Blaise Cendrars: Gedichte I

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Blaise Cendrars: Gedichte I

Cendrars-Gedichte I

PANAMA ODER DIE ABENTEUER
MEINER SIEBEN ONKEL

(…)
Dieser Morgen ist der erste Tag der Welt
Isthmus
Von wo man zugleich alle Sterne des Himmels sieht
aaaaaund alle Formen der Vegetation
Überlegenheit der äquatorialen Gebirge
Einzigartige Zone
Da ist noch der Dampf der Amidon Paterson
Die bunten Initialen der Atlantic-Pacific Tea-Trust
Der Los Angeles Limited der 10 Uhr 02 abfährt um nach drei Tagen anzukommen und der als einziger Zug einen Frisiersalon hat
Fernlinie Finsternis und die Kinderwagen
Damit ihr das ABC des Lebens aufsagen lernt unter der Fuchtel der Abschiedssirene
Tojo Kisen Kaischa
Ich habe Käse und Brot
Einen sauberen Kragen
Die Poesie von heute

Die Milchstraße um den Hals
Die beiden Heminsphären im Blick
Auf vollen Touren
Es gibt keine Panne mehr
Wenn ich Zeit hätte Geld zu sparen würde ich beim Flugzeug-Ralley mitmachen
Ich habe mir einen Platz reserviert für den ersten Zug der unterm Ärmelkanal durchgeht
Ich bin der erste Pilot der mit einem Flugzeug in Schalenbauweise den Atlantik überfliegt
900 Millionen

Land Land Wasser Meere Himmel
Ich habe Heimweh
Ich verfolge alle Gesichter und habe Angst vor den Briefkästen
Alle Städte sind Bäuche
Ich verfolge die Schienen nicht mehr
Linien
Kabel
Kanäle
Noch die hängenden Brücken!
Sonnen Monde Sterne
Apokalyptische Welten
Ihr habt alle noch eine große Rolle zu spielen
Ein Siphon niest
Das Literatengeschwätz geht weiter
Ganz unten
In der Rotonde
Wie ganz auf dem Grund von einem Glas
Da warte ich

 

 

 

Nachbemerkung

Die in diesem Band veröffentlichten Gedichte sind in den Jahren 1912 bis 1914 entstanden. Im November 1911 fuhr Blaise Cendrars mit einem Emigrantenschiff nach Amerika und lebte seither in New York, wo es ihm sehr schlecht ging. Das Gedicht „Ostern in New York“ schrieb er, wie er in einem Radiointerview berichtet, in einer Nacht, und zwar in der Osternacht 1912:

Es mochte zwei oder drei Uhr früh sein, als ich nach dem weiten Weg angewidert und kreuzlahm zu Hause ankam. Ich kaute an einer harten Brotkante herum und trank ein großes Glas Wasser. Ich legte mich hin und schlief augenblicklich ein. Dann fuhr ich jäh aus dem Schlaf auf und begann zu schreiben, zu schreiben. Ich schlief wieder ein und fuhr zum zweitenmal jäh aus dem Schlaf auf. Ich schrieb bis der Morgen dämmerte, dann legte ich mich wieder hin und schlief wie ein Toter. Um fünf Uhr nachmittags wachte ich auf und las das ganze Zeug durch. Ich hatte Pâques à New York zur Welt gebracht (Blaise Cendrars vous parle).

Nach Frankreich zurückgekehrt, veröffentlichte er das Werk „in einer Auflage von hundertfünfundzwanzig Exemplaren, das Stück zu zwanzig Sous“.

