− Zu Christine Lavants Gedicht „Die Stadt ist oben auferbaut“ aus Christine Lavant: Spindel im Mond. −
CHRISTINE LAVANT
Die Stadt ist oben auferbaut
voll Türmen ohne Hähne;
die Närrin hockt im Knabenkraut,
strickt von der Unglückssträhne
ein Hochzeitskleid, ein Sterbehemd
und alles schaut sie an so fremd,
als wär sie ungeboren.
Sie hat den Geist verloren,
er grast als schwarz und weisses Lamm
mit einem roten Hahnenkamm
hinauf zur hochgebauten Stadt,
weil er den harten Auftrag hat,
dort oben aufzuwachen.
Der Närrin leises Lachen
rollt abwärts durch das Knabenkraut
als Ein-Aug, das querüber schaut
teils nach dem Tod, teils nach dem Lamm,
dem schwarz und weissen Bräutigam
in feuerroter Haube.
Ihr Herz keucht innen rund herum
und biegt das Schwert des Eldens krumm
und nennt es seine Taube.
gehorcht keinem starren, aber immerhin einem unverkennbaren und im lyrischen Gesamtwerk der Christine Lavant in ähnlicher Form öfters wiederkehrenden Schema. Die formale Gliederung des Gedichts ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Vier- und Dreihebern, wobei ausnahmslos die Dreiheber auf unbetonte, die Vierheber auf betonte Silben ausgehen. Für die konkrete Realisierung der damit gegebenen Möglichkeiten ist es wichtig, daß in dem ganzen Gedicht die Satzenden mit dem Ende des Dreihebers zusammenfallen. Das verleiht diesen Satzschlüssen (zu denen auch schon die syntaktische Zäsur am Ende des zweiten Verses zu rechnen ist) den Charakter der Knappheit und lakonischen Raffung. Die metrisch akzentuierten Satzschlüsse ergeben kräftige Einschnitte. Man könnte sich höchstens fragen, weshalb die dadurch erzielte Gliederung nicht zugleich als eine Strophengliederung in Erscheinung tritt. Der Grund dafür ist im Reimschema zu suchen. Noch lange nicht alle Gedichte der Christine Lavant bedienen sich des Reimes. Wo er aber auftritt, läßt sich eine gewisse Vorliebe für einfache Reimpaare erkennen, wenn dieses Prinzip auch kaum jemals streng durchgeführt wird. In unserem Gedicht ist es lediglich der Mittelteil, der Reimpaare aufweist. Die ersten und dann wieder die letzten vier Verse reimen nach einem andern Schema: Kreuzreim am Anfang, umarmender Reim am Schluß des Gedichtes. Immer aber können wegen des verschiedenen Versausganges Dreiheber nur mit Dreihebern, Vierheber nur mit Vierhebern in den Reim treten. Ich muß darauf verzichten, hier die recht komplexen Spannungen vollständig zu analysieren, die sich aus diesen Prämissen, vor allem im Mittelteil des Gedichtes mit seinen Paarreimen, zwischen der Syntax, dem Metrum und dem Reimschema ergeben. Das konkrete Ergebnis dieser Spannungen ist, daß sich die Gliederung des Gedichtes nicht mehr auf eine einfache Formel bringen läßt. Die syntaktischen Grenzen sind durch ihre metrische Profilierung stark herausgehoben, gleichzeitig sorgt aber das Reimschema dafür, daß sie wieder überspielt werden und die einzelnen Sätze gegenseitig formal sehr deutlich verklammert bleiben. Daß ein solches Verfahren bei Christine Lavant nicht einer mehr oder weniger zufälligen und halb unbewußten Improvisation entspringt, läßt sich daraus ableiten, daß es sich in sehr ähnlicher Form unter anderem in dem auch thematisch benachbarten Gedicht „Mein schwarz- und weißgeflecktes Lamm (Spindel im Mond) findet. Der Hinweis auf den komplizierten formalen Aufbau sollte zugleich auch schon zeigen, daß Christine Lavant vermutlich nicht die reine Naturbegabung und Wurzelfrau aus Kärnten ist, die man – von der Kenntnis ihrer biographischen Umstände her — vielleicht gern in ihr sehen möchte.
