noch für dessen Sprache einer Antwort zugeführt.
3. „Für ihn & sie aber gelten im Sprachspiel unterschiedliche Regeln“: eine Grammatik der Geschlechter
[…] als Schwester / Evas unterwegs zu Rosa und Ulrike zur verstossenen / Ehrenbürgerin Lesbos geworden, Dina geschimpft und / als die Gespielin der Beauvoir gescholten, mit dem / knalligen Lippenstift der Schwarzer geschminkt / zwischen Rollenbild und demoktatischer Emanzipation / vom rechten Wege abgekommen […] schreib ich immer wieder / dem Gedicht voran: Wer bin ich Barbara K.
Peter Wawerzinek49
[…] auch in dem ersten Gedichtband war die Distanznahme zum ,ich‘ […] vielschichtiger als daß es auf ein Ankämpfen des weiblichen ,ich‘ gegen das männliche Bild des weiblichen ,ich‘ festgelegt werden könnte. Es ging auch hier schon sehr wohl um die Identitätsspaltung, um eine konsequente Verweigerung, sich auf eine Identität festzulegen (wie von ,der deutschen grammatik‘ eingefordert). Da war sie auch 1991 weiter als Simone de Beauvoirs Position in Le deuxième Sexe.
Anthonya Visser50
Wo das Ich in Köhlers Gedichten präzisere Konturen annimmt, ist es ein weibliches. Wo Namen genannt werden, geht es um Frauen aus Mythologie, Märchen und Literatur (u.a. um Elektra, Kirke, Dornröschen, Diotima und Ophelia), um Figuren mit einer Botschaft aus betont weiblicher Sicht, oder um das Schicksal bekannter Persönlichkeiten wie Ingeborg Bachmann und Ulrike Meinhof.51 Und das Spiel mit den Pronomen beschäftigt sich, wie dies für „Ceci n’est pas un’homme“ schon angedeutet wurde, nicht nur mit Subjekt-Objekt-Relationen und Spiegelungen des Ich, sondern erkundet in vielen Texten die „Grammatik einer Differenz“,52 die grammatischen und ideologischen Implikationen des Sprechens einer Frau und über eine Frau.
Peter Wawerzineks Parodie und Anthonya Vissers Aussage machen verschiedene – beide gleich häufig vertretene – Positionen in der Feminismus-Frage bei Köhler deutlich.53 „Wer bin ich Barbara K.“ bedeutet eine reduktionistische Lesart. Sehr selten nur wird „wer bin ich“ als eine rein persönliche Frage gestellt, meist wird damit ein Allgemeines bezeichnet. Dieses geht, wie Visser argumentiert, tatsächlich über die Mann-Frau-Dichotomie hinaus, gemeint ist in vielen Fällen allerdings das Allgemein-Weibliche. Hier liegt ein paradoxer Aspekt, den auch eine nähere Betrachtung der Texte nicht auflöst: Themen und Sprache in den Gedichten und Essays stellen einerseits das Subjekt generell als unsicher, dezentriert, postmodern dar, andererseits setzen mehrere Texte eine männliche Zentralperspektive voraus, die also diese Entfremdung nicht mitvollzogen haben kann. Dies klingt wiederum unwahrscheinlich, wenn man das Interesse für sprach- und wissenschaftstheoretische Überlegungen in den Gedichten ernst nimmt, welche sich nicht nur auf ein Geschlecht beziehen.
Schon aus den Titeln Wittgensteins Nichte und Niemands Frau geht hervor, dass die Sprecherinnen der Gedichte gerade die weiblichen Besonderheiten ihres Sprechens in der Abhängigkeit vom männlichen (wessen Nichte, wessen Frau) reflektieren. Wittgensteins Nichte, in Analogie zum Titel Wittgensteins Neffe von Thomas Bernhard konzipiert,54 setzt sich mit sprachphilosophischen und linguistischen Auffassungen weiblichen Sprechens und Schreibens auseinander. „Aber sagt eine Frau etwas anderes als ein Mann, wenn sie Ich sagt? Ist sie anders in dieser Sprache als er?“55 Bei der Untersuchung dieser Fragen werden zum einen Wörter und Wendungen in der Nachfolge Wittgensteins geprüft, zum anderen wird das logische Konstruieren des Theoretikers durchbrochen und subvertiert. Außer dieser Replik auf Wittgenstein enthält der Titel, wie das erste Motto nahe legt, auch eine Pluralversion von ,Nicht‘:
Denk dir eine Sprache mit zwei verschiedenen Worten für die Verneinung, das eine ist ,X“, das andere „Y“. Ein doppeltes „X“ gibt eine Bejahung, ein doppeltes „Y“ aber eine verstärkte Verneinung. Im übrigen werden die Wörter gleich verwendet.
Ludwig Wittgenstein56
Die Vemeinungswörter „X“ und „Y“ sind „Nichte“; Wittgensteins Nichte denkt auch über Fragen der Negation, der sprachlichen Polarisierungen, der Zu- und Aberkennung von Eigenschaften nach. Gedichte aus anderen Bänden verknüpfen die „Nichte“ dieser Art mit der Mann-Frau-Definition, wie „Ceci n’est pas un’homme, wie „Elektra. Spiegelungen VII“,57 wo es heißt: „nicht länger will ich sein / die abbildung seines nichtseins“, oder wie der Text „Sophies Freund“,58 in dem der ,Philosoph‘ des Titels verschiedene Subjekttheorien von Leibniz bis Nietzsche zu bemühen scheint, um dann mit dem Begriff des NichtIch59 in banalster Weise das Nicht-Männliche als das ihm Andere und intellektuell Unterlegene zu bezeichnen.
Ich sagt man nicht sagte er es
geht hier beileibe nicht um mich
oder dich sagte er redete über
Monaden Strukturen Posthistoire
über Signifikanten Du bist nicht
Nietzsche bist du etwa verrückt
wie willst du mitreden willst du
wir sagen du bist NichtIch bist
meine Frau
Ebenso wie Wittgensteins Nichte verbindet der Titel Niemands Frau Differenz und doppelsinnige Negation, Niemands Frau ist, wie der Untertitel „Gesänge zur Odyssee“ andeutet, erst einmal Penelope. Sie wird ausgehend von ihrem Mann benannt, der dem Riesen Polyphem auf dessen Frage ,wer ist da?‘ mit der Antwort ,Niemand‘ entweicht. In Köhlers Gesängen wird die Geschichte des Helden aus anderer Perspektive erzählt, es sprechen etwa Kirke oder die Sirenen. „Niemands Frau“ evoziert zudem ,keines Mannes Frau‘, womit „Niemands“ und „Nichte“ also gleichzeitig ein Bezug auf den Mann und eine Verweigerung dieser Abhängigkeit sind. Auch positiv konnotiert ist „Niemand“ im Band cor responde, wo ,er‘ ein einziges Mal auftaucht:
Ich war in Lissabon & Niemand
war auch da Ulisses Pessoa es
war ein mann mit vielen eigen
namen der mir entgegenkam war
in jedem café ein anderer wir
stellten uns vor wir sprachen
verschiednes das nicht zu ver
stehen war alles namen fremde
sprachen jedes viertel Bairro
Alto dieser stadt […]
aaaaaaaaaaaa[…] durch Lisboa
ging ich fort als eine andere
namenlos glücklich […]
Namenlosigkeit, „viele […] eigen / namen“ – die Eigennamen als einzige mit Großbuchstaben –, „alles namen“ erzeugen ein Gefühl von Glück, und „eine andere“ hat nichts mit einer Geschlechterdifferenz zu tun, wie es in anderen Texten der Fall ist: „der andere kann auch ein Abstraktum sein, die andere ist immer konkret“, „seltsamerweise meint Jeder alle, kann aber auch nur alle Männer meinen; Jede kann nur alle Frauen meinen“.60 Die Nebeneinanderstellung von „Niemand“, „Ulisses“ und „Pessoa“ in der Lissabon-Szene hat mehrere Gründe. Eine Legende erzählt von Odysseus’ Verbleib in Lissabon, wie Köhler in einem einleitenden Kommentar erklärt. Ihr Kommentar führt eine namenlos gewordene Frau an, die im Gegensatz zu Penelope rebelliert und sich nicht mit dem Schicksal der geduldig Wartenden oder Verlassenen abfinden will.
Es gibt eine Gründungslegende von Lissabon, die den Namen auf Odysseus zurückführt – Ulissipo –, dem dort eine Frau begegnet sein soll, deren Name nicht überliefert ist; er soll auch sie verlassen haben […] was aber diese Frau derart in Rage versetzte, daß sie auf das Land an der Tejo-Mündung einschlug, bis es Wellen schlug, die erstarrten zu den Hügeln, auf denen Lisboa erbaut wurde.
Im Textauszug oben wird Odysseus mit Fernando Pessoa gleichgesetzt,61 der das Ich fasziniert. ,Niemand‘ ist hier der mit den vielen Namen, den vielen Gesichtern, der Nicht-Eindeutige und Nicht-Eine. Margaret Littler und Hilary Owen bringen die Bezugnahme auf Pessoa, den „poet renowned for his use of heteronymy, the construction of other poetic subjects who were afforded a biography and an identity as well as their own unique poetic styles“62 in einen Kontext mit Köhlers Streben nach Vielstimmigkeit, sprachlicher Ambiguität, dynamischer Begegnung und fluider Identität. Sie untersuchen darüber hinaus detailliert zahlreiche andere Verweise auf Autoren und Werke in cor responde und betonen „Köhler’s contribution to the emergence of a postmodern female subject“ sowie ihren Beitrag „to the project of constructing an alternative to the heroic Enlightenment subject“.63 Eine Alternative zu Adornos und Horkheimers Aufklärungs-Odysseus64 wird in der Tat angeboten. Subjekt und Objekt, Körper und Geist werden von den Sprecherinnen der Köhlerschen Gedichte nicht scharf getrennt, ihre Sprache wird nicht vollständig von der instrumentellen Vernunft beherrscht. Problematisch bleibt, dass sich diese Wandlung nur vor der Folie der männlichen „Rede“ und nie ohne den expliziten Bezug auf diese vollziehen kann. Das weibliche Ich beklagt seine Definition als das Andere des Mannes, benötigt aber selbst diese Abgrenzung zu seiner Eigendefinition. Stark ausgeprägt ist vor allem in Niemands Frau der Entwurf einer solchen Gegenmythologie. Wie in cor responde durch den Verweis auf die Gründungslegende Lissabons wird auch hier Odysseus aus weiblicher Sicht betrachtet. Ein Auszug aus („Sirenen 2“)65 verdeutlicht dies:
aaaaa[…] die Stricke schneiden
das eigene Fleisch es schmerzt
ihn seh ich weiß was Schmerzen
sind auszuhalten ist eine Wahl
der Qual mit Namen „Ich“ & mehr
als eins bin ich selbander DIE
(„Sirenen“ nennt er es) ICH BIN
MIR GLEICH die Fremde ist mein
Double mein Teil sie hält mich
aus halt ich sie weiß ich mich
zu lassen was hält ist Abstand
& ich halte ihn lieber als daß
ich flöge auf dieses Angebinde
: Held in Seilen verstrickt in
eignen Worten die den Leib ent
eignen die Geste binden an die
Täuschung […]
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa[…] Herr
der Rede hat er das Sagen über
redet & verschweigt das Singen
Klingen springende Stimmen die
keine Antwort stehen lassen de
finiert er dividiert Ich nenne
trenne mich: Charybdis. Skylla.
Die Rolle der Sirene(n) ist eine andere als im Homerschen Text. Dort wird das rationale Handeln des Helden erklärt; hier wird überraschend die sonst nicht einmal gestellte Frage beantwortet, warum nicht die Sirenen auf Odysseus zufliegen, anstatt auf ihn zu warten. Das Ich hält lieber Abstand, „als daß“ es wie es verächtlich erklärt, „flöge auf dieses Angebinde“. In den Augen der Sirenen entzieht und präsentiert sich Odysseus gleichzeitig, wie ein verschnürtes Geschenk.66 Die Sirenen folgen einem eigenen Willen, der so nicht in der Fassung des Epos vorgesehen ist. Ähnliche Umdeutungen erfahren auch weibliche Figuren der anderen Gedichtbände. Nicht Hyperion, sondern Diotima schreibt in Deutsches Roulette an Bellarmin und könnte sich sprachlich wohl kaum stärker von Hölderlins Diotima abheben:
Oder den neuen Text zum
alten Lied: Diotima oder Die wahre Liebe verreckt.
Sprich nicht weiter. Euch dieses Gejammer in den Hals
zurück zu stopfen wäre eine Auferstehung wert.67
Ophelia zeichnet in die Kästchen eines Kreuzworträtsels „einen ganzen / heldenfriedhof für / hamlet & konsorten“68 und Elektra flieht aus ihrer Rolle; sie „legt die Maske ab“, denn „ein neues stück beginnt und keine rolle vorgesehen für elektra und keine sprache außer der orests“.69
Das Subjekt von („Sirenen 2“) fällt aus der männlich determinierten Rolle und Sprache. Es entspricht nicht dem Einheitsdenken, sondern existiert in einer Art Symbiose. Zum Schluss ist es nicht einmal mehr die Sirene(n), sondern die einander gegenüberliegenden beziehungsweise -hausenden Meeresungeheuer Charybdis und Skylla. Odysseus’ Sprache wird als körperfeindlich charakterisiert. Worte sind Seile; Odysseus hat sich auf eigenen Befehl hin fesseln lassen und wird von der sprechenden Instanz als Gefangener seiner selbst betrachtet. Dass er die Sprache beherrscht und sie einsetzt, um seinen Körper zu beherrschen, akzentuiert die auffällige typografische Parallelsetzung von „eignen“ und „ent / eignen“:
aaaaaaaaa[…] in Seilen verstrickt
in eignen Worten die den Leib ent
eignen […]
Die Sirenen dahingegen verschmelzen mit ihrer Stimme, für sie ist die Sprache kein Mittel zum Zweck – der Gesang verfolgt hier augenscheinlich nicht das Ziel des Anlockens –, sondern Selbstzweck und Grundlage des Existierens: „Ich sei ,Ich bin‘: ein Zeichen / das klingt Springt“, so beginnt der Text, und er endet mit einer ebensolchen Selbstbenennung, die das Ich als Schöpfer-Subjekt setzt, das besteht und jeweils neu entsteht, indem es sich Namen gibt: „Ich nenne / trenne mich: Charybdis. Skylla.“70 Die Sprache des Ich ist inhaltlich und auch formal anders als die des „Herr[n] der Rede“. Wiederholungen und Wortspiele, wie im gewählten Textabschnitt die zahlreichen Variationen auf „halten“, Gedankensprünge sowie lautliche Assoziationen bringen „Singen / Klingen“ und „springende Stimmen“ hervor, die sich gegen die Logik des ,Definierens‘ und ,Dividierens‘ absetzen wollen. Dennoch gleitet diese Sprache nicht ins völlig Unverständliche. Klang, Rhythmus und begrenzt formale Experimente bleiben an logische Gesetze, an syntaktische und semantische – als ,männlich‘ bezeichnete – Sprachaspekte gebunden und verselbstständigen sich nicht bis zur Bedeutungslosigkeit oder bis hin zu einer reinen Lautpoesie.