Die Prosa vom transsibirischen Expreß verarbeitet Eindrücke von zwei Reisen nach Rußland und von Cendrars Aufenthalt in Paris. Von 1904 bis 1907 lebte er als Gehilfe des Schweizer Uhrenhändlers Leuba in Petersburg. 1907 kehrte er in die Schweiz zurück, verbrachte eine kurze Zeit als Student in Bern, reiste 1908 nach Paris und 1909 wieder nach Petersburg, wo er vergeblich Arbeit zu finden hoffte. La légende de Novgorode, auf die Cendrars in diesem Gedicht anspielt, gilt als sein erstes literarisches Werk, das aber nicht erhalten ist.
„Panama“, das 1913/1914 in Paris entstand, wurde zusammen mit anderen Gedichten Cendrars’ von John Dos Passos, den das Vagabundenhafte in diesen Texten faszinierte, ins Englische übersetzt. Im Vorwort bezeichnete er Cendrars als „transsibirischen Homer“.
Die drei unter dem Titel „Amours“ zusammengefaßten Gedichte, die etwa zur gleichen Zeit wie „Ostern in New York“ geschrieben wurden, sind erst 1961 wieder entdeckt und erstmals veröffentlicht worden.
Seit dem Transsibirischen Expreß verzichtete Cendrars ganz bewußt auf das „alte Spiel der Verse“, z.B. auf den Reim. Er suchte die Technik der Montage und der Simultaneität, wie sie Robert und Sonia Delaunay als Prinzipien der modernen Kunst definiert hatten, in der Dichtung zu verwirklichen. Mit seinen ersten drei großen Gedichten hatte er bedeutenden Einfluß auf die französische Lyrik um die Zeit des Ersten Weltkrieges, namentlich auf Guillaume Apollinaire.

D. H., Nachwort

 

Blaise Cendrars,

„dieser Pirat der Poesie“ (Siménon), war 25 Jahre alt, als er 1912 das Gedicht „Ostern in New York“ schrieb, von dem Louis Parrot sagt:

Mit diesem Gedicht, das der Autor auf eigene Kosten herausbringen mußte, begann ein neues Kapitel in der Geschichte der modernen Dichtung.

Cendrars beeinflußte damit nicht nur den Dichter Apollinaire, mit dem er damals befreundet war, sondern es wurde zum Signal einer ganzen Epoche.

Verlag der Arche, Klappentext, 1976

 