Der Inhalt des überschriftslosen Gedichtes ist, auf eine kurze Formel gebracht, die Beschreibung einer armen Irren, eine Närrin. Dieses Motiv hat in der neueren deutschen Lyrik eine bestimmte Tradition, deren Ansätze sich in die Romantik zurückverfolgen lassen. Vom französischen Symbolismus her setzte es sich in der Dichtung der Jahrhundertwende durch und wurde von da unmittelbar an den Expressionismus weitergegeben. Dennoch ist es ein Motiv, das nicht so rasch konventionell werden kann. Es bezeichnet zu eindeutig eine Extremform menschlichen Daseins. Nicht einmal die einst beliebten Spekulationen über den Zusammenhang zwischen Dichtung und Wahnsinn haben es auszulaugen vermocht. In dem Gedicht der Christine Lavant fällt auf, wie weit die Identifikation mit der Gestalt der Irren getrieben ist. Zwar spricht das Gedicht diese Identifikation selbst keineswegs aus, aber vom Gesamtwerk her ist der Zusammenhang unschwer zu erkennen. Die Närrin dieses Gedichtes steht genau an der Stelle, die in der Regel das lyrische Ich einnimmt. Der Ort der Närrin im Knabenkraut ist in die Spannung zwischen einem einfachen Oben und Unten gestellt. Es ist ein radikal unvertrauter Ort („Und alles schaut sie an so fremd / als wär sie ungeboren“). Mit dem Geist scheint die Närrin auch das Wahrnehmungsvermögen verloren zu haben. Lediglich ihr Lachen dient ihr – gemäß der anschaulich nicht mehr nachvollziehbaren Metapher, die uns das Gedicht zumutet – als seitwärts schielendes Ein-Auge, das abwärts rollt. Die Richtung nach oben ist diesem Auge und damit auch der Närrin verschlossen, deren Herz sich deshalb im eigenen Kreise herumquält. Das Auge schaut nach dem Tod und nach dem Bräutigam; diese Doppelung entspricht der andern von Sterbehemd und Hochzeitskleid, an denen die Närrin strickt (und zwar von ihrer „Unglückssträhne“ am Rande sei vermerkt, daß hier ein für die Dichtung der Christine Lavant wie für moderne Dichtung überhaupt charakteristisches Reduktionsverfahren vorliegt, das darin besteht, daß ein geläufiger Ausdruck wörtlich genommen, einer längst erstarrten Metapher, wie hier dem Wort Unglückssträhne, die ursprüngliche Bedeutung zurückgegeben und diese zu einer neuen metaphorischen Kombination benutzt wird). Die Richtung nach oben in die gleich am Beginn des Gedichtes evozierte Stadt ist dagegen dem verlorengegangenen Geist aufgebürdet. Er ist der seltsame Bräutigam, der in poetischer Objektivierung und Verfremdung „als schwarz und weißes Lamm / mit einem roten Hahnenkamm“ erscheint. Es sei an dieser Stelle auf das bereits erwähnte Gedicht verwiesen, das mit den Versen beginnt:
Mein schwarz- und weißgeflecktes Lamm
Blökt oben in der Schädelspalte;
Im weiteren Verlauf dieses Gedichts erscheint dieses blökende Lamm als „mein Gedächtnis“. Diese Parallele, ja allein schon die Tatsache, daß in unserm Gedicht ausdrücklich die Gleichung zwischen Geist und Lamm hergestellt wird, könnte zu der Annahme verleiten, es ginge bei der Interpretation lediglich um die Aufschlüsselung fremdartiger Metaphern. Das trifft nicht zu, denn selten nur lassen sich in den Gedichten der Christine Lavant die Wesen und Dinge in dieser Weise als eindeutige Übertragungen auf einen abstrakten Begriff zurückführen. Auch im Fall der poetischen Gleichung „Lamm“ – „Geist“, respektive „Lamm“ – „Gedächtnis“, ergibt sich der dichterische Sinn der Übertragung nicht aus ihrer Auflösbarkeit. Es kommt weniger auf die dechiffrierbare Bedeutung als vielmehr auf dem Umkreis an, mit der ganzen Fülle seiner möglichen Detailbezüge, in den eine solche Metapher hineinführt. Das läßt sich schon dem Umstand entnehmen, daß das schwarz und weiße Lamm in unserem Gedicht für den Geist, in seinem Gegenstück aber für das Gedächtnis steht, was ja immerhin nicht dasselbe