Ungesellig sind die bierholenden Knaben, eure
aaaaaVorfahren,
die ihr schon vergessen habt, sie bilden die Kette zur
aaaaaNacht,
ungesellig ward ihr, abseits am Tresen erwartend die
aaaaaFül-
lung väterlichen Kruges, ihr ranntet davon vor den
aaaaaStimmen
der Augapfelpaare
und kamt später wieder, übtet den Schaum den Klang der
Blume, das Morgengrauen, das euch vordem verborgen
blieb, später später; der Vater führte euch ein in Nacht auf
Familienfeiern, nachmittäglichem Fußballfeld, in den Toilet-
ten der Kindheit schloß sich der Mutter Mund, sprach in
uns ein letztes Gebet
wo blieben der Eltern Gerüche; wir fanden in ihren Betten
Gestalten, die übernächtigt in Stellungen lagen, nachge-
boren in ihren Tod; wir fanden die gelösten Eintrittskarten
zur Nacht, ein Stilleben rätselhafter Etiketten, Orakel,
unentzifferbar auf Tischdecken gebannte Zeichen einer
anderen Welt, in der die Eltern verschollen waren
oh, beinerne Gebärde der Augenlider, die uns umfangen
hält am Frühstückstisch, schwankend dem Nachen ent-
stiegen, den Ringfingern tags unauffindbarer Gefährten;
Stimmen verbergen sich in uns, die wir nur einem Raunen
gehört
Schatten sterben ab in Dunkelheiten, Schemen bilden sich,
und es ist die Tülle des Kruges, die unser ist, die Leere der
Gasse, der Rauhreif einer morgendlichen Wand, und jedes
Zeichen birgt ein Anderes in sich
ist Bernd Igel auf der Suche. Wonach? Von welchem Punkt aus startet er? Seine Verse sind dicht. Bewegte Bilder, oft schattenhaft und unheimlich, geben jedem Gedicht seinen atmosphärischen Raum. Dieser ist beklemmend, wenn Erlebnisse, Nachklänge einer getrübten Kindheit aufgerufen werden. Frei von sentimentaler Verbitterung wird spürbar, wie frühe Verletzungen hier ein besonderes Gespür für psychologische Befindlichkeiten begründet haben. In der Suche nach Geborgenheit und Anschluß an Gleichgesinnte schwingt auch die Angst vor allzu großer Vereinnahmung mit. Die lyrische Selbstverständigung über den Sinn des Gedichtemachens, die mögliche und schon wirkliche Daseinsweise als Dichter – um nichts geringeres geht es – ist immer auch ein Angebot für ein Gespräch mit anderen.
Ingrid Pergande, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1989
interviewtext – nach gesprächen mit egmont hesse
und laß dich verführen
überrascht von einem text, in dem das gespräch mit bernd igel ruht, wie ich vermute, wird mir das lesen darin zur suche nach einer verlorengegangenen stimme, ohne die ich womöglich sprachlos bleibe, hatten wir doch eine vorstellung, wie ein aufeinanderzugehen im gespräch ablaufen könnte, fehlte es dann auch an worten, gedanken in großer konzentration sichtbar zu machen. war es ein zustand unbestimmten wartens – um das warten zu vergessen? -, der sich infolgedessen neben uns breitmachte? es genügte also nicht, wirklichkeit, von der man behaupten kann, daß sie als sehn-sucht existiert, in augenschein zu nehmen, „ergeben sich zu einem vorgang doch immer mehrere bilder, gleichzeitig läuft in einem selbst noch ein vorgang und an den dritten erinnerst du dich. das in der zusammenschau ergibt einen dichten text“, wo ich noch immer auf der suche nach meiner stimme bin, die u.a. sagte und fragte:
mit deinen texten, die ich vergleichen würde mit bewegten stilleben in einer prozession von bildern, stellst du die frage nach einem woher. beinhaltet die antwort bereits ein wohin? und welche bedeutung hat das beobachten von „vorgängen und prozessen, in denen und durch die sich spannungen auf- und abbauen“ für dich und die art deines schreibens?
heimkehr – eine endlose reise heißt ein gedicht von dir, und ich denke, es ist nicht abwegig, deine literarische arbeit ebenfalls so zu bezeichnen. ständig wird man durch die gedichte auf diesen aspekt verwiesen, durchschreitet man längst verlassene seelenlandschaften, variationen von nacht, wird das verloren sein erfahrbar. führte diese heimfindung, die auf ein empfinden aus ist, zu jener ausgeprägten, unverwechselbaren wort- und konfliktwelt, die uns veranlaßt, einen dichter, wie ingeborg bachmann sagt, „als unausweichlich zu sehen“, obwohl die damit einhergehende „theoretische umsorge“ bei dir im verborgenen bleibt?
ist das und in dir auch die kunst? gibt es einen mythos kindheit, dem du nachgehst?
vielleicht, daß ihr zwang zu rede und antwort sie in bernd igels zweistrophigem interview text verschwinden ließ, wie die sirenen in ihrem gesang verschwanden, „wirklich und ihrer verheißung ebenbürtig“ (maurice blanchot). was soviel bedeutet wie: laß dich verführen. an diese bestimmung will ich gerne glauben.