Die Hefe einer Generation

– B. C. wird in der deutschen Schweiz wiederentdeckt. –

Wer war Blaise Cendrars, dessen selbsterfundener Name heute meist bekannter ist als seine Bücher? Er ist 1887 in La Chaux-de-Fonds, der Uhrenstadt im Jura, geboren als Sohn eines Berners und einer Zürcherin – er selber hat von seiner Mutter als einer „Schottin“ gesprochen, allerdings hat er auch den Renaissancehumanisten Platten, den Mathematiker Euler sowie Lavater unter seinen Ahnen genannt oder sie dazu ernannt. Im gleichen Jahr, 1887, wurde in einem Nachbarhaus der Architekt Le Corbusier geboren.
Frédéric Louis Sauser, so sein bürgerlicher Name, ist noch nicht 17 Jahre, als er aus der Schweizer Enge ausbricht, einen polnisch-jüdischen Juwelier nach Russland und China begleitet; er ist später Medizinstudent in Bern, lebt dann in unzähligen Wohnungen in Paris und der „Banlieue“, der er ein Buch gewidmet hat, reist mehrmals nach New York, wo 1912 sein langes Gedicht „Ostern in New York“ entsteht, verbindet sich mit Malern, die bald zu den berühmtesten gehören und die seine Bücher illustrieren, darunter Kisling, Léger, Masereel. Modigliani hat Cendrars porträtiert. Der Schweizer Blaise Cendrars meldet sich bei Kriegsausbruch in Frankreich als freiwilliger, wird in der Fremdenlegion an den gefährlichsten Fronten eingesetzt, verliert 1915 den rechten Arm bis zum Ellbogen, schreibt danach Tausende von Seiten auf der Maschine mit der linken Hand, fährt in seinem Alfa Romeo Hunderttausende von Kilometern, namentlich 1940 als Kriegsreporter für die Engländer; er dreht Filme, schreibt Filmszenarios, auch ein Ballett für Darius Milhaud, hat Welterfolg 1925 mit der Geschichte des legendären Schweizer „Generals“ Suter in Kalifornien, den die Entdeckung des Goldes ruiniert hat.
Als Cendrars 1961 vierundsiebzigjährig in Paris stirbt, war ihm vier Tage zuvor der „Grosse Literaturpreis der Stadt Paris“ zuerkannt worden, einzige und zu späte Ehrung des Dichters, der selber mehr an die Anerkennung anderer Schriftsteller und Künstler gedacht hat als an die eigene. Später hat die Tochter Miriam einen Koffer voll früher Manuskripte entdeckt, von denen nur ein Teil bisher gedruckt wurde. Eine kritische Ausgabe des Werkes gibt es in Frankreich noch nicht, doch sind etliche Werke als Taschenbücher greifbar.
Man weiss, wieviel ihm seinerzeit Apollinaire zu danken hatte; nachdem Cendrars ihm das Gedicht von der transsibirischen Bahn vorlas, übernahm Apollinaire daraus präzise biographische Details in sein eigenes Gedicht „Zonen“; er hatte den Eindruck, eine neue Möglichkeit des Dichtens erfahren zu haben.
Cendrars ist berühmt als „Figur“; manche Zeugnisse auch jüngerer Schriftsteller haben mehr mit dieser legendenumwobenen sympathischen Gestalt als mit dem Autor zu tun; es scheint, als sei das Ausserliterarische an Cendrars, der Vorrang, den er selber dem Leben gegenüber vor dem Schreiben gegeben hat, die Fülle an erfahrener, befahrener Welt faszinierender als seine Bücher. Was allerdings Blaise Cendrars an Weltgier, an Aufsprengung der europäischen Enge und französischen Selbstzentriertheit gebracht hat, das entsprach damals um 1912 einer Zeitstimmung in Paris. Vergleichbares findet sich bei Valéry Larbaud, bei Paul Morand, später bei André Malraux; es ist keine Flucht in die Exotik, sondern die Entdeckung einer fernen Welt, die uns angeht mit ihren frühen Kulturen, ihrer Verwandlung – Cendrars ist Herausgeber einer bedeutenden „Negeranthologie“; es ist auch die dichterische ambivalente Entdeckung der Technik, die so vieles erreichbar und sichtbar macht, so vieles zerstört und doch auch selber Neues schafft.
Cendrars befreundet sich mit dem jungen Chaplin wie mit dem Sänger Caruso, mit dem amerikanischen Erzähler O’Henry wie mit unzähligen Unberühmten, deren Geschichte er erzählt hat. Er hat nicht nur Künstler und Dichter in Frankreich beeinflusst, sondern hatte Einfluss auf die neue amerikanische Literatur, wie John Dos Passos bezeugt hat, der zu seinen Übersetzern gehört. Er hat die Simultaneität, die Diskontinuität in die Literatur eingeführt. Seine selbstbiographischen Schriften, zu denen „Der Zerschmetterte“ (L’Homme foudroyé) gehört, und seine Schilderung des Lebens anderer Abenteurer machen aus ihm eine Mischung von Reporter und Fabulierer, während seine beiden grösseren Romane Moravagine von 1928 und Dan Yack von 1929 poetische Prosa sind, durch Tempo und Temperament mitreissen. Gewiss gehört Cendrars zu jenen, die wie sonst nur Amerikaner die Reportage literaturfähig gemacht haben; ebenso zu den „Multimedia-Autoren“, die Filme drehen, die zeichnen und für die die graphische Gestaltung eines Buches eine ebenso hohe Aufgabe ist wie das Schreiben. (In dieser Hinsicht hätte ihn die nach seinem Tod entstandene französische Cendrars-Ausgabe nicht erfreut.) Dieser Weltreisende ist zugleich ein besessener Leser, der sich mit zehn Kisten Büchern einschifft und auch lesend erstaunliche Entdeckungen macht. Er ist am Ursprung des späten Ruhms von Lautréamont.
Die drei langen Gedichte, die der junge Cendrars zwischen dem fünfundzwanzigsten und dem achtundzwanzigsten Jahr wie in Halluzination geschrieben hat, sind ebenfalls Abenteuergeschichten, Selbstbiographie, auch Familienchronik, handelt es sich doch um das Erlebnis von „Ostern in New York“, um die grossen Reisen in der Transsibirischen Eisenbahn und um die seltsamen Schicksale seiner sieben Onkel. „Ostern in New York“ – bei Karl Rauch 1962 im fünften Band der Werke deutsch erschienen, in der Arche-Ausgabe glücklicherweise mit dem Originaltext zusammen vorgelegt – ist eine Litanei aus Zweizeilern. Da ist das Grauen und Elend der Grossstadt und zugleich die Passion Christi mit dem Vorwurf des Dichters an Jesus:

