− Zu Christine Lavants Gedicht „Die Stadt ist oben auferbaut…“ aus Christine Lavant: Spindel im Mond. −
CHRISTINE LAVANT
Die Stadt ist oben auferbaut
voll Türmen ohne Hähne;
die Närrin hockt im Knabenkraut,
strickt von der Unglückssträhne
ein Hochzeitskleid, ein Sterbehemd
und alles schaut sie an so fremd,
als wär sie ungeboren.
Sie hat den Geist verloren,
er grast als schwarz und weißes Lamm
mit einem roten Hahnenkamm
hinauf zur hochgebauten Stadt,
weil er den harten Auftrag hat,
dort oben aufzuwachen.
Der Närrin leises Lachen
rollt abwärts durch das Knabenkraut
als Ein-Aug, das querüber schaut
teils nach dem Tod, teils nach dem Lamm,
dem schwarz und weißen Bräutigam
in feuerroter Haube.
Ihr Herz keucht innen rund herum
und biegt das Schwert des Elends krumm
und nennt es seine Taube.
Österreichische Kindheit in einem abgelegenen Tal Kärntens, frühe Erfahrung von Armut und Behinderung, ein Gefühlsreichtum, welcher sich niemals zähmen lassen wird und ungestüm zur Gestaltung drängt, gleichzeitig die stets lauernde Schwermut, der Hader mit Gott, dazu immer wieder Krankheiten: das ist das Leben Christine Lavants. Sie hat eine Lyrik hinterlassen, die eigentlich nur aus sich selbst heraus erklärt werden kann. Ihr Rang innerhalb der moderneren österreichischen Lyrik muß vielleicht gerade in den deutschsprachigen Ländern Europas noch entdeckt werden, nachdem Ingeborg Bachmann noch immer als unbestrittene prima inter pares gilt.
Will man Christine Lavant dennoch in einem größeren Kontext eingebettet wissen, so bietet sich die geistliche Lyrik als denkbarer Bereich an. Ein Großteil der Lavantschen Gedichte ist unablässige Auseinandersetzung mit Gott, wobei die Adresse vieler dieser Gedichte gleicherweise Gott und/oder einen menschlichen Geliebten begreift; eine klare Entscheidung läßt sich nicht immer ziehen, und diese Doppelbödigkeit weist nicht zuletzt auf ein deutliches künstlerisches Empfinden. – Allerdings führt diese Autorin in ihrer fast grenzenlosen Vereinsamung kein beschauliches Gespräch mit Gott, sondern wie Hiob zweifelt und streitet sie, schleudert sie ihr „De profundis“ Gott entgegen, den sie verflucht und heftig ersehnt in einem. Was Annette von Droste-Hülshoff in ihrem Zyklus „Geistliches Jahr“ über die rein zustimmende Biedermeier-Frömmigkeit hinausgetrieben hat, erscheint zaghaft im Vergleich zum Trotz der Christine Lavant. Und in der Kühnheit ihrer Rebellion hat sie innerhalb der modernen geistlichen Lyrik ihren unverwechselbaren Platz gefunden, wobei ihren Aufschreien andererseits eine geradezu selbstquälerische Ergebenheit antwortet. So schwanken ihre Gedichte, diese Fluch- und Fluchtgebete, beständig zwischen Verzweiflung und Selbstbehauptung, Unterwerfung und Aufruhr hin und her:
Ich habe durch dich gefroren,
ich wurde durch dich geröstet,
du bist gewesen mein Fegefeuerleib,
du hast zerstört meinen Osterleib,
du bist mir das Auferstehn schuldig…
(Spindel im Mond).
Es ist Dichtung aus einem extremen inneren und äußeren Abseits, beunruhigend und fieberhaft ins Maßlose gesteigert. Das Image der naiv dichtenden Kräuterfrau und harmlosen Kärntner Bäuerin muß hier erneut korrigiert werden, denn dieser Frau ist – obwohl oder vielleicht gerade weil sie fernab des urbanen Bildungs- und Kulturlebens wirkte – eine verblüffende Mischung von Intellektualität und Naturhaftigkeit eigen gewesen. Der Ausstrahlung ihrer Gedichte ist etwas unverkennbar Sinnliches beigemischt, das eben auch ihre sogenannte geistliche Lyrik nicht als rein religiöse Literatur erscheinen läßt, sondern sie um eine eigenartig schillernde Ambivalenz erweitert hat. Christine Lavants Leben hat sich – entgegen jenem der Ingeborg Bachmann, die der gleichen Landschaft entstammte – innerhalb des kleinsten geographischen Bezirks erfüllt, hat nicht die Weite erfahren, dafür Höhen und Tiefen ausgemessen. Das Gedicht aus dem Band Spindel im Mond (1959), dem die folgenden Anmerkungen gelten, drückt dies im Bild aus.