ist. Deshalb wäre es falsch, nun etwa die Stadt, die in unserm Gedicht von Anfang an das Oben repräsentiert und damit das Gegenmotiv zu der unten hockenden und seitwärts und abwärts orientierten Närrin darstellt, bedeutungsmäßig starrer festlegen zu wollen, als es durch das Gedicht selbst geschieht. Immerhin würde es naheliegen, da Christine Lavants Werk nun einmal Einschläge christlich-religiöser Thematik aufweist (sie deshalb schlicht als christliche Lyrikerin zu bezeichnen, würde bereits viel zu weit gehen), die oben auferbaute Stadt mit einer Art von himmlischem Jerusalem zu assoziieren. Es scheint mir indes für Christine Lavant charakteristisch, daß sie Assoziationen dieser Art in ihren Gedichten niemals pietätvoll und gläubig ausdekoriert, sondern viel eher wenn schon solche Vorstellungen sich aufdrängen – ihnen eine schockierende Wendung zu geben weiß. Das führt dann bis zu jenen offenen Aggressionen gegen den religiösen Vorstellungsschatz, die sie Gottvater einem Werwolf vergleichen (Die Bettlerschale), oder vom lauten Geheimnis feindlicher Engel sprechen lassen (Spindel im Mond). Der Geist ist aufgefordert, zur Stadt aufzusteigen, um dort – diese Kombination innerhalb unseres Gedichtes ist wohl erlaubt, obwohl in andern Gedichten der „Hahnenkamm“ primär als Pflanzenname erscheint – mit seinem roten Hahnenkamm das Wächteramt der auf ihren Türmen noch fehlenden Hähne einzunehmen und der Stadt seine Stimme zu leihen; aber es wäre verkehrt, daraus zu schließen, daß hier die Lavantsche Dichtung sich selbst so etwas wie einen prophetischen Auftrag erteilt. Dazu ist das in dieser Dichtung auffallend häufig vertretene Bild des Hahnes nicht eindeutig genug. Sehr oft hat es einen bedrohlichen Aspekt, erinnert an die Verleugnung des Herrn durch Petrus oder wird als „roter Hahn“ im volkstümlichen Sinn für das Feuer im Dach gesetzt.
Der eigentliche Ort der Lavantschen Dichtung ist unten bei der Närrin, im zweimal genannten Knabenkraut. Dieser Pflanzenname steht hier als eine der naturmagischen Chiffren, wie sie so charakteristisch sind für diese Dichtung und für die moderne Naturlyrik überhaupt. Im vorliegenden Fall ist die Chiffre zentral genug, um angemessen nur mit Hilfe einer vollständigen Beschreibung der dichterischen Landschaft der Christine Lavant ausgedeutet werden zu können. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß jede solche Chiffre für eine rätselhafte lyrische Verstrickung ins Kreatürliche steht. Es ist eine Art von traumhaft-luzider Selbstvergessenheit, die das lyrische Bewußtsein gefangen hält. Die Schlußverse des Gedichtes evozieren diese Verfassung in verdichteter Form. Hier ist nicht mehr von der hochgebauten Stadt die Rede, sondern von dem umgetriebenen Herzen der Närrin, das noch das Schwert, das es durchbohrt hat, durch eine kühne Umbiegung und Umbenennung zur Taube zu verwandeln vermag. Die Taube kommt in den Lavantschen Gedichten öfters vor, und sie kann nach dem Ausweis anderer Belegstellen als verkörperte Hoffnung interpretiert werden wie jene Taube, die Noah ausschickte und die ihm den Ölzweig zurückbrachte. Daneben gilt es zu beachten, daß die Taube auch als Spottvogel genannt wird, der das lyrische Ich verlacht (Spindel im Mond). Der Schluß des Gedichtes ist damit durch jene Ambivalenz gekennzeichnet, die seinem Thema angemessen erscheint. Es ist zugleich die Ambivalenz eines Ortes und Spielraums von lyrischer Dichtung, in welchem sich die Hoffnung auf Erlösung mit dem Bewußtsein der eigenen Gespaltenheit und der totalen Verstrickung ins Kreatürliche auf unlösbare und faszinierende Weise verbindet.
Beda Allemann, aus: Hilde Domin (Hrsg.): Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. S. Fischer Verlag, 1966
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