Ich bin müde und krank. Vielleicht um dich.
Vielleicht um einen andern. Vielleicht um dich.

Im Gedicht, genannt „Die Prosa des Transsibirischen und der kleinen Jehanne aus Frankreich“, steht:

Wozu mich dokumentieren? Ich überlasse mich den Sprüngen meines Gedächtnisses.

Er entziffert , so schreibt er, „die konfusen Texte der Räder, die ihn an die schwerflüssige Prosa Maeterlincks erinnern“, und er sammelt „die verstreuten Elemente einer heftigen Schönheit, die mich besitzt und die mich bezwingt“. In diesen Gedichten verbinden sich Lebensfreude mit tiefer Melancholie, Hoffnung mit Verzweiflung, Liebe mit Flucht; da sind viele Möglichkeiten erfasst, die bis dahin kaum als poesiefähig galten. Spätere Gedichte nähern sich dem, was Cendrars in Anlehnung an die naive Kunst, die „art brut“, die „poésie brute“ genannt hat – so ein komisches Gedicht über sein vorgeburtliches Leben, wo die „Annäherung Papas“ als lästig empfunden wird. Dabei ist der Ton dieser Lyrik nicht etwa nur burlesk, sondern gespannt zwischen vielen Möglichkeiten; das Abrupte, auch Schockierende ist mit Pathos verbunden. Vor allem aber überdauern die Gedichte des langen Atems mit der Abwechslung hektischer und gemächlicher Tempi, unmittelbar erlebend, dann wieder reminiszierend, Zeiten verbindend oder kontrastierend. Cendrars ist von dieser entdeckten, aufgesprengten Welt wie berauscht, findet in ihr neue Motive, neue Ausdrucksformen, die aus der modernen französischen Lyrik nicht mehr verschwunden sind.
So gibt es denn bei Cendrars eine zweifache Beziehung zwischen dem sogenannt Ausserliterarischen und der Literatur. Die eine Beziehung ist jene, die am häufigsten bemerkt und auch bestaunt worden ist. „Dieser Mensch, der ein überdimensionales Leben geführt hat“, schreibt etwa Henry Miller, oder:

Leben stets gross geschrieben, das ist Cendrars.

Ilja Ehrenburg erinnert sich:

Ausübender unzähliger Berufe und Globetrotter, war er die Hefe seiner Generation. Niemals habe ich ihn kleinmütig oder verzweifelt erlebt.

John Dos Passos, der Gedichte und Fragmente übersetzte, schreibt:

Ich bewundere diese Werke sehr, ihre Globetrotterart sagte mir zu, denn ich lebte damals ganz ähnlich.