Hier stellt sich die Frage, inwiefern Barbara Köhler in ihren Texten eine typisch weibliche Sprache konzipiert und zum Impuls ihres sprachreflexiven Schreibens macht. In Wittgensteins Nichte lautet der Titel eines Essays: „ZWISCHEN DEN BILDERN. 7 Texte zur Grammatik einer Differenz“.71 Diesen Begriff der Differenz nimmt Helmut Schmitz auf, wenn er in Bezug auf den gesamten Band erklärt:
Zusammengehalten werden die Texte von Köhlers Suche nach einer ,Grammatik der Differenz‘. […] Die Tatsache, dass dem „selbstidentischen“ männlichen ,Ich‘ ein singuläres ,er‘, dem weiblichen ,Ich‘ jedoch eine potenziell plurale dritte Person ,sie‘ korrespondiert, führt Köhler zu der Feststellung, dass er und sie beim Gebrauch der gleichen Worte den/die Andere/n jeweils anders erfahren: […] „er ist im Verhältnis zum anderen Selbst, sie ist im Verhältnis zum anderen selbanders.“ […] In der Formulierung des ,selbanders sein‘ hält Köhler die Vorstellung einer heterogenen Subjektivität fest, die die Selbstidentität traditioneller Subjektvorstellungen unterläuft: „sie gehört potenziell allen drei Geschlechtern an: selbander, selbdritt, plural.“72
Der Befund, dass die Frau nicht „selbstidentisch“ ist und daher von vornherein ,anders‘, nie überhaupt ein ,Selbst‘, sondern immer schon „selbanders“ ist, entspricht der Theorie der Differenz im Gender-Diskurs, die das Selbst der Frau als das Andere des Mannes definiert. Köhler stellt die Perspektive des weiblichen Ich als besondere Perspektive dar. Die Frau kann nicht voraussetzungsfrei, ,selbst‘ sprechen, sondern geht mit Sprache immer schon in dem Bewusstsein um, aus problematisierter Perspektive heraus zu reden und zu schreiben.73 Das ungebräuchlich gewordene Wort „selbanders“ bedeutet ,zusammen mit einer anderen Person, zu zweit‘. Im Beispiel der beiden Sirenen wird das Wort „selbanders“ in diesem Sinne gebraucht; das Selbst definiert sich als symbiotisch mit einer anderen Frau verbunden. Dies ist ein Gegenbild zum Differenzdenken, erlaubt dem weiblichen Ich aber immer noch keine Individualität. Nur als Gegenbild oder als Kollektiv ist von ihm die Rede. Das „Selbandere“ entzieht sich diesem Ernst jedoch wieder, da es auch zu einem intertextuellen Spiel gehört.74 Köhler spielt mit Gestalt und Gehalt der Wörter, die nicht ,eine‘ zu respektierende Bedeutung aus dem Herkunftstext mitgebracht haben. Für abstrakte Begriffe gilt bei ihr im Allgemeinen, dass sie nicht in eine einzige Definition gefasst werden können, da auch die theoretischen Termini spielerisch verwendet werden. Eine festlegende Begriffsbestimmung wird keinem auch noch so häufig vorkommenden Wort gerecht. So ist auch der Ausdruck „Grammatik einer Differenz“ nicht eindeutig. Im oben zitierten Absatz erklärt Schmitz, die „Suche nach einer ,Grammatik der Differenz‘“ halte die Texte in Wittgensteins Nichte zusammen. Aus Köhlers essayistischen Erläuterungen ist jedoch nicht abzulesen, ob es sich dabei wirklich um eine Suche handelt. Einige Aussagen konstatieren diese geschlechtsbedingte Differenz in der deutschen Grammatik als etwas Gegebenes; andere lassen die Absicht erkennen einen differierenden Umgang damit erst noch zu kreieren.
Wie Wittgenstein schrittweise über die Grammatik von bestimmten Wörtern nachdenkt (das heißt für ihn über den Gebrauch von Wörtern), macht auch Köhler die bestehende Grammatik bewusst: „Eines der seltenen Verben im Deutschen, wozu sich auch im Singular 2 bewegen müssen, ist ,entgegenkommen‘ – ein Fall von Dualis?“75 Stärker als Wittgenstein, der erkundet, welche Vorstellungen mit welchem Wort verbunden sind, diskutiert Köhler morphologische Eigenschaften, vor allem bezüglich männlicher und weiblicher Endungen von Pronomen und Adjektiven.76 Traditionell feministisch muten dabei Formulierungen an wie die Feststellung, aus ,seiner‘ Perspektive natürlich: „Jeder, der alle sein kann, ist eben besser als Jede“, oder wie die Formel vom „Musensyndrom“, nach der „sie für ihn der bessere Mensch, anders als alle anderen, […] unvergleichlich“ ist. „Fatal für sie (eine oder alle beide?)“ sei „nur, daß die allerbeste Frau für diese Zwecke eine tote Frau ist“.77 Wie bei diesen Konnotationen zum ,Anderssein‘ geht Köhler auch in den „7 Texte[n] zur Grammatik einer Differenz78 von einem einzigen Wort aus. Das Motto „Als ich um die Ecke bog, traf ich eine Entscheidung“, nimmt sowohl dieses einzige Wort – „Entscheidung“ – als auch die angewandte Methode schon vorweg. „Wittgensteins Nichte“ argumentiert nicht nur sprachphilosophisch-logisch wie Wittgenstein, sondern konterkariert diese Logik, bezieht eine erfundene, konstruierte ,Grammatik‘ mit ein und untersucht diese mit demselben Ernst, mit dem sie sprachwissenschaftliche Annotationen beifügt. Mehrere Begriffe aus dem Wortfeld „scheiden“ werden mit dem Wort „Entscheidung“ assoziiert, worauf die Bemerkung folgt:
Manchmal nur sprechen wir von den Toten als Verschiedene. Wir müssen uns entscheiden, weil wir lebende Menschen sind; weil erst der Tod alle gleich macht, sind wir zu Lebzeiten verschieden.
Im Textverlauf wird diese Reflexion auf die Mann-Frau-Unterschiede hingeführt. Zu diesen Unterschieden wird angemerkt, dass es keine „Ober- oder Überschiede“ als Ausgleich gebe, und die Frage kommt auf, ob wohl das „Unter“ eine „Neigung entstehen“ lasse, „über andere zu entscheiden“.79 Daneben wird durchgespielt, was geschieht, wenn „Worte beiLeibe wörtlich genommen werden“, wenn „Grammatik auf menschliche Leiber“ trifft und „Entscheidung“ für „sie“ eine „Verneinung des eigenen Geschlechts“ bedeuten würde (Scheide), für „ihn“ aber eine Scheidung vom Weiblichen, eine Abgrenzung vom Anderen „Vage[n]“, Unentschiedenen – „Vagina (vage: in sich unentscheidbar)“. Dazu skizziert Köhler in einer Fußnote den Übergang vom aristotelischen „Ein-Geschlecht-Modell“ (die Frau als „Ableitung“, „mindere Ausprägung des Mannes“) zu einem Modell der Geschlechterdifferenz Ende des 17. Jahrhunderts.80
Die Frage, ob eine existierende „Grammatik einer Differenz“ vorgeführt und Ungleichheit bewusst gemacht werden soll oder ob dahinter das Programm eines Entwurfs von differenzierendem Sprechen steht, wird nicht beantwortet. Dass beide, Feststellung und Suche, miteinander verwoben sein können, deutet in den oben umrissenen Überlegungen die ,grammatische‘ Analyse und die Anwendung einer ,anderen‘ Logik auf diese Grammatik an. Diese ,andere‘ Logik funktioniert durch assoziative – erst sprachliche und dadurch dann gedankliche – Verknüpfung von Bezeichnungen. Sie situiert sich nicht jenseits der Rationalität, selbst wenn sie irrationale Ergebnisse auslöst – „Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, dann geht es vielleicht ja mit linken auf“.81 Die „weibliche“ Logik, die mit Worten und Phraseologismen spielt, funktioniert auf der Grundlage der bestehenden Sprachordnung. Für die Sprache gilt ebenfalls, was für die weibliche Gegenmythologie unterstrichen worden ist: Das Spiel mit ,Sprachstücken‘ entfaltet vor der Folie des jeweiligen ,Originals‘ seine Wirksamkeit und folgt im Grunde denselben Mechanismen wie die ,normale‘ Sprache. Bedeutungsveränderung entsteht durch andere Präfixe, Präpositionen, Veränderung der Wortstellung im Satz und etymologische Parallelen.
Aus dieser Suche geht ein Dialog zwischen Sinn und Subversion von Sinn hervor. Sprachwitz und -spiel verhindern ein „feministisches Klagelied“,82 und trotz der Allgegenwart der Geschlechterthematik werden binäre Leitsätze vermieden oder zumindest problematisiert. Basis aller Differenzierungen bleibt die Sentenz:
Für ihn & sie aber gelten im Sprachspiel unterschiedliche Regeln83
Aber gleichzeitig wird, bereits im zweiten Gedicht des ersten Bandes, bedauert, dass dies so ist: „Neutral bleiben […] Und vielleicht sollte das aufhören: Wörter wie Mann und Frau einander vorzuwerfen“.84 Eine utopische Position jenseits dieser beiden „Wörter“ klingt in den Formen des Neutrums, zum Teil auch in der unmöglichen Situierung des Ich an. Und die Bewunderung des Dichters Pessoa in cor responde, der mehrere Schreibstile und dazu gehörige Namen für sich entworfen hat, zeigt, dass der Wunsch nach mehreren Identitäten in Köhlers Texten nicht allein der Frau vorbehalten ist.
4. Implizites Sprachspiel
Bevor dargelegt wird, wie in Köhlers Gedichten explizite Aussagen über die Sprache der Gedichte gemacht werden, soll nun kurz die implizite Sprachreflexion in den Gedichtbänden im Vergleich vorgestellt werden.85 Formal und stilistisch unterscheiden sich die einzelnen Bände stark voneinander. Dennoch gehören Sprachreflexion und Sprachspiel zu einem in allen Texten ähnlich ausgearbeiteten Projekt, ob nun die Texte in klassischer Form, mit willkürlichen typografischen Einschränkungen (Zeilen von genau gleicher Länge), in der Gestalt von Langgedichten oder in Essay-,Prosa‘ gehalten sind.
Deutsches Roulette. Gedichte 1984–1989 enthält viele Liebes- und Beziehungsgedichte. Einige befassen sich mit der Kindheit und eine größere Anzahl kann man in Anlehnung an den Bandtitel ,Deutschlandgedichte‘ nennen. Eine Lakonik gibt dem Schreiben über Sehnsucht, Ziellosigkeit und Verzweiflung einen zugleich verspielten und harten Ton, so dass die melancholische Stimmung nicht kitschig wirkt.86 Auffallend sind Reminiszenzen an Ingeborg Bachmann, wie zum Beispiel „Sachsen am Meer – Ahoi!“87 oder „Rondeau Allemagne“ aus dem Zyklus „Elb-Alb“,88 das wegen starker Bildähnlichkeiten und der Rondeau-Form mit ,ei‘-Reim an „Die große Fracht“ erinnert.89
Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd,
Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt,
Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt;
Ich harre aus im Land und geh ihm fremd.
Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt,
Will ich die Übereinkünfte verletzen
Und lachen, reiß ich mir das Herz in Fetzen
Mit jener Liebe, die mich über Grenzen treibt.
Zwischen den Himmeln sehe jeder, wo er bleibt:
Ein blutig Lappen wird gehißt, das Luftschiff fällt.
Kein Land in Sicht; vielleicht ein Seil, das hält
Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt.
Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.
Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Dieses in Anthologien am häufigsten zitierte Gedicht von Köhler ist eines von vielen Gedichten mit klassischen Strophenformen in Deutsches Roulette. Neben diesen sind auch freie Verse und Prosagedichte zu finden. Dass Formstrenge hier nicht zu waghalsigen Sprachexperimenten führt, Sprachspiel aber keineswegs ausschließt, zeigt in diesem Gedicht wiederum das bei Köhler typische Spiel mit dem Bezug von Wortgruppen. Diesmal wird der Bedeutungswechsel ausnahmsweise durch Satzzeichen gekennzeichnet, wodurch sich beispielsweise das Gefühl der Entfremdung dem „Land“ gegenüber (V 1) bei der zweiten Nennung (V 4) zu einem aktiven Verrat steigert (,fremd-gehen‘), der in der ersten Zeile so noch nicht vorhanden ist.
Wegen „Rondeau Allemagne“ und anderer DDR-Gedichte in diesem Band – „DIE ELBE IST EIN GRENZFLUSS […] Der Atlas legt mir die Karten hier bleibt / Schicksal Geographie“90 – beziehen einige Rezensenten Deutsches Roulette gänzlich auf die persönliche Situation der Autorin in der DDR.91 Auch die Sprache wird häufig als DDR-gebunden bezeichnet. Werner Fuld notiert zu den klassischen Formen des Bandes, hier in Bezug auf Sonette:
Die erzwungene Selbstentfremdung durch den SED-Staat erstarrt in diesen strengen Strophen zur liturgischen Klage.
Andere sehen gerade in den Wortspielen einen Widerstand gegen die verfestigte Sprache des DDR-Staatsapparats. Rolf Michaelis bezieht gar den Vers „sitzt ich und schreibt“, da dieser dem Ich „ein Verb in der dritten Person beifügt“, auf „die Zerstörung von Menschen in einem wirklich geisteskranken Staat“.92 Vor allem im Vergleich mit den späteren Arbeiten ohne thematischen DDR-Bezug ist eine solche Lektüre einschränkend. Zwar entspricht die Lakonik dem Inhalt der ,Heimat‘-Gedichte:
Aber hier ist Sachsen hier
Wird alles nicht so heiß gegessen
Wies gekocht wird und die Erde ist
Zwar rund – nur: mehr kreisförmig.