In Christine Lavants Lyrik stößt man auf immer wiederkehrende Grundzüge; einige von ihnen bestimmen auch dieses Gedicht. Zwar ist gerade das ausgewählte Beispiel einer der seltenen Texte, in denen Christine Lavant nicht die Ich-Form wählt, sondern sich die Rolle der Närrin zulegt. Diese Selbstdarstellung entspricht einem Lebensgefühl, das sich jenseits der gesellschaftlichen „Normalität“ entfalten muß und will; ein andermal sieht sich Christine Lavant in der verwandten Gestalt der Hexe und Zauberin. Fremdheit unter den Menschen ist ihre Bestimmung, als wäre sie ungeboren, unwirklich, nicht anwesend. Sie hat sich im Knabenkraut (Orchis) versteckt, jener Pflanzengattung aus der Familie der Orchideen, die im Moor gedeiht, im unwegsamen Gelände, wohin der Mensch seinen Fuß nicht setzt. Das Versteck im Knabenkraut ruft nach volkskundlichen Erörterungen. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli, Bd. IV, Berlin-Leipzig 1931/32, Sp. 1555 ff.) weist unter dem Stichwort „Knabenkräuter“ u.a. auf die Bedeutung hin, die den Wurzelknollen dieser Pflanze im Volksglauben zukommt. Soweit sie handförmig gespalten sind, werden die vorjährigen, vertrockneten und meist schwärzlichen als Teufelsklaue bezeichnet, die diesjährigen, glatten und weißlichen als Johannis-, Gottes-, Muttergottes- oder Christushändchen. Diese weißen Knollen schützen vor Hexerei, gegen Zauber, gegen den Teufel usw., die schwarzen jedoch leisten Hexen- und Satanskünste. Christine Lavant, in abgeschlossen ländlicher Gegend aufgewachsen, ist dieser Bedeutungsbereich wohl kaum fremd gewesen. Ihre Närrin läßt sich mit einem Kraut ein, dem gegensätzliche Eigenschaften zugeschrieben werden: himmlische und hexenhafte. Die Ambivalenz der Pflanze, die Gutes wie Böses zu stiften vermag, überführt die Dichterin in die unmittelbar folgenden Bilder von „Hochzeitskleid“ und „Sterbehemd“, und es wird nochmals deutlich, wie sehr die Närrin in einer zerreißenden Spannung steht, wie wenig Eindeutigkeit ihrem Befinden entspricht. – Aus dem lyrischen Kontext geht klar hervor, daß sich Christine Lavants Närrin mehr mit den schwarzen Knollen, den ihr gemäßen, verbündet hat. Die weißen dagegen, die heilbringenden, scheinen ihr verwehrt zu sein. Allerdings ist diese Zuordnung keine freiwillige, wie überhaupt der Lebensort im Abseits nicht aus freien Stücken gewählt worden ist. In einem Brief an Gerhard Deesen aus dem Jahr 1962 schreibt die Lyrikerin: „Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeibar. Das Leben ist so heilig, vielleicht wissen Gesunde das nicht. Ich weiß es ganz.“ Deshalb empfindet sich Christine Lavant gegenüber jenen, die sich in den Lebensrhythmus des Zeugens, Gebärens und Aufziehens gefunden haben, als unwirklich, als „ungeboren“. „… Heimtückisch laß ich mich oft von dem Wind / nah an den Herdplatz der Wirklichen wehen…“ (Der Pfauenschrei). Die im Knabenkraut hockende Närrin, die ein Hochzeitskleid und ein Sterbehemd aus der Unglückssträhne strickt, ist eine poetische Inspiration, die in lyrischer Knappheit die Lavantsche Biographie Sprache werden läßt: in ihrer Sehnsucht und in ihrer Verweigerung. Und der Versuch der Närrin, aus der Unglückssträhne ein. Hochzeitskleid zu stricken, ist eben ein närrischer, der scheitern muß; das „Material“ verwehrt ein glückliches Gelingen von vornherein. Es bleibt nur noch das Sterbehemd, der Tod als letzter Ausgang dieses irdischen Lebens. Es wäre hier nochmals ein Hinweis auf eine der Bedeutungsebenen des Knabenkrauts im Volksglauben fällig. Je nachdem ob die „Hände“, d.h. die beiden handförmigen Wurzelknollen, sich ineinanderlegen oder voneinander abwenden, kann man auf die Nähe der Hochzeit schließen. In Piemont z.B. gehen daher die Verliebten auf die Suche nach dem Kraut „concordia“; das Kraut „discordia“ dagegen, bei dem die „Hände“ (Wurzelknollen) auseinandergehen, meiden sie, es bedeutet Bruch und Zwietracht. Das Selbstverständnis einer Närrin im vorliegenden Gedicht weist darauf hin, daß eine „discordia“ vorausgegangen ist; innerhalb des Gedichts selbst wird dann dieser Bruch noch näher erläutert.