So ist bei den Bewunderern des Schriftstellers immer das Leben selber und dessen Stil, dessen Verve im Vordergrund. Man freut sich, dass hier ein Europäer, wie bisher die Amerikaner von der Art Jack Londons, alle Tiefen erfahren hat und nicht im Elfenbeinturm lebt, kein Pariser Mandarin ist – gegen André Gides Tagebücher hat Cendrars einen seiner seltenen Hassausbrüche gewendet. Cendrars’ Ekel vor dem merkantilen bürgerlichen Amerika – „da bin ich so fremd wie in der Schweiz“, schrieb er – hat die amerikanischen Schriftsteller angezogen, die ähnlich empfanden. Die Illustrationen des Arche-Bandes, mit den Konturen, dem scharfen Blick, dem Piratenkopf bestätigen es: Das ist kein „Literat“, sondern einer, der ins volle und auch ins schreckliche Menschenleben hineingegriffen hat, der alles erfahren hat, auch den Überdruss. Cendrars hat in jedem Sinn des Wortes Leben in die literarische Bude gebracht, erschien zugleich als unerreichbares Original und als Vorbild.
Doch vermute ich, dass diese mythische Gestalt Blaise Cendrars die Erinnerung an die lebende Person nicht sehr lange überdauern wird, weil Dauer in der Literatur anderen Gesetzen folgt als denen der vollblütigen Vitalität. Auch André Malraux, ein Beispiel für viele, hat sich stilisiert, war nicht nur Romancier, sondern Gestalter, Abenteurer und hat seine reichen Erlebnisse in der Darstellung noch gesteigert, glanzvoller gemacht. Doch ist gewiss, dass einige Romane Malraux’ die Erinnerung an die Faszination des Abenteurers, des Helden überdauern werden. Diese Faszination ist durchaus berechtigt. War Goethe von den Dichtungen Byrons so beeindruckt wie von seiner Erscheinung, von seinem Schicksal? Das Ausserliterarische muss nicht literaturfremd, verpönenswert sein!
Es gibt aber bei Cendrars eine geheimere Strömung des Kontemplativen, die im Roman Dan Yack zu spüren ist, von dem Louis Parrot geschrieben hat:

Keine Seite ist nur der Schönheit des Ausdruckes zuliebe da. Es gibt einen geheimen Plan, und wir finden ihn, wenn wir diesen Roman als eine geistige Odyssee lesen und nicht als einen überhitzten Abenteuerroman.

Es gibt wie die Melancholie mitten in der Begeisterung diese kontemplative Stimmung, auch ein Vibrieren, das als Rhythmus durchgehalten ist und dem ersten Eindruck, dass hier alles „Zigeunermusik“, Virtuosität und Improvisation ist, widerspricht, zu seiner Korrektur zwingt.
Bei den langen Gedichten ist das Eindringen des Ausserliterarischen in den Ausdruck selber keine Zerstörung, sondern eine Erweiterung des Reichs der Lyrik und ist auch beim Erscheinen so aufgenommen worden, nicht Sprengung, sondern Aufsprengung. Diese Bewandtnis hat Blaise Cendrars selber gekannt. Er sagt:

Schreiben ist weder eine Lüge noch ein Traum, sondern die Wirklichkeit, und vielleicht alles, was wir je an Wirklichkeit erfahren können.