Ein Präsentierteller. Worauf wir Sitzen-
Gelassene jedermann sichtbar die Suppe
Auslöffeln einbrocken auslöffeln
Undsoweiter undsofort wie denn fort
Wo denn hin wir sind sofort zu erkennen
An dieser Unart zu sprechen diesem skeptischen
Dialekt93
Doch sämtliche Formen des Sprachspiels, die sich in Deutsches Roulette abzeichnen, werden in den späteren Texten weiter ausgearbeitet und entwickeln sich unabhängig von der politischen Thematik. Die bereits kommentierten Verschiebungen von Wörtern und Satzteilen sind dabei ebenso zu nennen wie die häufigen Enjambements und die Polysemie (z.B.: „wenn das Meer uns die toten Tiere vorwirft“94 – wenn also das Meer dem Menschen einen Vorwurf für die Verseuchung des Wassers macht, indem es die Meerestiere an Land spült), die oft in der rhetorischen Figur des Zeugma auftritt: „die Einsicht: WIR GEHEN DRAUF und unter die Brücke“.95 Die in diesem Band seltene Binnengroßschreibung96 – „MetroRolltreppe“, „LukácsKonditorei“, „LustSchmerz“ – taucht später in Blue Box ebenfalls einige Male auf und wird in den Essays in Wittgensteins Nichte systematisiert.97 Als Mechanismus zur auffälligen Betonung verschiedener Wortkomponenten verliert sie allerdings ihre Irritationskraft, wenn sie einige Dutzend Mal auftritt. Der erst noch überraschende Fingerzeig auf die potenzielle Mehrdeutigkeit der Wörter büßt bei so häufiger Hervorhebung an Dynamik ein und wird fast schon als Normalschreibung gelesen. In den Gedichten ist die Wirkung dieser Technik also durch deren vorsichtigen Einsatz weit stärker als in den Essays.
Intensiviert wird die in Deutsches Roulette (1991) sporadisch auftretende Technik des gleichzeitigen Vor- und Zurückverweisens in Blue Box (1995) Auch dort ist ein lakonisch-lapidarer Ton Resultat des Einsatzes von Wörtern mit Doppelbedeutung. Das semantische Zeugma ist die auffälligste rhetorische Figur; im folgenden Ausschnitt wird es mehrmals genutzt, am deutlichsten im letzten Teil (,den Flur, die Dielen und keine Fehler begehen‘):
ich besitze einen stuhl ich bestelle einen tisch
mit gläsern tassen tellern besteck ich bekomme
besuch durch das treppenhaus durch die tür durch
die halbe stadt durch eine einladung nähert sich
das wunschkind hat schon die klingel gedrückt so
begehe ich den flur die dielen hoffentlich keine
fehler […]98
Der Titel Blue Box verweist auf ein Herstellungsverfahren, bei dem etwa Fernsehsprecher vor einem blauen Schirm aufgenommen werden, welcher dann mit Bildern überblendet wird. Zeitlich und räumlich Getrenntes nimmt der Zuschauer als ein Ganzes wahr. Ähnliches tut er mit den Wörtern, die in Blue Box Unverbundenes verknüpfen. Nur ihre Form und ihre Mehrfachbedeutung bilden die Assoziationsbrücke. Vornehmliches Mittel dazu ist neben dem Wörtlich- Nehmen und dem Zeugma die Paronomasie:
Alles Verläßliche verlassen99
Außer auf ein gleichnamiges Gedicht bezieht sich der Bandtitel auf das Thema der Medien und der damit verbundenen Wahrnehmungsstrukturen. Blue Box thematisiert Kino, Fernsehen („Kein Kommentar“, „Ansage“),100 Telefon, Fotografie,101 Zeitung („Newspaper“)102 und digitale Sprachen. Blue Box ist des Weiteren eine Anspielung auf Wittgensteins Blue Book, aus dem in einem Motto zitiert wird. Das Blaue Buch, eine nach Studentenaufzeichnungen erstellte Fassung von Vorlesungen, beschäftigt sich, auf weit weniger lehrsatzhafte Weise als der Tractatus, spielerisch hin- und herdenkend mit den Beziehungen zwischen Wahrnehmung und Sprache.103 Blue Box ist eine spielerische Auseinandersetzung mit Sprachphilosophie und Medientheorie.104 Andere Assoziationen zum Bandtitel sind mit ,Black Box‘ das Unergründliche und daneben ein Verweis auf die Fotografie sowie auf ein Aufzeichnungsmedium in einem Flugzeug. Denn der Einband des Buches ist von einem blau getönten Schwarz. Auch der Schutzumschlag ist ein sichtbares Spiel mit dem Titel: Abgebildet ist hier die Installation „Der weiße Raum / Le Vide“ (1962) von Yves Klein, mit dessen Konzeptkunst sich Köhler auch an anderer Stelle auseinandersetzt.105 Schließlich verweist Blue Box auf die in vielen Gedichten genannte Farbe Blau und auch auf die typografische Form, in der gleich 18 dieser Gedichte gehalten sind und die seitdem typisch für Köhlers Gedichte ist. Gedichte in ,Box-Form‘ haben dieselbe Anzahl Anschläge pro Zeile und dieselbe Zeilenlänge, wodurch der Text als Rechteck etwas Kompaktes, Geschlossenes erhält, einen Kontrast zum Inhalt bildet, der sich ständig verschiebt und nie greifbar ist. Diese kompositorische Einschränkung erzeugt Köhler zufolge eine „Spannung“106 zwischen Formstrenge und Offenheit. Sie passt auch in die Tradition des Sprachspiels: Autoren wie Pastior und Heißenbüttel benutzen ebenfalls diese Form. Die kleinen Rechtecke auf großer weißer Fläche werden als Bild wahrgenommen. In einigen Fällen tanzt ein Wort aus der Reihe, fällt aus dem gesetzten Rahmen. Und „Herzenssache“107 beispielsweise spielt mit der Leserichtung, indem derselbe Text in Schreibmaschinenschrift einmal von links nach rechts und auf der Gegenseite vertikal lesbar abgedruckt wird. Die einzelnen Buchstaben kommen dort stärker zum Vorschein als die Wörter, Bedeutungen müssen mühsamer entziffert werden. Das Material wird anders bzw. andersherum betrachtet. Es verselbstständigt sich nicht wie in der visuellen Poesie, wie sich auch Klangspiele nicht bis hin zur bezeichnungsfreien Lautpoesie entwickeln (vgl. das Beispiel aus Niemands Frau). Lautliche und visuelle Wahrnehmungsaspekte werden bei Köhler betont, doch die „springenden Stimmen“, das „Lallen“ oder das Zeigen auf die Bildlichkeit der Gedichte bewegen sich innerhalb der Grenzen der verständlichen Sprache. Das Bestreben, die Wörter von allen Seiten sprechen zu lassen, sie in anderen Reihenfolgen zu befragen, manifestiert sich auch in dem schon mehrmals angesprochenen oszillierenden Vor- und Zurückverweisen der Wörter und Wortgruppen sowie in den Vers-Palindromen (z.B. „Chiasma“).108
In cor responde werden sowohl die Art der Sprachspiele als auch die Box-Form beibehalten, wenn auch in einer verlängerten Form: Die Texte sind eher Langgedichte und erstrecken sich über mindestens eine Seite. Hinzu kommt ein Spiel mit der Übersetzung. Jeder der Texte ist ebenfalls in einer Übersetzung ins Portugiesische von Maria Teresa Dias Furtado zu lesen, und die deutschen Texte gehen sprachspielerisch auf Eigenheiten der portugiesischen Wörter ein.109 „,Cor responde‘ affords a triple pun in Portuguese, as ,cor‘ refers not only to epistolary cor/respondence, but also to ,cor‘ as colour and as an archaic word for ,heart‘“, erklären Margaret Littler und Hilary Owen.110 Eine Korrespondenz sind diese Texte, weil sie sich „Briefe“ nennen, und in einem Korrespondenzverhältnis stehen sie auch zur portugiesischen Literatur, Geschichte und Sprache und zu den Orten, von denen sie sprechen. cor responde benennt zudem einen wechselseitigen Bezug von Sprache und Farbe (das portugiesische Wort ,cor‘ bedeutet ,Farbe‘): Die Texte sind vor dem Hintergrund von monochromen Malereien und neben Fotografien aus Lissabon, die Details abbilden (wie Porzellanfliesen, Kaffeegeschirr, blasse Fassaden oder eine Treppe mit aufgeklebter Werbeschrift), auch eine Antwort auf visuelle Eindrücke, auf die „bunte[] Haut dieser Stadt“, in der „Wege Sehwege sind“.111 Dabei antworten – ,responde‘ – die Bildarbeiten von Ueli Michel auf die Texte und zeichnen gleichzeitig ein eigenständiges Bild. Köhlers Interesse für Medien und intermediale Kunst kommt also innerhalb der Gedichtbände und -zyklen stark zum Ausdruck in Deutsches Roulette unter anderem durch die verschiedenen Spiegelmotive, in Blue Box thematisch in den meisten Gedichten, in cor responde durch die Gestaltung des Bandes als Künstlerbuch und in Niemands Frau in der Thematisierung von intermedialem Stimmengewirr, Computer- und Internetsprache. Umgekehrt sind Barbara Köhlers zahlreiche Arbeiten mit anderen Medien, die Installationen für den öffentlichen Raum, die Projekte zusammen mit bildenden Künstlern und die Essays zu Ausstellungen Arbeiten mit und über Sprache und Schrift. Sie denken über Situation und Position des Leser-Betrachters im Raum nach, thematisieren wie die oben besprochenen Spiele mit den Pronomen dessen Identität in der Sprache und die Stimme der Autorin oder sie agieren als Selbstreflexion des Mediums im Raum. Wenn auch hier nicht näher auf die intermedialen Arbeiten eingegangen wird, weil dies den Rahmen dieser Untersuchung zur Sprachreflexion sprengen und den spezifischen Eigenheiten des jeweils anderen Mediums auch nicht gerecht würde, so kann doch festgehalten werden, dass aus dieser Arbeit ein ähnliches konzeptionelles Bestreben wie aus den Gedichten hervorscheint.
5. Explizites Sprachspiel
Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich
weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie.
Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit,
verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.112
[…] der/die Beobachtende ist Teil des Systems. Das Sprechen über die Sprache findet in der Sprache statt, von der es handelt – das Objekt der Untersuchung interferiert mit dem Subjekt. Diese Interferenz soll als grundlegend für die Versuchsanordnung gelten: keine Metaebene, keinen ÜberBlick, sondern mit der Sprache sprechen, auch im Hinblick auf mögliches Entgegenkommen […]113
5.1. Das Gespräch mit der Sprache
Den Satz vom Beobachter beziehungsweise der Beobachterin, der/die Teil des Systems ist, findet man bei Köhler häufig. Er stammt aus der Systemtheorie und weist auf die in der modernen Wissenschaft erfolgte Erschütterung vieler theoretischer Grundannahmen, darauf, dass der Wissenschaftler seine Forschungsergebnisse schon allein durch die eigene Herangehensweise beeinflusst und ihm nichts anderes übrig bleibt. Dies gilt auch für die Analyse der Sprache: „Also es kriegt doch eine Ironie dadurch – wenn ich weiß, daß ich natürlich herauskriegen werde, wonach ich frage“, konstatiert Barbara Köhler.114 Sie bricht nicht aus dem System Sprache aus, sondern akzeptiert die Unmöglichkeit, von ,außen‘ oder von ,oben‘ über die Sprache zu schreiben. Aus der zweiten oben zitierten Textstelle wird ersichtlich, dass „mit“ der Sprache reden bei Köhler bedeutet, dass ein Sprechender die Sprache nie durch eine übergeordnete Sprache beherrschen oder definieren kann, sondern immer selbst in ihr ,steckt‘. In der ersten Textstelle bezeichnet „mit“ das Ausdrucksmittel Sprache und zugleich ein angesprochenes Gegenüber. Die Sprache wird personifiziert und erlangt eine vom Sprecher unabhängige, dem Subjekt gleichrangig entgegen-gestellte Existenz.115 Auch manifestiert sich ein Subjekt-Sein der Sprache. Diese „antwortet“ selbstständig und könnte demnach zu Aussagen gelangen, die nicht vom lyrischen Ich intendiert sind, könnte Wendungen finden, zu denen das Ich allein nicht gefunden hätte. Diese Auffassung schlägt sich praktisch in zahlreichen Gedichten nieder, in denen ein Wort durch Polysemie zu anderen Wörtern führt, die erst dann andere Assoziationen nach sich ziehen und dem Gedicht eine thematische Wendung geben (ein Beispiel ist in „Ceci n’est pas un’homme“: „das hört was / sich gehört hat es gehört / ihm doch nicht“). Es sieht so aus, als ließe sich die lyrische Aussageinstanz von den Wörtern mitreißen, ohne die inhaltlichen Konsequenzen der Bedeutungsverschiebungen im Voraus zu ,planen‘. Oft leitet also die Sprache ganz wörtlich das Denken und nicht umgekehrt. Der Inhalt ist nicht jenseits der Sprache situiert, sondern entwickelt sich durch sie – wenngleich die Entscheidung, diesem Spielen der Sprache zu folgen, der sprechenden Instanz obliegt. Die Auffassung, dass nicht nur allgemein die Sprache ein bestimmtes Wirklichkeitsbild mit sich führt,116 sondern dass überdies jede Sprache ihre eigene Struktur hat und eine eigene Weltanschauung erzeugt (in der Semantik als Sapir-Whorf-Hypothese bezeichnet), kommt in einigen Texten Barbara Köhlers zum Vorschein. Dort befragt sie deutsche Sprachpartikeln auf ihre inhaltlichen Implikationen hin; sie spricht nicht von universalen Ansprüchen der Sprache, sondern von den „gesetzen deutscher grammatik“.117
5.2. Das Gespräch mit dem Leser
Die Bemerkung aus dem oben zitierten „Ich übe das Alleinsein“ – „ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden“ – kann nur mit ihrem Zusatz „Mathematik ist nicht mein Fach“ als poetologisches Prinzip auf Köhlers Gedichte angewendet werden. Das „Fach“ des Ich ist das Wortspiel, nicht das ,Rechnen‘. Ob es verstanden wird, ist nicht mathematisch zu ermitteln. Deutlich ist aber das Streben nach Verständlichkeit in den Gedichten. Das zeigt schon die bereits erwähnte Tatsache, dass in den Texten vor allem bekannte Namen auftauchen und dass Zitate in der Regel gekennzeichnet sind. Anspielungen werden durch Fußnoten, Widmungen oder Vorbemerkungen (wie in cor responde die Erläuterungen zu literarischen und thematischen Bezugnahmen) zumindest ansatzweise erhellt. Der Leser braucht keine allzu komplizierten Recherchen anzustellen, um den intertextuellen Spuren nachzugehen. Eine explizite Aufforderung an den Leser im Gedicht „Wittgensteins Nichte“118 weist in die gleiche Richtung:
NUN VERSUCHEN SIE, WENN DIE REDE VON IHM IST, ES SICH NICHT ALS IHN VORZUSTELLEN; BEGINNEN SIE DEN TEXT SO NOCH EINMAL VON VORN:
Der Leser soll ein grammatisches Spiel mit „ihm“ (er) und „ihm“ (es) nachvollziehen und die Schlusszeilen des Textes wollen sich seines Verständnisses vergewissern. Derartige Einschübe innerhalb der Gedichte suchen den Bezug zum Leser, dessen Rolle sich nicht auf eine Konfrontation mit dem Text beschränken, sondern zu einem Mitspielen ausweiten soll. Es wurde schon festgehalten, dass das Sprachspiel sich lautlich und visuell innerhalb der Grenzen der Normalsprache bewegt, und auch dies hat, nach Köhlers Worten, mit Verständlichkeit zu tun:
Klar kann ich sagen: […] ich schmeiße alles übern Haufen, was ich je über Syntax gelernt habe, ich mache jetzt auf Glossolalie und Wiener Gruppe – aber dann ist für mich eine Grundgeschichte von Sprache nicht mehr gegeben: Kommunikabilität.119
„Kommunikabilität“ bedeutet dabei nicht, dass alles einfach zu durchschauen wäre; oft können lediglich Einzelelemente, nicht aber deren Zusammenhänge „verstanden“ werden. „Auch nach mehrfacher Lektüre […] unkommunizierbar“, urteilt Harald Hartung und bemerkt zu den eher hermetischen Gedichten aus Blue Box, sie seien keine Gedichte, „sondern eher eine ,Demonstration‘ im Sinne Heißenbüttels“.120 Dieser kurze Kommentar ist in vielerlei Hinsicht interessant, denn ein Vergleich mit den „Demonstrationen“ gibt Aufschluss über das Verhältnis von impliziter und expliziter Sprachreflexion bei Köhler.