Aus der Tiefe blickt diese Närrin nach oben, wo die Stadt auferbaut ist. Die rasante Perspektive läßt die Tiefe noch tiefer erscheinen, die Höhe noch höher. Den Sturz des Gemüts hat Christine Lavant als „Fallsucht“ und „Hinfallsucht“ bezeichnet, und die Benennung muß nicht im medizinischen Sinn als Epilepsie verstanden werden, sondern wörtlich als Sucht und Sog in einen Abgrund, wie er sich hier aufreißt. Die Stadt selbst in ihrer strahlenden Höhe erscheint als eine Art Zion, als himmlisches Jerusalem in moderner Verfremdung. Sie kann als Metapher für jenen fernen Gott gelten, den Christine Lavant immer wieder beschworen hat, jenen „Deus absconditus“. Einmal fragt sie: „Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen.“ Hier also müßte, um in der Sprache der Gedichte zu reden, die Stadt gleichsam in die moorigen Tiefen des Knabenkrauts hinuntersteigen. Im vorliegenden Gedicht vergrößert sich jäh noch die Entfernung durch eine Geste besonderer Art: Das hexenhaft „leise Lachen“ der Närrin rollt abwärts, hinein in den sumpfigen Grund, der bodenlos ist. Und gleichzeitig verkehrt sich auch alles, unterwirft sich einer makabren Metamorphose, einem diabolischen Karneval. Das Lachen der Närrin ballt sich zum Ein-Aug der bösen Märchen, schaut in clownesk schiefer Physiognomie „querüber“, schielt nach dem Tod und nach dem Lamm, das heißt zunächst: nach dem verlorenen Geist. Die Närrin weiß nicht mehr, wohin sie gehört, zu den Lebendigen oder zu den Erstarrten, zu den „Wirklichen“ oder zu den Unwirklichen. Alles ist verrückt, hat sich ver-rückt. Die Ordnung hat sich aufgekündigt, und der Ort im Knabenkraut erscheint nochmals und deutlicher als Inbegriff der Heimatlosigkeit, der Vertreibung ins „ellende“, wie der mittelhochdeutsche Sprachschatz das Ausland, die Fremde als Gegenort der göttlichen Ordnung (ordo) bezeichnet hat.
Der Geist hat sich losgelöst und eine discordia grotesken Ausmaßes inszeniert; er hat sich in ein schwarz-weißes Lamm mit rotem Hahnenkamm verwandelt. Wenn für dieses Lamm später die Bezeichnung „Bräutigam“ eintritt, so wird zusätzlich eine andere Lesart denkbar – eingedenk des zu Beginn erwähnten Doppelsinns mancher Lavantscher Adressen. Wie die Närrin eine Ichgestalt in ihrer Verlorenheit ist, so könnte das sich entfernende schwarzweiße Lamm mit seinem roten Hahnenkamm auf ein verlorenes Du hindeuten. Im Bild seines Wegs zur Stadt auf der Höhe könnte man eine Illustration für die Unerreichbarkeit des Geliebten vermuten. Die Ver-rücktheiten ließen sich dann als Stigmata einer Passion erklären, die sich im alltäglichen Bereich nicht verwirklichen kann. Eine solche Leidenschaft treibt die Liebende in die Fremde, fern dem „Herdplatz der Wirklichen“; sie raubt ihr die Integrität, d.h. die concordia mit dem Geist. Die erzwungene Wanderung des Geistes, der auf Erden ein dumpfes Dasein gleich den Tieren führen muß und erst „dort oben“ aufwachen darf am Ende der Zeiten, scheint eine Läuterung für die Närrin zu bedeuten. Eine eschatologische Dimension bricht damit unversehens in diesem Gedicht auf, sowohl wenn man die eine wie die andere Lesart berücksichtigt.