1. Die stimmlosen Laute. Geschichte meiner Stimme
Vor Zeiten entstanden mir drei Bilder aus einer Spielerei mit Oelfarben: ein Vogel mit dem Gefieder der Waldbrände, die „Poetische Konfession“ – von Terrassen durchzogene Farbfelder in allen Tönungen des Blau, ein drittes Bild, geboren aus den Bewegungen der Schatten meines Fingers über papierene Laken – ich verschenkte diese Bilder, und es waren die Geräusche in ihnen, die das Licht verursacht bei seinen Gängen durch Nacht, denn mit Geräuschen tarnen sich die Farben, mit Geräuschen tarnte ich mich in meinem Schweigen; es waren die Stummen Jahre, und am liebsten sah ich Stummfilme, die folgenreichen Gesten & Gebärden, die Arten, mit dem Mund zu schweigen, ich sass zu hause vor immergleichen Bildern, den formlosen Sonnenauf & abgängen, die ich malte, die Farbtöne fielen lautlos aufs Papier, lautlos bröckelte der Putz von Häuserwänden, plötzlich vermochte man blanke Ziegel zu sehen, Vulkane auf den Wiesen, über Tag oder Nacht entstanden, Resultate einer untererdigen Wühltätigkeit, Pfützen versengten & hinterliessen dunkle Flecken auf dem Wegesand; ich beobachtete Vögel im Fliegen Schreiten Verharren, sie stiessen aus ihren Leibern Laute hervor durch das Rohr ihrer Schnäbel, Laute, die ich sah hinter verschlossenem Fenster, und ich lauschte nachts ihrem Schlaf, und ich lauschte den verschiedenen Regen, der Dachrinne, den Wolken, ich lauschte dem Wandel der Laternen, ihrer Sprache aus Licht, ich lauschte meinen Freunden, ihren Schweigen & Gebärden, ich sah ihre Stimmen, einen Hauch von Atem aufs Fensterglas gestreut oder in die Frostgewölbe der Luft, und ihre Gedanken waren aus der Rinde des Brotes gemacht, ich konnte sie berühren, ihre Poesien auch, von der Art unermüdlich gefalteter Papierschiffchen, die wir über Seen gleiten liessen, bis sie versanken
„nimm die Hand vom Mund, wenn Du sprichst“, mahnten die Eltern mich oft, und hatte es vielleicht gerade dieser Hand bedurft, Worte zu sprechen durch den Rechen ihrer Finger, um wenigstens etwas Ordnung in deren Konfusion zu bringen, denn gross war meine Furcht vor ungekämmt geäusserten Gedanken, störrisches, zurückgebliebenes Kind, als das ich galt, und als Rettung galt mir jedes Wort, zwischen den Fingern hervorgesprochen, das man nicht verstand; so schwieg ich also, unfähig, die Hand von den Schamlippen des Mundes zu lösen, unmöglich, die Pforte der Worte & des Atems so einfach preiszugeben, sehen zu lassen, wo heraus meine Sprache kroch, eine Sprache, die nur Abfall war, gesogen aus Sandkästen Lehrbüchern & Exkrementen, dem Begreifen der Säuglinge; der Stift entblösste die Hand weniger als die Sprache den Mund
auf dem Papier zogen sich die Stotterlaute wieder zu jenen mühselig gelernten Buchstaben zusammen, diese zu Wortgruppen & Sätzen, die ich in Büchern gelesen hatte; die Papiere ertrugen meine Phantasien Wortspiele von Krieg & Partisanenkämpfen auf fremden Böden geduldiger als ein Zuhörer Freund, doch die Bloßstellungen eines Versagens auf ihren Laken schienen mir unbarmherziger als das Gelächter der Verwandten; es waren die Stummen Jahre, ich setzte zum Sprechen an, unzählige Male, einen Wortgedanken zu gebären, mir schien, ich hätte mehr Gedanken denn Worte, und Jahre vergingen über der Formulierung eines Satzes
ich entdeckte meine Freunde auf Fliegenden Blättern am Horizont der Schreibstuben, da sie mich annahmen, war ich ihnen fremd, fremd in meinen ungesprochenen Sätzen, fremd in meiner Furcht vor dem Klang der eigenen Stimme, weil ich die Unversehrtheit meiner Gedanken fürchtete: fremd, und ich entdeckte in den Gedichten Welten, millimeterhoch vom Papierboden erhoben sich Gestalten Landschaften Städte, ich begriff das Wort Gesichte, nahm Gerüche & Geräusche wahr, sah mich selbst auf dem Papier bewegen, stellte den Worten nach, sie waren für mich bestimmt & doch nicht die meinen
wir rührten, Kinder Gottes, Krumen von Erde mit Wasser an, nannten den entstandenen Brei „Eierpampe“, wir schoben uns die in Backförmchen getrockneten Endprodukte als Lebkuchen in den Mund, und wir lebten davon; wir nahmen von den angrenzenden Feldern Beeten Gärten, was wir brauchten, wir schrieben mit Stöcken erste Buchstaben in den Sand & löschten sie uns gegenseitig aus; wir hatten nicht teil an der Sprache, die sich unter den Stöcken im Sand entwickeln konnte, eine Sprache, die uns erst später gehören oder eigen sein würde, eine Sprache, aus den Dingen kommend, mit denen wir leben