5.3. Demonstrationen des Sprechens
aaabgründig Ab-
grund grundlos
aahintergründig
aauntergründig
Hintergrund Un-
aatergrund Unter-
grundbewegung
Heißenbüttel121
aus welcher Richtung der Regen kam die
Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen
meiner Welt das denkende vorstellende Sub-
jekt gibt es nicht 21. Juni 1960 Präsens Prae-
sens Cargo American Express London
England mit dem Eingesehenen ist der Ein-
sichtige identisch er sieht ein was immer ist
und was immer möglich ist also ist das Ge-
schäft des Einsehens auch identisch der Ein-
sicht die mit ihm Ähnlichkeit hat man zer-
schneide und arrangiere die Stücke zu
jeder beliebigen Kombination und was in
Wahrheit gesagt werden kann drückt sich
hier so aus
Heißenbüttel122
meine Einfällen Vielfälle Zu
fältigkeiten
aaaaaaaaaaaaaaaaawird eine meinung
geteilt & wer teilt sie mit wem bekommt
das vorteil zum nachteil wer richtet so
sich ein & wonach wird recht gesprochen
gemacht hat es wer gibt es & nimmt sich
vor wessen sieht ist vorgesehen hat vor
recht sich gesetzt ins rechte licht
Köhler123
Ich habe das Sagen nicht. Ich lasse es
mir gesagt sein mir gefallen Wendungen
die verwandeln die EinRichtung zwischen
verrückten Wänden in ungehörige Räume
eine Fremde in der ich die Fremde bin…]
eine Stimme die sich der Sprache gibt
Klangkörper beim Wort genommen
Köhler124
Mit der Box-Form und dem ,Entlanghangeln‘ an den Sprachpartikeln, die variiert werden, lassen sich tatsächlich Parallelen zwischen Köhlers Arbeitsweise und Helmut Heißenbüttels Texten ziehen.125 Das Spiel mit Redewendungen, Alltagssprache und Wortfamilien, bei dem sprachliche Verbindungen einen Vorrang vor inhaltlichen Assoziationen haben, ist bei Köhler jedoch weniger systematisch und radikal als bei Heißenbüttel. Weniger radikal ist es, da Köhlers Sprache nicht antigrammatisch ist; das Ich ist dort außerdem noch präsent (assoziieren kann man im ersten Textbeispiel meine Einfältigkeiten, Einfälle, Zufälle, Vielfältigkeiten; auch im dritten Beispiel sind die poetologischen Aussagen subjektorientiert: „mir gefallen Wendungen, die“). Bei Heißenbüttel gilt die Grammatik nicht – kennzeichnend sind Ellipsen, fehlende Verben und die Aneinanderreihung von Substantiven ohne syntaktische Verknüpfung – und der Autor verschwindet hinter dem Sprachvorgang: Im hier ausgewählten Textfragment (eine ganze ,Strophe‘) löst sich nach dem eingestreuten Wittgenstein-Zitat von den Grenzen „meiner“ Sprache, ebenfalls Wittgenstein zitierend, das Ich auf: „das denkende vorstellende Sub- / jekt gibt es nicht“.126 Es wird zum unpersönlichen „man“, welches eine Art Anweisung für das Verfertigen solcher Texte gibt – „man zer- / schneide und arrangiere die Stücke zu jeder / beliebigen Kombination“. Der Text demonstriert dies, denn er ist eine Collage, in der Zitate, teils ,erzählende‘, teils ,poetologische‘ Versatzstücke, übergangslos aneinander gereiht werden. Im Unterschied dazu bleiben bei Köhler trotz des Zusammenfügens disparater Elemente ein ,roter Faden‘ und ein Ich bestehen, das diesem nachgeht. Das Ich ist zwar „eine Fremde“ in der Sprache, organisiert diese jedoch offensichtlich; keine der „Wendungen“ scheint aus dem Nichts aufzutauchen, die verschiedenen Aussagen sind verknüpft.
In einer Untersuchung zur Sprachreflexion bei Novalis, Loerke, Celan und Heißenbüttel erklärt Silvio Vietta,127 dass sich bei Heißenbüttel nur in der Weise des Montierens von Sprachstücken die Anwesenheit des Autors zeige, davon abgesehen demonstriere die autonome Sprache sich selbst. Paradox ist dabei, und dies ist Viettas zentraler Untersuchungsgegenstand, die Beziehung zwischen diesen Texten, die ihre Sprachreflexion „demonstrieren“,128 und Heißenbüttels Essays, die auf sprachlich konventionelle, grammatisch korrekte Weise diese Sprachauffassung logisch reflektieren – und der Sprache so einen Gebrauch zugestehen, dessen Wirkung sie gleichzeitig leugnen. In diesem Sinne ist die poetische Sprachreflexion bei Köhler kohärent.129 Denn es gibt diesbezüglich keine Diskrepanz zwischen den Gedichten und den eher theoretischen Texten sowie den Reflexionen über Sprache in den Gedichten. Die Sprache, die die Gedichte realisieren, entspricht der Idee von Sprache, die in den Essays thematisiert wird. Da gleichzeitig ,demonstriert‘ wird, was ,diskutiert‘ wird, kann man Gedichte und Essays – wiewohl in einem weitaus gemäßigteren Grad130 als Heißenbüttels antigrammatische Arrangements und nicht mit dem Ziel der autonomen Sprache – auch ,Demonstrationen‘ nennen. ,Demonstrationen des Sprechens‘ wäre bei Heißenbüttel jedoch eher ein Genitivus subiectivus, bei Köhler ein Genitivus obiectivus: Auf das Sprechen wird gezeigt.
Köhler gelingt eine fast paradoxe Auflösung des Widerspruchs zwischen der theoretischen inhaltlichen Sprachreflexion und dem Vollzug dieser Reflexion im Sprechen der Gedichte und Essays. Dies wird ihrem Anspruch gerecht, beschriebene und beschreibende Sprache als untrennbar anzuerkennen, „keine Metaebene, keinen Über-Blick“ zu suchen, „mit“ der Sprache zu sprechen. Zahlreiche Textstellen lassen die Grenze zwischen Poesie und Poetik verschwimmen. Dies tritt dort zutage, wo die Essays alogisch sind, einer „anderen“ Logik folgen,131 wo sie nicht von ,außen‘ über die Sprache verfügen, sondern sich selbst durch sie umgestalten. Wenn in einem Prosatext durch falsche ,Etymologiebezüge‘ zweier Wörter disparate Ideen scheinbar logisch verbunden werden,132 so erinnert dies an die Sprache der Gedichte, in denen solche Form-Inhalt-Kurzschlüsse durch Paronomasie gerade ein Zeichen für die Poetizität der Sprache sind, in denen Assonanz, Alliteration und Wortstammähnlichkeit direkt inhaltliche Assoziationen hervorrufen. Vergleichbar mit der strukturalistischen Sprachanalyse ist die Art und Weise, wie Köhler auch außerhalb ihrer Gedichte den Worten nachgeht. Zuweilen wirkt die Sprachreflexion in den Prosatexten allerdings etwas forciert. In manchen Texten leuchtet ganz kurz eine poetologische Aussage auf, die vortrefflich auf die Gedichte passt, wie zum Beispiel: „die Subversion der Verse, daß sie versabilis werden, beweglich“.133 In anderen hingegen wird der Mechanismus der Vieldeutigkeit sprachspielerisch angewendet und zusätzlich erklärt.134 Wenn die Reflexion inszeniert und anschließend kommentiert wird oder wenn durch kursiv gesetzte Wörter und andere Hervorhebungen auf Verständlichkeit gepocht wird, hat dies eine didaktisierende Wirkung und fällt unter das Niveau der Gedichte zurück.
Explizit sprachreflexive Passagen in den Gedichten beziehen sich sowohl textintern auf die Aussagen im Gedicht als auch auf die anderen Gedichte Barbara Köhlers. Sie verknüpfen Poesie und Poetik und lesen sich wie theoretische Anmerkungen zu Köhlers Texten und deren gleichzeitige Exemplifizierung: Das Gedicht „Entpuppung“ etwa, aus dem oben zitiert wurde,135 enthält mehrere programmatische Stellen, wie „mir gefallen Wendungen / die verwandeln die EinRichtung zwischen / verrückten Wänden“ oder „Klangkörper beim Wort genommen“, die in der Tat auf die Gedichte selbst zutreffen. „Aufgabe“ zeigt ähnlich programmatische Aspekte. In diesem Gedicht wird explizit das Wort „Grammatik“ genannt, ein Wort, mit dem bisher alle möglichen sprachgebundenen Erscheinungen bezeichnet wurden. Es lässt sich bei Köhler auch nicht auf eine Begriffsbestimmung festlegen:136 Ihr Spiel mit Morphologie und Deklination verrät ein Interesse an der Sprachlehre im engeren Sinn. Dagegen zeigen die Subversion der syntaktischen „EinRichtung“, das Fehlen jeglicher Interpunktion und die „Grammatik einer Differenz“, wie sich die Texte, unter Beibehaltung gewisser Grenzen, mit System und Struktur, mit Grammatik im weiteren Sinne auseinandersetzen. Konstruiert wird eine „Grammatik“, die die Verankerung der Wörter löst, ihre Positionen verschiebt. Im Gedicht „Aufgabe“137 ist das Wort „Grammatik“ auch nur auf den ersten Blick auf seinen ,gewöhnlichen‘ Gebrauch begrenzt:
Die Ordnung der Sätze
Hat Zukunft: sie wird
Gewesen sein Üben Sie
Die Möglichkeiten der
Ersten Person Einzahl
Als wäre das nur eine
Frage der Grammatik &
Würde ein Konjunktiv.
Die Wörter schwanken zwischen ambigen textimmanenten Sprachbezügen und außertextlichem Sachbezug. „Würde“ ist tatsächlich ein „Konjunktiv“ und wird im Gedicht auch als Möglichkeitsform von , wird‘ benutzt. Daneben bezeichnet es die Würde: Der Leser wird aufgefordert, die Möglichkeiten des Ich als einer sich sprachlich entwerfenden Person durchzuspielen, als hinge die „Würde“ des Ich mit der Sprache zusammen – ob sie das nun tut, bestimmt der Text nicht: Der „Konjunktiv“ ist der Modus des Irrealen, des Möglichen wie des unerfüllbaren Wunsches. Das „Üben“ der Sprache soll also ernst genommen werden. Zugleich ist der Text ironisch. Die viel versprechende Grammatik“ (sie „Hat Zukunft“) erweist sich im Futur II („wird / Gewesen sein“) als nicht besonders langlebig. Auch in der „Aufgabe“, die der Titel bezeichnet, in der Hausaufgabe für den Sprachunterricht, steckt schon das enttäuschte ,Aufgeben‘ – eventuell weil die Übung nicht zu lösen ist. Die Aussageinstanz lädt zum Spielen mit Wörtern in ihrem grammatischen Umfeld ein und führt dieses mit den Wörtern des Gedichts schon vor. Dieses vermittelt verschiedene Botschaften die sie nicht in eine Aussage fassen lassen.