Durch dieses endliche Leben irrt der Geist der Närrin in phantastischer Verkleidung, wobei das groteske Bild des Lamms mit dem Hahnenkamm der Traumwelt entstammt und als Motiv z.B. bei einem Künstler wie Marc Chagall denkbar ist. Innerhalb der Lavantschen Bildsprache gewinnt es seine spezifische Bedeutung: Als Mischwesen verkörpert dieses Traumtier die der Dichterin eigene Komplexität von Ergebenheit und Stolz; dafür sind Lamm und Hahn seit jeher Zeichen. Besonders der Hahn erscheint in den Gedichten Christine Lavants immer wieder als Chiffre des Aufruhrs, aber auch des Aufschwungs, ebenso als Warner und Wächter, wobei diese letzte Funktion auf biblischen Assoziationen der Dichterin (Verleugnung Petri, NT) gründet. Die Bedeutung des Hahns im vorliegenden Gedicht ist recht vielfältig: Nicht nur verweist der Hahn auf die stolz-trotzige Gebärde des Du und des Ich: der Närrin mit ihrem aufrührerischen „leisen Lachen“; er steigert sich auch wieder zum endzeitlichen Symbol, zum Zeichen dafür, daß alles dem Ende entgegentreibt (in der Edda gilt der Hahn als Verkünder des großen Endkampfes), sofern man ihn vor den Hintergrund des oben erwähnten eschatologischen Kontextes stellt. Und der Hahn spielt möglicherweise nochmals auf ein allenfalls verborgenes Liebesgedicht an, denn seit dem Mittelalter spielt dieses Tier eine Rolle in Liebeszauberhandlungen. – Abschließend sei folgendes angemerkt: Der mehrfache Hinweis auf Inhalte der Mythologie und Magie innerhalb dieses Interpretationsversuchs legitimiert sich durch die Tatsache, daß Christine Lavant mit regem Interesse Bücher aus diesen Bereichen studiert und zweifellos daraus Anregungen für ihre BildweIten bezogen hat.
Kühnheit, ja Maßlosigkeit stecken auch in der Farbenwelt dieses Gedichts. Schwarz, weiß und rot prallen hart aufeinander, kehren als Trias nochmals gegen Ende des Gedichts wieder: „dem schwarz und weißen Bräutigam / in feuerroter Haube“. Die Verdoppelung stiftet die doppelte Lesbarkeit des Lammes als verlorener Geist und als verlorener Liebespartner, wobei in verwirrender Weise dem Geist der Närrin ein männliches (Hahnenkamm), dem „Bräutigam“ ein weibliches rotes Kennzeichen (Haube) zugeordnet ist. Diese Verschiebung und die aufreizende Farbe sind ein weiteres Indiz dafür, daß nichts mehr in der Welt der Närrin in Ordnung ist. Alles ist aus den Fugen geraten.