In der Dichtung hat Cendrars von Anfang an den bis dahin noch herrschenden verfeinerten Aesthetizismus hinter sich gelassen, unterwegs zum totalen Abenteuer, das den Körper, die Seele, den Geist, alle geliebten Frauen, alle gelesenen Bücher miteinbezieht. Die Modernität dieser technischen und offenen, aber noch nicht so bequem zugänglichen, immer noch gefährlichen Welt wird mit einem glücklichen, aber auch erschreckten Schwindelgefühl wahrgenommen. Der Dichter will eins mit der Welt werden, die aber selber keine Einheit hat und ihn auf sich zurückwirft. So hat auch er alles „wilde Leben“ erst nachträglich in der Erinnerung und im Schreiben am stärksten erlebt.
So interessant auch die Werke und Zeugnisse sind, die Cendrars nach dem vierzigsten Lebensjahr geschrieben hat, ist doch zu vermuten, dass sein Rang in der Literatur mehr durch die frühen, überwältigend originellen Dichtungen und Prosastücke gesichert bleibt als durch alles spätere. Es ist gut und ein Vergnügen für die Leser, wenn Romane, Erzählungen, Reportagen und anderes – auch Szenarios – aus allen Lebensphasen übersetzt werden. Doch ist es im ganzen nicht der Weg, die Enthüllung, das Wachsen und Reifen eines Autors, was hier berührt, sondern der Ausbruch, das Feuer, die hinreissende Unbefangenheit, der von keiner Tradition abhängige Ausdruck. Das ist es, was Cendrars zur literarischen Grösse hebt, die mit den staunenswerten, den liebenswerten Zügen der Figur weniger zu tun hat als mit der sich ins Extensive entfaltenden Intensität und Neuheit seiner Dichtung.