6. Zwei-Deutigkeit, ein Dominospiel
„Wortwelten, in denen das Entwederoder zum Sowohlalsauch wird so daß Gegensätzliches gleichzeitig vorhanden ist“; so charakterisiert Dorothea von Törne in einer Rezension die Gedichte, auf die das „Stilmittel des Films“ (die Überblendung, die ,Blue Box‘) angewendet wird.138 Auch Köhlers Bemerkung „ein zum Und gewendetes Oder“139 trifft ihr Prinzip der Mehrfachbezeichnung. Die Vieldeutigkeit der Wörter gründet in den Möglichkeiten, die für diese Wörter lexikalisch gegeben sind und realisiert sich durch die ständig wechselnden Beziehungen zu anderen Satzteilen. Die Polysemie wird explizit, und das Oszillieren zwischen mehreren Bezeichnungen betrifft Wörter, die schon im Lexikon mit unterschiedlichen Einträgen versehen sind oder denen im Text eine neue ,wörtliche‘ Bedeutung140 gegeben wird. So werden oft die verschiedenen Lesarten vorgegeben. Der Gedanke der Vieldeutigkeit in der Lyrik ist dabei im Grunde eine Evidenz, die noch zu betonen einer Tautologie gleichkommt. In „Stimmen“ spricht Barbara Köhler in einem anderen Zusammenhang vom „Abweichen von der EinDeutigkeit des Vektors“.141 Ihr Wort „EinDeutigkeit“ drückt sowohl ein Zeigen in eine Richtung (Vektor) als auch ein Meinen (Bedeutung, Deuten) aus. In diesem Sinne sind die Wörter in ihren Gedichten, auffällig etwa in „Ceci n’est pas un’homme“, mitunter sehr eindeutig zweideutig, zeigen sie deutlich, was alles gemeint ist. Eine große Aussagekraft entfalten Köhlers Techniken dagegen an all jenen Stellen, an denen sie auch thematisch begründet sind: an denen die Themen der Zweideutigkeit, der Mann-FrauDifferenz und der Frage nach Subjekt und Objekt sich in der Form des Sprachspiels spiegeln.142 In „Die Dominospieler“, dem letzten Gedicht in cor responde, wird auf besonders subtile Weise das Sprachspiel als notwendig mit der Aussage verschränkt vorgeführt. Beschrieben und zugleich sprachlich dargestellt wird in diesem längeren Gedicht das Spiel zweier Dominospieler. Als „ein spiel mit den augen ein spiel mit den händen“ ist das Dominospiel ein Bild für eine Beziehung ohne viel Erklärung. Es sprechen, wie im Gedicht die häufige Evozierung von Visuellem betont, die „augen“, der Blickkontakt, und die Korrespondenz der „augen“ auf den Steinen. Dominosteine haben wie Würfel „augen“ und sie haben zwei Seiten, an die ein passender Stein angelegt werden kann: ,,sechs neben eins zu eins neben nichts zu nichts“. Das Anlegen eines entsprechenden Steines ermöglicht wieder einen neuen Anschluss, der den weiteren Verlauf regelt.
[…] wer nichts hinzu / zufügen hat nimmt von einer hoffnung die bis zum / letzten stein nicht weniger wird eine antwort zu / finden ein zeichen ein gleiches eine wendung die / das gespräch fortsetzt in das ornament sich fügt / zum bild vielleicht das dann deutlich erscheinen/ würde mitten in der nacht in der kleinen bar mit/ den grünen tischen an einem zwei die nicht krieg / spielen nicht um herrschaft & macht dieses spiel / gewinnt wer alles geben kann […] die gesten die blicke die blicke die gesten kein/ wort aber ein anderes stilles vernehmen zwischen / zwei gebenden das muster ergibt eine ordnung der / zufälle nimmt wer gibt wahr verwirklicht sie zu / gleich verbindlich & offen sichtlich fortsetzbar/ auf beiden seiten ein hingegebenes als könnte es / ums ganze gehen bei einem dominospiel: ums leben
Das Spiel ist „verbindlich“: Es werden Steine verbunden und es gelten Regeln. Das Spiel findet an „grünen tischen“ statt. Sie haben die Farbe von Billard- und Tischfußball-Tischen, sie sind Spielfelder. Es sind nicht die grünen Beratungstische der Behörden; an ihnen hat ,Domino‘ auch nichts mit Dominieren, sondern mit „geben“ zu tun. Die Doppelverweise der Wörter, räumlich vor- und rückwärts sowie semantisch auf mehrere Bezeichnungen, setzt Köhler so ein, dass sie das Dominospiel gleichsam nachbilden. Zahlreich sind die Stellen, an denen wie im Spiel in zwei Richtungen gezeigt wird. Im ausgewählten Abschnitt etwa kann „das muster“ als letzter Teil der Wortfolge „zwischen zwei gebenden das muster“ oder aber als Beginn der Aussage „das muster ergibt eine ordung“ gelesen werden, wobei „eine ordnung“ ebenfalls eine zweite Lesart ermöglicht: „eine ordnung nimmt wer gibt wahr“. Nur ein einziges Satzzeichen unterbricht den Wortfluss; Wiederholungen, Parallelismen, Antonyme und Variationen fungieren als Assoziationsbrücken, die die Wortkette weiterführen. In der Anordnung der Steine wird ein Kunstwerk ohne Zweck geschaffen, ein „ornament“; zugleich wird das Spiel mit solchem Ernst betrieben, ,,als könnte es / ums ganze gehen“. Das Wort „könnte“ bezeichnet dabei mehr als eine unrealistische Hypothese, es geht um die hoffnungsvollen Möglichkeiten, Antworten, Zeichen, Wendungen zu finden, wie es in den ersten Zeilen des zitierten Abschnitts heißt. Gesucht wird im Vorrat der Sprache nach den Wörtern, die vor allem das lyrische Dominospiel fortsetzen. Denn obgleich von gelungener Kommunikation ohne Worte die Rede ist, sind es natürlich diese beziehungsreichen Wörter, die wie Dominosteine auf dem Raum der Seite stehen und eine Vielfalt von Konnotationen hervorrufen. Auch das Gedicht als Ganzes, das aus zwei quadratischen Schriftblöcken besteht, evoziert einen Dominostein. Mit diesem Gedicht, das also ein anschauliches Bild für Köhlers Umgang mit den Wörtern zeichnet, an die in mehrere Richtungen ,angelegt‘ werden kann, hat die Autorin ein treffendes Gleichnis für ihre eigene Lyrik geschaffen.
Indra Noël, in Indra Noël: Sprachreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005, Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2007
Mirjam Bitter: Woran arbeiten Sie gerade?
Barbara Köhler: Im Moment eigentlich nur Sachen-erledigen. Ich hoffe immer, dass ich irgendwie dieses Jahr wieder Zeit finde… – Sie kennen die Odyssee-Texte?
Bitter: Ja.
Köhler: Also mehr oder weniger gehe ich jetzt langsam ins zehnte Jahr mit dem Projekt und muss endlich mal wieder zu Potte kommen. Ich möchte es gerne innerhalb der nächsten Jahre veröffentlichen.
Bitter: Haben Sie da dazu noch mehr Texte geschrieben oder die alten überarbeitet?
Köhler: Ich habe noch mehr geschrieben. Das soll schon ein komplettes Buch werden. Ich hab jetzt im Frühjahr zusammen mit einer schweizer Videokünstlerin dafür eine Performancevariante erarbeitet, acht Texte mit Video. Das ist total schön geworden. Im April war ich in Trondheim zu einem Festival und danach auf den Lofoten, da habe ich zum ersten Mal die volle Performance gemacht und das war ziemlich fantastisch.
Bitter: Im Vorwort zu den schon veröffentlichten „Gesängen zur Odyssee“ stand ja, dass schriftlich gar nicht die Form wäre, die Sie bevorzugen würden. Es ist auch immer noch die Überlegung: Wie kann man es dann letztendlich präsentieren? Als nur-Buch, denk ich, geht’s nicht. Es ist eher wie eine Partitur, eigentlich.
Köhler: Im Moment versuche ich bei Suhrkamp immer schon mal zu sagen: „Das nächste Buch machen wir dann mit DVD“, mal gucken (lacht).
Bitter: Kam da schon eine Reaktion?
Köhler: Naja, mal gucken. Also, sie wissen es jetzt und ich sage es auch immer wieder, dass da niemand kommt und sagt, wir haben das alles nicht gewusst (lacht). Ich würde auch gerne an dem Video weiter mitarbeiten. Es gibt jetzt erstmal diese halbstündige Variante. Die DVD soll aber umfänglicher werden. Vor allen Dingen aber habe ich einen Haufen angefangener Texte, die endlich mal zuende gebracht werden müssen. Das Problem damit ist: Es ist ein relativ monströser Stoff. Ich brauche überhaupt nicht ranzugehen, wenn ich nicht einen Zeithorizont von mindestens zwei Monaten habe; bei allem, was kürzer ist, fange ich noch einen neuen Text an und komme wieder nicht zu Rande damit. Ich habe voriges Jahr zwei, drei Texte teils fertig gemacht, teils komplett neu erfunden, auch ganz neu angefangen… Also es passiert schon, aber es geht eben nur in einem weiten Zeitraum. Anders ist es nicht zu machen, so zwischendurch, ich kann’s einfach nicht.
Bitter: Schreiben Sie mehrere Fassungen oder schreiben sie einen Anfang und dann weiter? Oft hat man ja das Gefühl, dass da jeder Punkt, jedes Wort sitzt. Ist das erst größer und wird verdichtet oder…?
Köhler: Es ist ja diese abstruse Form, also diese ausgezählten Blöcke, eigentlich aus der Schreibmaschine kommend. Es ist eine nichtproportionale Schrift, also eine Entscheidung für eine maschinelle Form und damit die Organisation von Widerstand. Und damit geht es eigentlich nur am Stück. Das ist auch das Problem, Texte dann wieder aufzunehmen. Wenn man eine halbe Seite fertig hat, dann einen Monat Pause zu machen und dann wieder ranzugehen, ist extrem schwierig. Es ist wirklich ein Textfluss. Der geht vom ersten bis zum letzten Wort durch und strukturiert sich auch darüber. Er hat diese ganz merkwürdig schleifenden Rhythmen, das ist ja nichts gezähltes. Obwohl – sie sind auch sehr unterschiedlich: Es gibt auch springende Texte, mit sehr hüpfendem Rhythmus, andere sind legato. Es ist in sich eine seltsame Architektur.
Bitter: Haben Sie sich selbst jetzt einen Zeithorizont gesetzt oder setzt der Verlag einen?
Köhler: An sich nicht, aber meine Lektorin hat es jetzt schon mal angemeldet für nächstes Jahr. Was ich nicht schlecht finde. Absagen oder schieben kann man ja immer. Aber ich habe jetzt erstmal auch ein bisschen mehr Druck. Ich möchte es aber auch vom Tisch haben, irgendwann. Ich habe das in den letzten Jahren gemerkt, es bekommt sowas Übermächtiges, wo man dann wirklich droht, darunter zusammenzubrechen… wo man immer so schön dazu neigt, sich selber fertig zu machen. Also das muss jetzt endlich mal passieren.
Bitter: Ich fand die Texte sehr spannend. Ich habe darin gelesen, dass die Frauen aus der Odyssee erstens im Mittelpunkt stehen und zweitens nicht nur Opfer-Status haben. Das eine Kirke-Gedicht endet z.B. mit den Männern im Dreck und gar nicht damit, dass Kirke am Ende doch von Odysseus irgendwie rumgekriegt wird. Das kam dann aber in einem anderen Gedicht vor.
Köhler: Das fand ich spannend, beide Perspektiven zu sehen, sowohl Opfer als auch Täterin sein. Das sind ja auch bei Homer schon ziemlich starke Gestalten, die Frauen. Spannend ist ja, wie sie erzählt werden und wie sie auch im Laufe der Geschichte weitererzählt worden sind. Wo dann nochmal eine Schrägung reinkommt, wenn man sagt, also jetzt nehme ich mal den Blick. Wie dann auch erzählen verfertigt wird darüber, das ist ja eine der grundsätzlichen Erzählungen fürs Abendland und es ist ja tatsächlich die Geschichte, – also es sind zwei gegenläufige Geschichten, aber wenn man erstmal sagt die Geschichte von Odysseus – die ist ja ein Passieren von Stationen und die Stationen sind meistens Frauen. Es funktioniert eigentlich wie ein Gewebe, es ist ein beweglicher Faden, der durch andere, die eher fest sind, durchgefädelt wird und so entsteht die Textur. Und die sind dann auch funktional sehr genau gesetzt. Es gibt auch Stellen, wo die andere Textur erzählt wird. Also, wenn man sich beispielsweise den Hades anguckt…, oder nimm einfach nur Kirke und eine der berühmtesten Listen von Odysseus. Es wird ja immer erzählt, die Sache mit den Sirenen ist ihm eingefallen. Homer erzählt eigentlich, dass Kirke ihm sagt: „Du kannst da vorbeifahren, aber lass dich an den Mast binden und stopf deinen Kumpels die Ohren zu.“ Also sie sagt ihm, was er machen soll, aber weitererzählt wird das als seine List. Auch diese Differenz zwischen dem, was im Originaltext steht, und dem, was man erzählt bekommt…
Bitter: Können Sie Griechisch, also können Sie den Originaltext lesen?
Köhler: Also, ich hab’s mir jetzt soweit draufgedrückt, dass ich mit Wörterbuch arbeiten kann, dass ich es für mich lesen und Wörter nachschlagen kann, denn das ist wirklich wichtig. Ich habe am Anfang mit vier unterschiedlichen Übersetzungen gearbeitet und dann irgendwann gemerkt, dass geht nicht, du musst dran an den Originaltext. Das hat mit Unübersetzbarkeiten zu tun, mit Wörtern, die so eingewoben sind. Es gibt viele sprechende Namen. Also Kalypso z.B., das ist die Verschleierte, der Schleier eigentlich. Es gibt auch kalypsein als Verb und das kommt auch im Ino Leukothea-Kontext und bei Kirke, glaub ich, vor. Wie also bestimmte Wörter immer wieder als Signale auftauchen, das kriegt man anhand von Übersetzungen überhaupt nicht mit, oder kaum, da muss man schon großes Glück haben. So Sachen aufgefallen sind mir dann immer eher mit der Nase: Was steht im Original an dieser Stelle für ein Wort? Das klingt seltsam. Dann nochmal zu gucken, ja was ist es denn für ein Wort. Da sind im Originaltext nochmal Deutungsmöglichkeiten drin, die in der Überlieferung abgesunken und überschrieben worden sind.
Bitter: Sie haben ja auch selbst übersetzt, also nicht aus dem Griechischen, aber aus dem Ungarischen, habe ich gelesen. Stimmt das? Oder übertragen…
Köhler: Also, das war so halb-halb, Ungarisch habe ich sogar mal ein bisschen gelernt (lacht). Das war auch was Grundsätzliches…
Bitter: Wie sind Sie dazu gekommen, zum Übersetzen?
Köhler: Das war reiner Zufall… Ich habe 1987 mal eine Einladung bekommen für ein Übersetzercamp in Ungarn. Es wurden Übersetzer, Autorinnen und Autoren aus aller Welt eingeladen, um das Ungarische international zu befördern. Ich konnte zwar kein Wort ungarisch, aber ich dachte, da fahr ich mal hin. Ich habe dann stehenden Fußes angefangen, Ungarisch zu lernen.