Nochmals sei an die Äußerung Christine Lavants gegenüber Gerhard Deesen erinnert: „Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar…“ Auch hier spielt das Moment der Ablösung eine entscheidende Rolle: Kunst hat sich – innerhalb des persönlichen Verständnisses dieser Dichterin – vom Leben und seinem Rhythmus des Werdens und Wachsens losgesagt. Kunst bewirkt Verstümmelung dessen, was Christine Lavant eigentlich ersehnt hat: das Leben und damit wohl die Möglichkeit des Liebens und Geliebtwerdens. Der Eindruck, etwas im Ablauf der eigenen Biographie verpaßt, ja verfehlt zu haben, ist eng mit dieser Aussage gegenüber Deesen verknüpft – damit verbunden ein deutliches Gefühl der Schuld. Eine dritte Lesart dieses Gedichts sei deshalb kurz skizziert: Die Dichterin, die sich der Kunst und nicht dem Leben zugewandt hat, hat sich wiederum damit von den „Wirklichen“ entfernt und sich gleichsam selbst ins Knabenkraut verbannt. Dank ihres außerordentlichen Metiers weiß sie zwar mehr als die anderen, aber sie zahlt dafür mit dem Preis der Fremde und Einsamkeit, ebenso mit dem Verlust ihrer personalen Integrität. Der Geist, die Lebenskraft (vgl. Pneuma / „Geist Gottes“ des AT, der Leben einhaucht), hat sich von ihr getrennt, weil sie gegen ihn gesündigt hat („eine Sünde wider den Geist“). Warum allerdings Christine Lavant ihre Kunst als „eine Sünde wider den Geist“ betrachtet, bedürfte wohl einer genauen biographischen Erläuterung, deren Einzelheiten jedoch im Dunkeln liegen. Wichtig ist jedenfalls die Feststellung, daß sich in diesem Gedicht mehrere Bedeutungsebenen übereinanderschichten und z.T. durchdringen Doppelsinnigkeiten und Mehrfachsinnigkeiten, gemäß der künstlerischen Vorliebe dieser Autorin. Christine Lavant hat in der Abbreviatur weniger Zeilen ihr komplexes Existenzgefühl zusammengefaßt. Darin erweist sich ihr eminent dichterisches Empfinden und Vermögen.
Fassen wir noch die abschließenden Zeilen des Gedichts ins Auge! Ruhe kann in dieser Welt der Verrücktheiten nicht sein. Das Herz „keucht innen rund herum“ wie in einem Gefängnis, aus dem es ausbrechen möchte, aber seine Kerkersituation ist von unerbittlicher Härte und Ausweglosigkeit. Es „biegt das Schwert des Elends krumm“: es schließt sich gleichsam in der so hergestellten Kreisform mit dem Elend zusammen. Anfang und Ende gibt es nicht mehr, sondern der umtreibende Schmerz ist mit der Seele eins geworden in dieser Elendsbiographie. Er wird zur „Taube“ umbenannt: Christine Lavant hat damit ein krampfhaft befriedetes Bild an den Schluß gesetzt, das über Unrast und Aufruhr niemals hinwegtäuscht.
Ruhe und Harmonie sind Fremdwörter in Christine Lavants Leben und Werk geblieben. Dafür hat sie „das wilde Durstgeheimnis“ in seiner ganzen Schwere kennengelernt. Hunger und Dunkelheit gelten als Grunderlebnisse in einer Welt, die vergeblich Nachbarschaft gesucht hat: „Wer wird mir hungern helfen diese Nacht / und alle Nächte, die vielleicht noch kommen?…“ (Spindel im Mond). Und selbst „die Sternenbilder beben / wie vor Hungersnot“ (Spindel im Mond). Auch das Gebet sättigt nicht. Was übrig bleibt, ist allein der Ruf nach Buße, nach Kasteiung; ein Bedürfnis, das heute befremdet:
O Herr, mein Gott, wie der Straßenstein bebt!
Schlag deine Rute mir um die Ohren,
schlag mich dahin, wo die Fluchtwurzel wächst
für alle, die noch kein Abendmahl hatten
und ausgehungert und abgefeimt
unendlich süchtig nach Sehnsucht sind
und nach der Flucht in die Zuflucht!
Spindel im Mond
Diese „Flucht in die Zuflucht“ ist Christine Lavant, der Närrin im Knabenkraut, zeitlebens verweigert worden, und es hat sich daraus eine quälend anstrengende Existenz ergeben – eine außerordentliche auch, jenseits jeglicher Identifikation. Hier wie in ihren Gedichten scheint sich die Maßlosigkeit der Heiligen mit der Abartigkeit der satanischen Geister verbündet zu haben. Christine Lavant hat ihre Sterne aus der Hölle geholt.
Beatrice Eichmann-Leutenegger, aus: Grete Lübbe-Grothues: Über Christine Lavant, Otto Müller Verlag Salzburg, 1984
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