2. Nacht – Konstitution eines Themas
ich sah die Nacht in der Mundhöhle meiner Mutter verborgen, wenn wir sie beim Schlafen beobachteten, sie schlief offenen Mundes & ich schaute in die Finsternis, die nach & nach von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte während der Mittagsstunden, und ich erfuhr diese Nacht, es war nicht die Nacht verdunkelter Zimmer Eisenbahntunnel Kinos, die hier aufging, es war die Nacht, die in den Körpern der Menschen Dinge währt & waltet, in die ein Mensch sich zurückziehen mag, mit sich allein
und ich seh die bierholenden Knaben durch die Siedlung zum Gasthaus ziehen, Krüge werden abgefüllt & weitergereicht, die Knaben bilden die Kette zur Nacht der Eltern, zur Finsternis, die in deren Kehlen gerinnt; Sprache anderntags vergessener Versöhnung, Sprache kurz vor Zwölf, fahriger werdende Gesten, den Leichnam dieses Abends für sich zu retten, und in Alpdrücken rücken immer näher die Wände des Gevierts, ich seh die Gläser in der Küche mit dem Abdruck von Lippen, Reste farbiger Flüssigkeiten noch auf deren Grunde, und die Laute scheinen noch in ihnen, die unter die Decke eines kindlichen Schlafes drangen, Spuren eines Ascheregens, niedergegangen im Raum zwischen den Worten, und die Kinder sind unsere Vorfahren, sie sprechen einen in mir begonnenen Satz weiter, sie sprechen meine Kindheit, sprechen mich in ihrem Sterben, sie treffen mich in ihren Anfängen, kennen das Kind in mir, das ich einst war; die Kinder wissen um ihre Schatten, die sie nach den Dingen ausstrecken, vor dem Überfahren retten, sie ertasten die Augäpfel der Laternen im Schlaf, die Schläfen Nasenflügel ferner Planeten, die sie tags nachmodellieren, wir verfolgen sie in ihrem Erkundungsgang, belauschen die im Traume sprechenden Münder
von den Mundwinkeln lösen sich Blumen aus Schaum beim Sprechen, wir sind unvergänglich in unserem Sterben wie diese Blume, zwischen die Grabplatten der Biertische gesät; unvergänglich sind wir in unserem Sprechen, sprechen wir uns selbst & die Gesichte, die wir haben, spüren wir den Atem anderer Lebewesen in uns & lassen ihn sprechen; es sind nicht der Wein das Bier der Schnaps, es sind die Überblicke, die Vor & Nachreden, die uns sprachlos machen, Heere von Stammtischadvokaten, die die Worte beim Bier bestimmen & kursieren lassen, und die Trunkenen unter der Kneipenampel warten auf ihre Bahn, vereidigen jene, denen sie ihre Geschichte erzählten
ich lausche den Gestalten Geräuschen von Nacht, es ist die menschgemachte Nacht von Presslufthämmern Sprachen, den Schritten des Nachtmahr, die in meine Räume einzieht, es ist die Nacht des Schweigens der Gräser Sterne, der Geburt einer neuen Sonne aus dem Mutterschoss Erde, ihrer Feier, und die Nacht erweitert meine Räume durch Traum
Dieses Gespräch wurde im Oktober 1986 geführt.
Erschienen in: Egmont Hesse (Hrsg.): Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, S. Fischer Verlag, 1988.
PAMPHLET EINES SYMPATHISANTEN
für Bernd Igel
1
Von allen gaben der feen fehlt ihm am sichtbarsten die
aaazu gefallen
Fadenlang fällt auf des gehenkten kreuz stumpfes haar.
Die füße tappen blind übers pflaster. Hüpfend mit
aaazerspellter hüfte, ein krebs auf dem trocknen.
Bleich, zwinkeräugig, ein lebenslänglicher zuchthäusler
aaaseines ICHs, über das all die untadligen glauben,
aaabefinden zu müssen.
Sich erklärend, bleiben die wörter kleben an seinen
aaalippen, läppisch und ohne glanz.
2
Verse, immer, und verse unter dem schädelbein, nur
aaasolche flausen!
Zeile um zeile verwoben in ein goldenes vlies.
Jede zeile eine schweißspur auf dem einsamen laken.
Worte der milde, der zuversicht und des absinth.
Strophen voller klage, die litanei des gestraften für an
aaaihm begangenen frevel,
Strophen wie die letzte rasierklinge am hals einer frau.
Immer schließt es uns ein, dieses närrische weinen.
Immer lindert sein schmerz unsre kindliche not.
3
Mit geliehener stimme nenne ich ihn den engel mit
aaakotfleckigen flügeln.
Ich vermeide, ihm ins gesicht zu sehen, und…
Ehe der hahn wieder kräht, verleugne ich ihn erneut.
Thomas Böhme
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