Bitter: Das ist ja nicht gerade die einfachste Sprache…
Köhler: Ja, drum (lacht). Das war eine Art Initiation, weil es wirklich eine Sprache ist, die komplett anders als alle anderen europäischen funktioniert, mal vom Finnischen abgesehen, obwohl die grammatisch auch unterschiedlich sind. Wo man über dieses völlige Befremden auf einmal auch aus dem Eigenen weit raus kommt und so einen schrägen Blick kriegt, wie Sachen funktionieren. Also z.B. gibt es im Ungarischen eigentlich kein Genus, also es gibt nur eine dritte Person Singular…
Bitter: Genau das wollte ich auch fragen, ob Sie das beeinflusst hat. Ich habe eine ungarische Freundin, die mir das erzählt hat. Finden Sie das einen Vorteil, dass man das nicht immer gleich mitsagen muss, oder ist das Problem, dass dann diese eine Form prototypisch maskulin besetzt ist?
Köhler: Ich denke, es ist wirklich die Differenz. Also, man kann was damit machen. Es ist eine Sprache, die anders funktioniert, und wie gesagt, man realisiert darüber sehr viel über die eigene. Auch im Deutschen ist es natürlich immer eine Frage des Gebrauchs. Auch im Ungarischen. Also ich habe dann mal was von Zsuzsa Rakovszky übersetzt. Da gab es z.B. einen Text, wo ich dachte: Geht eigentlich nicht, also da musst du dir derartig echt was einfallen lassen. Ein Monolog einer ersten Person über eine dritte, die irgendwie Partnerin oder Partner war, und es stellte sich nicht wirklich raus. Es gab nur zwei Stellen, wo mal von einem Kleid die Rede war, oder irgendwie eine andere Stelle, wo man hätte…, aber auch nicht hundert pro. Davon gab es auch schon eine Übersetzung von einem Profi und der hatte natürlich: Frau sitzt zuhause, wartet auf den Mann und der kommt wieder nicht. Plot. Das ganze Ding funktionierte aber genau anders herum. Und im Ungarischen funktioniert das noch raffinierter, weil es so eine schleichende Verunsicherung ist. Man denkt natürlich am Anfang: Okay, sie sitzt zuhause und er kommt nicht…
Bitter: Weil es eine weibliche Autorin ist und man das erzählende Ich mit dieser verbindet?
Köhler: Ja, und es sind auch die klassischen Rollen, einer sitzt zu Hause, der andere treibt sich draußen rum, wer wird’s wohl sein? Sie macht das wirklich ganz subtil, dass man immer mehr ins Zweifeln kommt: Ist es nun er oder sie? Und es wird im Ungarischen eigentlich nur an zwei Stellen explizit gemacht. Da habe ich gedacht, da musst du im Deutschen eindeutig werden. Ich habe das auch mit der Autorin abgesprochen und habe die Übersetzung zu einer Lesung in Budapest vorgetragen und da waren Übersetzerkollegen, die waren richtig wütend: Das geht nicht, das stimmt nicht, das kannste nicht machen! (lacht)
Bitter: Wie, aber einfach mit ,er‘ übersetzen kann man machen, oder was?
Köhler: Ja, in deren Augen schon. Sowas sind dann halt so verblüffende Sachen. Es ist ja immer so, dass solche Geschichten gar nicht fraglich sind. Da ist der Sprachbestand und da denkt man eigentlich nicht drüber nach. Man(n) denkt da nicht drüber nach.
Bitter: In Ihrem Text „Zwischen den Bildern. Grammatik einer Differenz“ klingt es ja eher nach der Forderung, dass es mehr Differenzierungsmöglichkeiten in der Sprache geben müsste, aber wahrscheinlich weil die eine so männlich besetzt ist, oder? Also eher das Anliegen, dass man das Weibliche besser ausdrücken können müsste in der deutschen Sprache, und gar nicht so der Wunsch nach einem Neutralen, was dann für beide gilt…
Köhler: Nein, also ich denke schon, dass es mehr darum geht, auch wirklich Möglichkeiten zu eröffnen, also grammatische Weiblichkeit als Präsenz herzustellen und damit auch ein Denken zu verändern. Gar nicht mal so massiv, wie das so in den frühen Achtzigern die feministische Schiene war, dass dann eben frau denkt und nicht man, oder so, sondern dass das wirklich kreative Möglichkeiten gibt. Und endlich mal damit zu einer Selbstverständlichkeit und einem Selbstverständnis zu kommen. Nicht permanent mit dem Daumen bohren, sondern dass es auch wirklich einen Witz haben kann und dass so ein bisschen die Ideologie und dieses Gegenüber raus geht. Und das ist eigentlich nur ein Plus an Möglichkeiten. Ich versuche es immer auch als Praxis so selbstverständlich wie möglich zu machen, auch auf längere Sicht. Z.B. mache ich so eine Reihe mit Lesungen und da versuche ich, überhaupt nicht zu diskutieren, sondern einfach eine 50er Quote zu machen. Auch nicht extra zu sagen: Wir haben jetzt hier fünf Autorinnen und Autoren oder so, sondern selbstverständlich. Es ist das Selbstverständlichste der Welt, dass 50 Prozent der Menschen Frauen sind. Und damit sollte man ganz selbstverständlich umgehen.
Bitter: Differenz taucht bei Ihnen meistens im Singular auf. Einerseits ist die Differenz zwischen Männern und Frauen total bestimmend in unserer Gesellschaft, trotzdem hätte ich manchmal wahrscheinlich eher von Differenzen, also im Plural, gesprochen. Denn manchmal denke ich, der Unterschied zwischen mir und meinem Freund ist eigentlich geringer, als der Unterschied zwischen mir und meiner Oma oder so. Also, dass Altersunterschiede oder auch soziale Unterschiede manchmal größer sind, als der Geschlechtsunterschied und es somit realer wäre von Differenzen zu sprechen.
Köhler: (zögernd) Jjjja, wobei ich denke…, also was mich dran interessiert ist eher was Paradigmatisches dran. Also: Wie funktioniert Differenz? Es gibt Differenzen, aber was ist das Wesentliche an Differenz. Jetzt gar nicht mal als eine Geschlechterpolarisierung, aber das spannende an der Sache ist eben, dass es sprachlich manifest ist. Die Differenz zwischen Ihnen und Ihrer Oma, die ist sprachlich ganz anders, es ist nicht strukturell, also grammatisch manifest. Man kommt an die Struktur ran, wie das funktioniert und das finde ich das Spannende. Und da kommt man dann auch irgendwann von der Geschlechterdifferenz weg zu anderen hin und sieht, dass die im Grunde genommen eine ähnliche Matrix haben.
Bitter: In Cor responde kam es mir manchmal so vor, dass es da auch um andere Differenzen geht, also dass diese Art, Differenz zu denken, auch auf andere Zusammenhänge als nur die Geschlechter übertragen wird.
Köhler: Das ist wirklich so, dass diese Geschlechterdifferenz immer wieder eine sehr frappante ist, weil sie so offensichtlich ist.
Bitter: Aber gehen Sie davon aus, dass es außerhalb der Sprache diese Differenz schon irgendwo gibt, oder ist sie nicht kulturell und sprachlich auch erzeugt, gerade weil sie so strukturell präsent ist in der Sprache?
Köhler: Ah, das ist jetzt die ganz heikle Nummer (lacht). Ich denke es hat wirklich so ein Sowohl-als-auch. Also, dass sich Dinge gegenseitig bedingen, dass über sprachliche Strukturen… – also, ich bin auch kein Chomsky-Fan, generative Grammatik ist, naja gut… – Also, dass sprachliche Strukturen gesellschaftliches Verhalten genauso abbilden wie beeinflussen. Es ist schon ein hin und her, und die Geschlechterrollenverteilung ist ja eigentlich auch eine ganz bewegliche Angelegenheit. Wenn man da Täter-Opfer-Geschichten aufmacht, kommt man nicht weit. Vor allen Dingen lässt sich dann nichts mehr bewegen. Differenz ist ja im Grunde genommen das große Movens. Wenn es keine Unterschiede gäbe, würde sich nichts bewegen.
Haben Sie die Stein gelesen?
Bitter: Mit ihrer Übersetzung? Ja, genial!
Köhler: Also, die sagt ja auch ganz viel über Differenz. Da war ich dann so glücklich mit diesem: „the difference is spreading“. Also, dieses Ausbreiten, auch wie sie’s betreibt dann.
Bitter: Es war für mich erstmal nichts, was man einfach runterlesen kann, aber es hat mich wirklich beeindruckt.
Köhler: Ich hab’s ja auch nicht runtergeschrieben.
Bitter: Ich fand auch schön, Ihr Nachwort zu lesen, oder Ihre ,eigenen Worte‘ dazu. Da steht irgendwo drin, dass man diese Texte laut lesen muss, und das war, was ich wirklich gemacht hatte. Ich hatte in meinem Sessel gesessen und mir das laut vorgelesen und hinterher las ich den Text und dachte: „Ach wie schön, das geht nicht nur mir so.“ Also, es war wirklich wie Musik, sehr schön…
Apropos Musik, in vielen Texten kommt auch Tanz vor. Haben Sie eine persönliche Beziehung zum Tanz oder ist das einfach nur ein Bild für Bewegung?
Köhler: Ja, also, es ist auch ein Bild für eine Form von Bewegung, die eine rhythmisierte ist und möglicherweise eine harmonische und eine bezogene. Also, diese Tango-Geschichte halt. Es ist was anderes als Alltag, als Alltagsbewegung. Es ist immer, sagen wir mal so, die schönere Möglichkeit von Bewegung. Es hat was mit dem Potential von Kunst zu tun, dass es was in sich Perfektes sein kann. Oder was man bei diesen ganzen asiatischen – ich hätte beinahe ,Sportarten‘ gesagt (lacht) – Geschichten hat, denen liegt ja auch eine ganz tänzerische Idee zugrunde. Also, dass es eine Leichtigkeit hat, dass man auch mit einer Bewegung, also in einer Melodie, in einem Rhythmus drin sein kann. Naja, ,perfekt‘ ist auch wieder eigentlich blöd.
Bitter: Es hat ja auch was Körperliches, und der Körper ist nicht perfekt…
Köhler: Ja. Also, eine Ahnung vielleicht von Perfektion. Ich habe mal eine Zeitlang Aikido gemacht, deshalb komm ich drauf. Und da habe ich dann auch relativ schnell einen Knochen gebrochen (lacht). Aber das hatte dann den Vorteil, dass ich mal Abstand hatte. Und das war total spannend, weil ich da Sachen gesehen habe, für die hätte ich lange gebraucht, um sie sonst zu sehen.
Bitter: Das heißt, Sie haben dann zugeguckt, wie die anderen Aikido machen?
Köhler: Da hatte ich noch einen Verband drum und es war noch gar nicht dran zu denken, irgendwas zu tun. Und da war irgendwie der große Sensei aus Japan da, und ich dachte: Naja, gehste wenigstens hin und guckst Dir das an. Und der Raum war voll mit zwanzig, dreißig Leuten, die das teilweise schon jahrzehntelang machten. Wo man dachte, die haben schon eine gewisse Meisterschaft für sich, in europäischen Verhältnissen. Und die Übungen bauen sich… Also, das ist ja auch das Tolle, dass es eine völlig auf einander bezogene Angelegenheit ist. Aikido kann man nur zu zweit machen, nicht wie bei Tai Chi schöne Bewegungen vor sich hin machen oder so. Sondern es ist immer eine Kampfsimulation, aber es ist auch nicht wie Judo oder Taek Wan Do. Es ist auch nicht dazu da, dass man es dann auf der Straße ausprobieren kann, an fremden Menschen. Also, es ist mehr eine Art Ritus. Und die Bewegungen, die man auch alle immer mit beiden Seiten können muss, das ist nicht so rechts- oder linksgewichtig, werden aus einzelnen Abläufen zusammengesetzt, um dann wirklich auch etwas Tänzerisches zu ergeben. Und der Sensei macht einen kleinen Ablauf vor, und dann machten das alle nach. Ich habe meinen Augen nicht getraut. Obwohl die Leute das alle schon viele Jahre machten, sah es am Anfang wirklich unbeholfen aus, so richtig eckige Bewegungen. Und dann ging das so nach und nach. Durch Wiederholen, Wiederholen, Wiederholen sah man richtig – und das hätte ich nicht gesehen, wenn ich mit meinem eigenen Zeug beschäftigt gewesen wäre –, wie die Bewegungen sich wirklich ereigneten. Also, wie das eigene Bewegungen wurden, die teilweise mit dem, was der Sensei gemacht hatte, nur noch sehr vermittelt zu tun hatten. Aber in diesem persönlichen Bewegungsablauf und in dem ganzen der Person stimmten sie dann. Die waren ganz unterschiedlich, ganz different, aber gingen von einer Vorgabe aus und wurden dann eigen. Und das war total faszinierend zu sehen, und auch der Sensei sagte: Genau darum geht’s. Es geht nicht darum die Sache einfach nachzumachen, ich mache auch nicht die perfekte Bewegung, ich mache meine Bewegung und jeder und jede muss die eigene finden…
Bitter: Ich mache Flamenco; was ja etwas ganz anderes ist und auch hauptsächlich ein Solotanz. Aber trotzdem ist es da ähnlich. Also erst lerne ich, was die Lehrerin mir beibringt, und irgendwann ist dann dieser Schritt, wo ich auch selber merke: So jetzt ist die Musik in mir und das ist meine Bewegung. Meine Lehrerin hat vorher auch Ballett gemacht und sagt, da wird man so geformt und das Schöne am Flamenco ist eben: der Körper, der da ist, der tanzt auch mit seinen Stärken und Schwächen. Wenn jetzt eine nicht so weit runterkommt, dann macht sie eben eine andere Drehung, bei der man nicht runtergeht. Es ist wirklich etwas, was nicht den Körper formt, sondern der Körper formt den Tanz. Und trotzdem ist man dann durch die Musik schön, weil die Musik in einem drin ist. Deshalb fand ich dieses Tanzbild in Ihren Texten immer sehr ansprechend.
Köhler: Also, Tanz ist was, da ist der ganze Körper beteiligt. Es hat absolut nichts mit Wörtern zu tun, aber man kann Wörter zum tanzen bringen, das ist auch immer mein großer Ehrgeiz. Wirklich, dass da was passiert.