François Bondy, Weltwoche, 15.10.1975

„Die Legende von Nowgorod“

– Blaise Cendrars’ russisches Erstlingswerk. –

Zu den zahlreichen Mystifikationen, mit denen Blaise Cendrars (1887–1961) seine Werkbiographie angereichert hat, gehört – als eine der vertracktesten – der von ihm oftmals wiederholte Hinweis auf seinen literarischen Erstling, eine Versdichtung des Titels La Légende de Novgorode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland erschienen sein soll, von der er aber nie ein Belegstück und auch nicht das Originalskript hat vorzeigen können. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, dass er in manchen seiner Dicht- und Erzählwerke sowie in Interviews und privaten Verlautbarungen auf die Legende explizit Bezug nimmt oder zumindest darauf anspielt, bemerkenswert auch, dass er den Titel bibliographisch stets präsent gehalten hat, indem er ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit als „vergriffen“ rubrizierte. Über den Umfang, den Inhalt, die Machart des Textes schwieg er sich konsequent aus, bestand indes darauf, dass er, nach ein paar wenigen vorgängigen Schreibversuchen, mit der Niederschrift der „Legende“ zum Dichter geworden sei.
In La Prose du Transsibérien (1913), einem autobiographisch grundierten Erzählgedicht, hält Cendrars selbstironisch fest, er sei noch „kaum sechzehn Jahre alt“ gewesen, als er sich – „in Moskau“ – bereits für einen „schlechten Dichter“ halten durfte. Aus späteren Verlautbarungen und namentlich aus einem Interview von 1956 war dann aber zu erfahren, dass er doch erst „im Alter von gegen achtzehn Jahren“, und zwar „in St. Petersburg“ zu schreiben begonnen habe, wo er sich demnach um 1905 als „Dichter-Lehrling“ aufhielt. Auf diese entscheidende Episode ist Cendrars verschiedentlich, in literarischen Texten ebenso wie in privaten Aufzeichnungen und mündlichen Zeugnissen, zurückgekommen, doch seine einschlägigen Informationen sind derart widersprüchlich, dass sie den wirklichen Sachverhalt eher verunklären als einsichtig machen. In Cendrars’ Erinnerungsbuch Vol à voile (1932) werden die russischen Lehrjahre bereits ab 1902 gezählt – „ich war fünfzehn Jahre alt“ –, von literarischen Versuchen ist hier allerdings nicht die Rede, vielmehr geht es um eine „mehrjährige“ Lebensschule, die der Autor an der Seite eines jüdischen Abenteurers aus Warschau auf ausgedehnten Reisen durch das Zarenreich, vom Kaukasus bis nach Sibirien und weiter nach China, in die Mandschurei, absolviert haben will, nachdem er mit seinem autoritären Vater definitiv gebrochen und sein Elternhaus in Neuchâtel verlassen hatte.
Trotz mancherlei biographischen Unstimmigkeiten scheint immerhin klar zu sein, dass sich der junge Cendrars – damals noch unter seinem zivilen Namen Frédéric Louis Sauser – im September 1904 via Basel aus der Schweiz abgesetzt hat, um in Russland sein Glück zu suchen, und was er fand, war nichts anderes und nicht weniger als die Freiheit, die Frau, die Poesie. Drei Monate soll sich Freddy Sauser in Moskau aufgehalten haben, bevor er Anfang 1905 bei einem Schweizer Juwelier in St. Petersburg eine Stelle als Bürogehilfe antrat, die er in der Folge bis Ende 1907 beibehielt. Zu diesen frühen Russlandjahren gibt es ausser Cendrars’ eigenen, ebenso abenteuerlichen wie fragwürdigen Reminiszenzen, die er während Jahrzehnten immer wieder aufgriff und phantasievoll variierte, keinerlei dokumentarische Belege – weder Fahrkarten noch Photos, weder Briefe noch Tagebücher, aber auch keine Zeitzeugnisse von Drittpersonen sind erhalten geblieben, durch die sich seine angeblich hektische Reisetätigkeit in Russland belegen liesse. Was man aus Cendrars’ belletristischen Werken über seine Abstecher nach Armenien oder Buchara, ins „Hinterland von Farsistan“, auf die „Hochebenen von Ispahan“ oder ins nordostsibirische Mündungsgebiet des Lena-Flusses erfahren kann, ist wohl eher auf seine unbändige Einbildungskraft zurückzuführen, als dass es durch seine reale Biographie beglaubigt wäre.
Glaubhaft ist jedoch, dass der achtzehn-, neunzehnjährige Freddy in der russischen Hauptstadt seine erotische wie auch seine dichterische Initiation erfuhr, dass er dadurch zu sich selber fand und zumindest vorübergehend auf seine eigenen Füsse zu stehen kam. Dass gleichzeitig, unmittelbar vor seiner Haustür, die erste russische Revolution stattfand, scheint er kaum wahrgenommen zu haben, zu sehr war er absorbiert von den grossen Expeditionen, die er im Gepäckwagen der Eisenbahn, auf Kriegs- und Schmugglerpfaden, in der Steppe und im Hochgebirge eine nach der andern unternahm – sei’s in Wirklichkeit, sei’s in der Vorstellung oder auf dem weissen Papier, dem er seine ersten ernst zu nehmenden Verse anvertraute. Als ihn aus Neuchâtel die Nachricht erreicht, dass seine Mutter schwer erkrankt sei, entschloss er sich – nunmehr zwanzig Jahre alt – zur Rückkehr in die Heimat, die er einst in pubertärem Aufbegehren verlassen hatte. Im April 1907 war er wieder zu Hause, im Herbst würde er an der Berner Universität das Studium der Medizin aufnehmen.