Bitter: Auch der Kopf ist voll dabei, also zumindest beim Flamenco, weil man ja auch wirklich schwierige Fußteile hat, und trotzdem ist das so eine andere Form von Konzentration, die mich auch entspannt.
Köhler: Da denk ich manchmal ist dieses europäische Denken relativ weit weg davon. Oder es kommt eben im Tanz. Ich merke das immer wieder. Was für mich auch immer wieder so ganz große Momente waren, waren Stücke, die ich bei Pina Bausch gesehen habe, Wuppertaler Tanztheater. Unglaublich schön. Ich bin einmal da gewesen, bei Nelken, und da saßen neben mir links und rechts zwei ältere Männer, so mit Schlips und distinguiert und so. Die heulten am Schluss und sie waren glücklich dabei, das war unglaublich. Bei Bausch ist das etwas sehr Gemischtes, da sind auch immer Schauspieler dabei, also das sind nicht Tänzer, die mit 30 in Rente gehen. Sie hat auch richtig alte Tänzer. Es ist eine total internationale Kompanie. Nelken fängt z.B. an mit Gebärdensprache; wenn dann ein Lied erklingt merkt man erst, dass es genau der Liedtext ist, den die Gebärden darstellen.
Bitter: Sie haben vorhin gesagt, dass Tanz auch deswegen interessant ist, weil keine Sprache auftaucht dabei. Andererseits spielt ja Sprache eine ganz große Rolle in Ihren Texten. Und für Sie wahrscheinlich auch, oder?
Köhler: Ja, es sind für mich eigentlich immer wieder so Sachen, die für mich dann wirklich immer wieder Sprache herausfordern, die sie selber nicht brauchen. Wo ich also keine Notwendigkeit habe zu beschreiben, sondern etwas daneben zu stellen, was vielleicht ähnlich in sich funktioniert. Und ich denke einfach, es gibt Sachen, gerade in bildender Kunst, Geschichten, die in ihrem Medium so perfekt funktionieren, dass jede Beschreibung eigentlich scheitern muss. Oder was mich bei meinem Lieblingsfotographen von Anfang an fasziniert hat, dass die Bilder… – man steht davor oder hat sie im Buch oder so – und sie produzieren Stille. Es gibt dem Bild nichts hinzuzufügen. Jedes Wort ist zuviel. Sie generieren aber etwas. In Wittgensteins Nichte, dieser Wiedergabe-Text, der ist für ein Foto. Aber die Vorstellung war nicht die Beschreibung des Fotos, sondern die Rückseite des Fotos. Also, dass man nicht beides gleichzeitig hat, sehen kann.
Bitter: D.h. einerseits sind Sie skeptisch, was die Beschreibungsmöglichkeiten der Sprache betrifft, andererseits haben Sie sehr viel Vertrauen darauf, dass die Sprache auf andere Weise Dinge darstellen kann.
Köhler: Ja, dass man nicht ständig andere Sachen beschreibt oder versucht, anderer Sachen Herr zu werden, die es gar nicht brauchen oder die genau dadurch aufgewertet werden. Also diese Aufwertung, die kommt mir immer komisch vor: Wenn man nur lange genug über eine Sache redet, wird sie schon toll. Ich mag lieber, dass Sprache auch für sich stehen kann, ohne dass sie jetzt nur rein selbstbezüglich ist. Also, dass Bezüge zu Welt möglich sind, würde ich nie ausschließen. Aber dass sie wirklich für sich stehen kann und nicht den Verweis unbedingt braucht. Und dass das Ding, auf das sie verweist, nicht existieren kann. Naja, und deshalb mag ich auch die Bilder…
Bitter: Hat sich das gewandelt, Ihr Verhältnis zur Sprache von Ihren ersten Texten bis heute?
Köhler: Ja, sehr, denke ich inzwischen. Am Anfang hatte ich wirklich immer noch so einen mittleren Gefühlsstau und der musste raus: ausdrücken. Das war dann ein Wort, womit ich angefangen habe: „Ich bin kein Schwamm, ich will nichts ausdrücken.“ Sprache ist auch kein Schwamm. Andererseits war es eben auch wirklich – jetzt habe ich ein paarmal zuviel wirklich gesagt, komischerweise – ein Moment, … also ich habe auch noch relativ deutliche Erinnerungen an den ersten sozusagen ,richtigen‘ Text. Ich weiß nicht mehr, welcher es war, einer von den Elektratexten, wo das passierte. Ich hatte das Gefühl, der ist relativ fertig, aber an der Stelle fehlt noch ein Wort mit ,a‘. Ich war so konsterniert, weil das so von allen Ausdruckserwägungen wegging, also nicht mal was Formales. Auf einmal entdeckte sich soetwas wie Rhythmus, wie Klangbild und damit fingen diese Sachen an, wichtiger zu werden. Ich denke, es ist immer ein Ponderieren, mal das, mal das. Also, das sind auch die Texte, die ich am liebsten lese, die teilen auf der Klangebene was mit, aber semantisch auch. Wo die Stein da wirklich so eine Radikalkur war, muss ich sagen. Wirklich auf etwas zu stoßen, was sich der Semantik einfach sträubt. ,Machen wir nicht, haben wir nicht‘ (lacht). Und wenn, dann höchstens als Veralberung. Aber sie ist natürlich darin total radikal. Also, es hilft einem auch nichts, da Bedeutung unterzujubeln. Damit geht man richtig pleite. Es war teilweise so eine absurde Arbeit. Also, immer zwischendurch fand ich es total klasse und dann dachte ich zwischendurch: 0 nein, das kannst du doch nicht. Das ist doch wirklich Panne, irgendwie. Das ist nicht zu machen. Wahrscheinlich ist da irgendwie doch irgendein Schlüssel drunter, den ich nicht kapiere und irgendwann kommt dann einer und sagt: Ha, so ist das nämlich.
Bitter: Haben Sie sich da vorher andere Übersetzungen angeguckt?
Köhler: Ja, es gibt ja von Suhrkamp diese zweisprachige Ausgabe, die Stiebel-Übersetzung. Das war auch ein Ausgangspunkt, weil ich gedacht habe: Nee, das ist es nicht. Jetzt gar nicht mal von der Qualität her oder so, aber ich habe das nicht mundlich gekriegt. Es war merkwürdig, ich hatte den Eindruck, das ist so ein Versuch einer Interlinearübersetzung, aber das kann man eigentlich nicht. Man kann das nicht wirklich übersetzen, weil die Wörter auch schweben und differieren. Sie hat ja so eine Lust an Tricks, dass man nie genau weiß, ist das jetzt ein Verb, ist das ein Substantiv, ist das ein Abstraktum. Und entweder man übersetzt es im Deutschen eindeutig oder man lässt sich wirklich was einfallen, bis es anfängt zu schweben.
Bitter: Ja, das fand ich sehr gut gelöst. Entweder haben Sie oft genau das übersetzt, was man nicht erwartet. Schon beim Titel, da hätte ich wahrscheinlich auch zuerst an „Zarte Knöpfe“ gedacht, wie ja die alte Übersetzung heißt. Und das dann als Verb zu übersetzen, also beweglicher und dann nicht ,Zart knöpft‘, sondern weiblich oder Plural… Das fand ich total spannend. Oder Sie haben manchmal das selbe Wort mit verschiedenen Übersetzungen wiedergeben… beeindruckend.
Köhler: Anders geht’s nicht. Also, natürlich geht’s immer anders, aber das, was man erwartet, ist relativ einfach zu übersetzen. Obwohl ich eigentlich denke: Ich möchte schon so getreu wie möglich übersetzen. Aber manchmal ist getreu eben auch heftig daneben. Zumindest neben den Erwartungen, sagen wir mal. Der Titel, der kam erst ganz zuletzt. Da habe ich mich so riesig drüber gefreut, weil ich wusste, es muss ein anderer Titel sein. Das geht nicht „Zarte Knöpfe“, also das ist rhythmisch völlig gegen das Buch. Und dann wirklich nur mit einem Buchstaben Unterschied, das ganze Ding zu kippen (schnippst). Das war klasse!
Und ich hab’s jetzt wirklich nochmal gemacht, jetzt im Sommer kommt ein Beckett.
Bitter: Echt? Wow…
Köhler: Aber auch eine Nochmal-Übersetzung. Das lief auch teilweise parallel. Ich habe vorhin bei ,was arbeiten Sie gerade‘ nichts dazu gesagt, weil der seit voriger Woche in Druck ist. Das letzte Häkchen unter die zweite Korrektur zu machen, … da kann man kein Komma mehr ändern, grauenhaft! Da gab’s eben auch bei Suhrkamp eine zweisprachige Ausgabe, die hat mir mal jemand geschenkt, und die war auch irgendwie ein bisschen unglücklich. Also eine Interlinearübersetzung von Tophoven, der sozusagen der autorisierte Beckett-Übersetzer fürs Deutsche war, und Nachdichtungen von Karl Krolow. Was Seltsameres kann man sich… na gut, die Dinger sind gemeingefährlich gereimt, aber der Krolow hat dann so Behäbigkeiten draus gemacht… Da dachte ich: Ich kann zwar kein Französisch, aber das kann ich besser (lacht).
Bitter: D.h. Sie haben wieder mit der schon vorhandenen Übersetzung und Wörterbuch einen neuen Text gemacht?
Köhler: Ja, aber diesmal ohne Nachwort. Da ist der Originaltitel „Mirlitonnades“. Die deutsche erste Übersetzung heißt „Flötentöne“, nun ist aber mirliton,… naja, es gibt auch Flöten, die als solches funktionieren, aber an sich ist so Papier auf Kamm das einfachste mirliton, also eher Jahrmarktströten. Es gibt eine Membran und die verändert die Stimme. Flötentöne fand ich auch deshalb einen total grausigen Titel, weil ,jemandem die Flötentöne beibringen‘ immer was mit Disziplinierung zu tun hat, und das hat der Beckett nun weiß Gott nicht. Und das hatte mit diesen Jahrmarktströten auch irgendwie was Schräges und Schrilles und vers de mirliton sind dann sowas wir Knittelverse, also schlichte, eher schlechte Verse auf Französisch. Und es endete dann: „Trötentöne“ (lacht), auch nur zwei Buchstaben, Minimalmaßnahme. Aber das sind so Sachen, das ahnt überhaupt niemand, was da an Arbeit drin steckt unter Umständen. Ein Wort solange belagern, bis es sich ergibt.
Bitter: Wie lange haben Sie dann für diese Übersetzung gebraucht?
Köhler: Könnte ich jetzt nicht sagen. Das war mit großen Unterbrechungen, während bei der Stein, auch mit Unterbrechung, aber alles in allem waren es vier Jahre. Also, auch mit länger nichts gemacht, aber schon eher langsam.
Bitter: Also, das kommt mir gar nicht so lange vor. Ich habe immer nur aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt und auch nur für die Uni relativ einfache Texte, aber wenn man wirklich zufrieden sein will mit seinem Text, sitzt man, also sitze ich da auch eine ganze Weile und das ist ja keine Lyrik…
Köhler: Italienisch, das könnte ich auch gerne. Das ist auch eine extrem gestische Sprache. Das könnte ich auch gut leiden. Waren Sie auch länger da?
Bitter: Ich habe ein Jahr in Venedig studiert und ansonsten habe ich mittlerweile ein paar italienische Freundinnen und fahre die ab und zu besuchen. Die Sprache finde ich einfach schön, weil es fast wie singen ist.
Köhler: Vielleicht sollte ich doch nochmal… Das ist einer von den Schwänken: Noch ganz tief in der DDR so ’83/’84 habe ich mal versucht, Italienisch zu lernen. Und es gab ein Lehrbuch, Italienisch für Reisekader sozusagen. Und da hieß es soundso kommt in die Textilfabrik von sowieso und spricht mit dem Gewerkschaftsfunktionär (lacht), und das war das einzig mögliche Buch. Gut, ich hatte dann auch noch antiquarisch irgendwas gekriegt. Und es gab an einem Zeitungskiosk in Karl-Marx-Stadt einmal die Woche eine „Unità“. Ich muss immer erstmal Ausspracheregeln draufdrücken und dann versuchen laut zu schwätzen, irgendwie erstmal Sprechbewegungen machen. Und daran ist es dann gescheitert, weil ich nicht gleichzeitig lesen und die Zeitung festhalten konnte, weil ich ja die Hände dazu brauchte (lacht).
Bitter: Das war auch bei mir schön. Englisch habe ich ja in der Schule gelernt und zwar fast nur schreiben. Also, wir haben kaum gesprochen und erst, als ich sechs Monate in Israel war, da musste ich englisch sprechen und dann ging das auch ganz gut. Und beim Italienischen war es wirklich so, dass ich von Anfang an gleich viel mehr gesprochen habe. Das war echt spannend, wie ich auf verschiedene Sprachen verschieden reagiere.
Köhler: Ja, also das ist fantastisch. Ich denke, es ist wirklich möglich, in unterschiedlichen Sprachen unterschiedliche Dinge zu denken. Ich habe mich neulich in einem unendlichen Leichtsinn dazu hinreißen lassen, für Trondheim eben auch noch,… Es war erstmal so: Der eine von den Veranstaltern, der hat die Schwiegermutter in Duisburg und irgendwann saßen die beiden, also die Frau und er, hier bei mir am Küchentisch und sie arbeitet an der Uni in Trondheim und sagte dann: „Wär doch toll, wenn wir was machen würden, ja kannst du nicht einen Vortrag auf Englisch machen?“ – „Ja, warum nicht“ (lacht). Noch nie gemacht, völlig bescheuert. Ich meine, das war dann unter wirklich ganz verschärften Bedingungen, weil ich nicht zwei Sachen gleichzeitig machen kann. Also, ich bin absolut nicht multitasking-fähig. Ich kann nicht an zwei Texten gleichzeitig arbeiten. Ich hatte Anfang April eine Rede, und die musste am ersten April fertig sein, aber ich glaube, am achten war schon Trondheim. Zwischendurch war ich noch in Südtirol, und dann musste ich noch nach Linz, da war auch noch festivale grande und dann war ich vier Tage hier. Von Linz weiß ich nichts, da habe ich das Hotelzimmer wirklich nur für abends für die Veranstaltungen jeweils verlassen und geklotzt und dann hier die vier Tage noch. Und es war total spannend dann letztendlich. Ich hatte das Gefühl, ich komme auf Sachen, die hätte ich deutsch so erstmal nicht denken können und die damit zu tun haben, dass die Sprache anders funktioniert. Und ich finde es die totale Quälerei,… also für den Fotographen habe ich zwei, dreimal Texte für Ausstellungen, Kataloge oder so geschrieben, wo von vorneherein klar war, der wird überhaupt nicht auf Deutsch veröffentlicht, sondern wird französisch und englisch übersetzt. Er hat halt die Galerie in Paris. Es war der Horror: Wie schreibt man so einen Text? Naja, macht man eine Herausforderung für den Übersetzer. – Die fühlten sich nicht sehr herausgefordert, die fühlten sich geärgert. Das waren Profis. Ja gut, da braucht man auch wirklich Übersetzer dazu, die sich drauf einlassen.
Bitter: Bei Die Grammatik der Ersten Person Singular war ja auch gleich die englische Übersetzung hintendran abgedruckt, und da haben Sie ja sozusagen einen Dialog geführt, mit Georgina Paul. Ich fand es spannend, beide Texte zu lesen und dieses „(I did – Tr.)“ und den Dialog zwischen Autorin und Übersetzerin, der ja eigentlich immer da ist, mal so explizit gezeigt zu bekommen.
Köhler: Mit Georgina das ist richtig klasse. Da haben wir auch beide richtig Freude dran. Ja, man müsste einfach mehr Zeit haben. Ich würde wahnsinnig gerne mit ihr zusammen… Vor drei Jahren war in Cambridge so ein kleines Festival und da haben sie mich eingeladen und Georgina als Übersetzerin mit. Sie ist einfach eine richtig gute Performerin. Sie hat auch Spaß dran an dem, was sie tut. Und da habe ich gesagt, wir können eigentlich jetzt nicht so bloß deutsch-englisch, deutsch-englisch, also mit der Stein schon angefangen, lass uns doch mal… Und es war ein sagenhafter Effekt, weil da waren nun wirklich auch Leute, die ziemlich gleich gut Deutsch und Englisch konnten, auch sehr viele Studentinnen und Studenten. Die haben flach gelegen (lacht). Das hat so einen Spaß gemacht. Und das schaukelt sich dann auch schön hoch…
Bitter: Was haben Sie da genau gemacht?
Köhler: Also schon Köhlertexte mit Synchronübersetzung. Da hatten wir an dem Nachmittag noch zusammen praktisch am Sirenentext aus der Odyssee gearbeitet… Und dann haben wir auch umgekehrt gesagt, wir machen jetzt englischen Text – deutsche Übersetzung, also die Stein dann so hin und her. Man kann die richtig so unglaublich schön komisch machen.
Bitter: Ich habe gelesen, dass es zu diesem Stein-Buch auch eine CD mit früheren Versionen ihrer Übersetzungen gibt, stimmt das?
Köhler: Ja, da sind auch noch andere Texte mit drauf, von den Porträts ein paar.
Bitter: Und da lesen Sie Ihre Texte vor? Und liest da auch jemand die englischen Texte?
Köhler: Nein, das ist eine einsprachige Angelegenheit. Nein, das hätte ich schon gerne, naja, mal gucken…
Hier bricht die Aufzeichnung ab und die zweite Hälfte des Gesprächs ist leider in den Tiefen der Technik verschwunden. Vielleicht wollte sie daran erinnern, dass Gespräche sowieso eigentlich an einen Moment in der Zeit gebunden sind und durch ihre Verschriftlichung zu etwas ganz anderem werden. Die Gesten fehlen, die Pausen, die Blicke, die stotternden, halben Satzanfänge, der Sprechrhythmus, die Sonnenstrahlen vor dem Fenster, der Minztee, die sporadischen Straßenbahngeräusche… Vielleicht wollte der Apparat mich auch vor dem vielen Transkribieren bewahren. Oder er wollte dafür sorgen, dass es sich um eine offene Form handelt, wollte zeigen, dass das Gespräch nicht abgeschlossen ist, dass es sowieso noch länger ging, als die Aufzeichnung geplant war,… dass es immer wieder neue Gespräche geben kann…
Im Folgenden werde ich aus dem Gedächtnis noch einige der weiteren Themen zusammenfassen:
Auf die Sirenen bezugnehmend, fragte ich, ob nicht bei der Übernahme tradierter Frauenbilder, trotz Aufwertung des Irrationalen, Fließenden durch den Text, auch die Gefahr bestehe, diese Rollenbilder festzuschreiben. Für Barbara Köhler stellt jedoch die bewusste Affirmation solcher Bilder auch eine Strategie dar, mehr Beweglichkeit zu erlangen, Möglichkeiten zu eröffnen. Schließlich seien diese Frauenfiguren schon in der Odyssee selbst nicht einseitig gezeichnet. Einerseits das Verführende, aber mit Skylla und Gorgo dann eben auch das Starke, Vernichtende. Und auch die als männliche dargestellte Ratio sei ja nicht nur negativ zu bewerten. Das klingt, als sollten diese Möglichkeiten also insgesamt für alle offen sein. Allerdings bekam ich auf meine Nachfrage, ob sie denn denke, dass Frauen dieses Irrationale näher sei, oder sie das leichter an sich akzeptieren könnten, keine eindeutige Antwort.
Wegen des Ulrike Meinhof gewidmeten Elektragedichtes fragte ich, ob Barbara Köhler sich noch mit der RAF beschäftige, die ja nun durch die RAF-Ausstellung wieder in der öffentlichen Diskussion war. Momentan beschäftige sie sich nicht damit. Und gerade, dass es momentan wieder so ein Mode-Thema sei, spreche dafür, sich mit anderen Themen zu beschäftigen. Es war auch vor allem Ulrike Meinhof, die sie beschäftigt habe, weil das so eine herausstechende Einzelfigur war, während der Rest eher als Gruppe wahrgenommen wurde. Es sei ja selten, dass eine Frau so einzeln herausrage und dass sie es sogar in den ,Titel‘ Baader-Meinhof-Gruppe geschafft habe. Ausgerechnet Baader und Meinhof, etwas Gegensätzlicheres könne man sich gar nicht vorstellen. Außerdem habe Barbara Köhler bereits Anfang der 90er bei Lesungen gemerkt, dass die RAF im Westen ein gesellschaftlich noch lange nicht verarbeitetes Thema sei. Es waren dann sogar eher Altlinke, die empört waren, dass sie als Ostdeutsche sich dieses, ,ihr‘ Thema aneigne.
Ich fragte, ob sie sich momentan noch mit der DDR beschäftige. Ihre Texte seien ja am Anfang sehr stark auf dieses Thema reduziert worden. Andererseits ist es in ihrem Fall ja nicht nur ein historisches, sondern auch ein biographisches Thema, das man dadurch wohl nie ganz ablegen könne, aber mal beschäftigt man sich mehr damit, mal weniger. Zur Zeit sei das eigentlich kaum ein Thema für sie. In ihrem direkten Bekanntenkreis spiele Ost-West eigentlich keine bedeutende Rolle, weil er sich auch aus vielen internationalen Bekanntschaften zusammensetze, wo es nicht nur diesen einen Gegensatz, sondern eine Vielzahl von Unterschieden gebe. Solange es keine starren Fronten gebe, sondern Beweglichkeit herrsche, sei es ja eher eine Bereicherung, von verschiedenen Hintergründen herzukommen. Wenn, dann habe sie heute eher, wenn sie in den Osten komme, das Gefühl als die Fremde, Fortgegangene, als „Wessi“ behandelt zu werden.
Aber insgesamt werden ihre Texte ja nicht mehr auf Biographie reduziert, obwohl das bei weiblichen Autorinnen ja häufig passiere. Das sei auch eine Strategie, sie harmloser zu machen. Das sei dann alles nur privat und man müsse es nicht wirklich ernst nehmen. Das jetzige Problem sei eher, dass ihre letzten Texte von den Feuilletons gar nicht mehr wahrgenommen wurden. Zu Wittgensteins Nichte habe es nur zwei Rezensionen aus der Schweiz gegeben. Als ich auf die Rezension von Hannes Würtz hinwies, die das Geschlechterthema total ignoriert, meinte Barbara Köhler, ach ja, die habe sie wohl komplett verdrängt. Richtig schön sei allerdings, dass Wittgensteins Nichte nun in die zweite Auflage geht und das ohne Mediensupport. Das heiße doch, es werde auch so gelesen. Und das was Birgit Dahlke in Berlin oder Georgina Paul für die Auslandsgermanistik machen, habe sowieso längere Auswirkungen, als dieser wellenförmige Rezensionsbetrieb. Anfang der neunziger Jahre habe sie eben zufällig auf eine solche Welle gepasst…
Auch habe sie keine Lust, immer als Alibi-Autorin eingeladen zu werden, damit auch eine Frau da ist. Das kommt noch erstaunlich oft vor, sie versucht Taktiken dafür zu entwickeln. Irgendwann mache sie vielleicht mal einen Text über ,die Einzige‘, über ,den Einen und seine Einzige‘. Darauf bin ich sehr gespannt.
aus Mirjam Bitter: Sprache macht Geschlecht. Zur Lyrik und Essayistik von Barbara Köhler, trafo verlag, 2007
Das Ende ist
dem Anfang am nächsten.
Trauerflor von den Spiegeln nehmen
das eigene Gesicht kommen sehn
[…]
das eigene Gesicht kommen sehn
Trauerflor von den Spiegeln nehmen
dem Anfang am nächsten.
Das Ende ist
Barbara Köhler hat diesem, eines der Gedichte ihres Debüts, im Gegensatz zu anderen des Bandes, die Überschrift versagt. Was ich vorlas, sind Anfang und Ende des Gedichts – Sie haben es gehört: Bild und Spiegelbild. Spiegelbild mit einer scheinbar unwesentlichen Variante: einem Punkt, bevor sie zur letzten Zeile ansetzt, diesem: Das Ende ist. Vorgelesen habe ich acht der neunzehn Zeilen dieses Gedichts, das insgesamt als Spiegelung geschrieben ist. Neunzehn Zeilen sagte ich und Spiegelung; wer stutzt über der ungeraden Zahl? Die überzählige Zeile ist Gelenk zwischen Bild und Spiegelbild. – Wenn das so einfach ist: Warum versagt Barbara Köhler dem Gedicht die Überschrift? Drängt sich uns allen nicht sofort die eine auf? Weil gerade sie es nicht sein kann, nicht sein darf, steht die nicht, steht keine über dem Gedicht. – Die ungerade Zeile, dieses Gelenk, lautet:
Sitzt ich und schreibt.
Sie – im Kontext des Ganzen – rundet den unaussprechbaren Zauber dieses Gedichts. Die Welt dieser Gedichte ist keine heile Welt. „Der Himmel der Strom sind kein Ausweg mehr Verseuchte Metaphern die unsre Sehnsüchte zurechtweisen das Wunder ist grau,“ endet Barbara Köhler ihr Prosagedicht „Dresden der klassische Blick“. Scheint es Erlösung zu geben? „Ich verkaufe Schuld, Schulden und Schuldigkeit,“ so die Schlussstrophe des Gedichtes „Dresdner Traum, Neustädter Seite“:
Bekomme viel weiße Farbe dafür, überstreiche
Den Spiegel, die Landkarte und die Nacht;
Und da ich mir selbst nicht mehr gleiche,
Trägt mich im mondfahlen Mittagslicht
Das Einhorn. Wohin, weiß ich nicht.
Ich habe beim Umgang mit diesen Gedichten erfahren, dass sie Ruhe brauchen, Zeit und Gelassenheit des mit ihnen Umgehenden. Sie erschließen sich nicht ungeduldigem Drängen. Umgang, Umgehen sagte ich: Das Wort Lesen will mir dafür als zu obergründig erscheinen. Wenn Sie mir schließlich das verbrauchte Wort unverbraucht zu gebrauchen gestatten: Sie sind schön.
[…] mach mich ein bißchen wahnsinnig du
laß mich deine ophelia sein spiel
meinetwegen verrückt aber spiel mir
bloß nicht den hamlet.
„Über die Brücke“ heißt dieses Gedicht, dessen vier Schlusszeilen ich zitierte. Ich nähme es auf in eine Sammlung der schönsten Liebesgedichte.
Barbara Köhler ist 1959, als Schmiedstochter, in Penig/Sachsen, geboren, machte 1976 bis 1979 in Plauen das „Abitur mit Berufsausbildung“ als Facharbeiterin für textile Flächenherstellung, bewarb sich nach diesen drei Jahren mit einer Mappe bildnerischer Arbeiten an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, ohne angenommen zu werden, arbeitete in Chemnitz als Altenpflegerin und als Beleuchterin am Theater; von 1985 bis 1988 studierte sie am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig. Seit 1988 ist sie freischaffend, in Arbeiten auch immer in der Nähe zur bildenden Kunst. 1991 erschien, in der Edition Suhrkamp, der bereits herangezogene Debütband: Deutsches Roulette. Gedichte 1984–1989. Für ihn erhielt Barbara Köhler den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, den Förderpreis zum Leonce-und-Lena-Preis und den zum Else-Lasker-Schüler-Preis.
Blue Box, ihr zweiter und bisher einziger weiterer Gedichtband, erschien 1995, ebenfalls bei Suhrkamp. Sie beginnt das Titelgedicht:
Woher so traurig Grade noch sprachen wir
Die eingebläute Lehre: nichts erwarten
alles nehmen was kommt geben was geht […]
Die Gedichte sind Gedichte einer anderen Zeit, nicht auch für eine andere Zeit – Barbara Köhler schreibt nicht für eine Zeit. Sie sind zugeschlossener. Die Eingangszeilen des letzten der Gedichte in diesem Band – „Die Reise / Synchronisation B“ – scheinen mir die veränderte Grundstimmung zusammenzufassen:
Verlassenen Wegen nachgehen gelassen
sehen die Augen führen hinters Licht
hinter Glas passiert Landschaft wird
Fremde die Ferne verschwindet […]
Und wie eröffnet Barbara Köhler den Band?
Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich
weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie.
Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit,
verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.
Egbert-Hans Müller, Deutsche Schillerstiftung von 1859: Ehrungen – Berichte – Dokumentationen, 1998
Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Barbara Köhler
BARBARA KÖHLER
laufe davon gehe durch trete auf trete ab
verlaufe mich lauf durch den erhitzer dünn
leben tut wie beine weh madame beißen sie zu
Peter Wawerzinek
Barbara Köhler liest beim poesiefestival berlin 2009.
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