Nachdem der nicht ganz freiwillige Heimkehrer eine Weile mit seiner Petersburger Geliebten, vermutlich einer Russlandschweizerin, korrespondiert hatte (die Kopien seiner Briefe sind erhalten), musste er bereits Ende Juni 1907 erfahren, dass sie in einer Feuersbrunst zu Tode gekommen war. Frédéric Sauser scheint diesen tragischen Vorfall, für den er sich aus welchen Gründen auch immer mitverantwortlich fühlte, zum Anlass genommen zu haben, sein erstes literarisches Werk niederzuschreiben, das nachmals als La Légende de Novgorode tatsächlich legendär wurde, dessen Existenz aber erst seit ein paar Jahren durch ein zufällig – in Sofia – wieder gefundenes, heute in einer Privatsammlung aufbewahrtes Einzelexemplar belegt ist.
Es handelt sich dabei um ein annähernd quadratisches, ursprünglich wohl fadengebundenes Heft, das in russischer Sprache auf 9 (von insgesamt 14) Seiten den Text der Legende enthält. Dieser ist auf dem Titelblatt als „Übersetzung aus dem Französischen“ ausgewiesen, der Übersetzer wird lediglich durch die Initialen R. R. bezeichnet, der Name des Autors ist in kyrillischen Lettern nicht ganz korrekt als „Frederik Sozè“ wiedergegeben. Als Verlagsorte figurieren Moskau und St. Petersburg, als Erscheinungsjahr wird in römischen Ziffern 1907 angegeben. Cendrars selbst hatte seinen Erstling, dessen Herausgabe offenbar eine „Geburtstagsüberraschung“ des Übersetzers für den Autor sein sollte, durchweg auf 1909 datiert, und unter diesem Jahr ist er auch bis vor kurzem bibliographisch erfasst worden, oft mit der (ebenfalls vom Autor genannten) Auflagezahl: 14 Exemplare.
Nachdem vor kurzem Alain Moirandat und Heinrich Riggenbach in einem Basler Privatdruck die russische Erstausgabe der Legende (Legenda o Novgorode) nicht nur druck- und buchtechnisch genau untersucht, sondern auch deren Impressum ingeniös aufgeschlüsselt haben, kann an ihrer Echtheit kein Zweifel mehr bestehen, kein Zweifel aber auch daran, dass dieses (offenkundig unvollständig publizierte) Erstlingswerk, zu dem kein Original vorliegt, das Ergebnis einer planmässigen Mystifikation gewesen sein muss.
Dafür spricht allein schon die Tatsache, dass Cendrars die Legende zeitlebens in der Öffentlichkeit präsent gehalten, dazu aber widersprüchliche Aussagen gemacht und manche relevanten Details verschwiegen hat.
Mystifikatorischen Charakter hat vor allem die Entstehungsgeschichte des Werks. Noch heute geht man davon aus, dass Sauser alias Cendrars die Legende im Sommer 1907 niedergeschrieben und dann sofort an einen „Freund“ (dessen Identität ungeklärt ist) nach St. Petersburg geschickt hat. Dieser Unbekannte soll den Text (mit oder ohne Auftrag?) ins Russische übersetzt und gleich auch in Druck gegeben haben. Obwohl die Ausgabe zu Cendrars’ 20. Geburtstag am 1. September 1907 erschienen sein soll, hat der Autor sie angeblich nie zu Gesicht bekommen; dennoch war es ihm möglich, die Publikation in ihrer graphischen Aufmachung so genau zu beschreiben, als hätte er sie in der Hand gehabt. Ganz und gar unwahrscheinlich bleibt die bisher nie problematisierte Tatsache, dass die Abfassung der Legende, die Übersetzung des anspruchsvollen Texts ins Russische sowie dessen Drucklegung innert bloss zwei Monaten vonstatten ging.
Oder könnte es sein, dass das von Cendrars oft genannte Erscheinungsjahr „1909“ gleichwohl richtig ist, dass man aber die Druckfassung vordatiert hat, um den Autor möglichst jung erscheinen zu lassen? Jugendlichkeit und Originalität gehörten bekanntlich zu den zentralen Postulaten der damaligen europäischen Avantgardebewegungen. Noch eine Vermutung sei hier, obwohl sie recht riskant und wohl kaum zu erhärten ist, zur Diskussion gestellt. Cendrars mag nämlich jenen mysteriösen „Übersetzer“ bewusst vorgeschoben haben, um davon abzulenken, dass er selbst die Legende in russischer Sprache abgefasst hat. Verschiedentlich wurde ja die sprachliche Unbeholfenheit der „Übersetzung“ bemängelt, doch vielleicht hat man es in Wirklichkeit mit der Unbeholfenheit eines hochbegabten Dichters zu tun, der sich, suchend und hastend, in einer Fremdsprache artikuliert, die er im Verlauf von zweieinhalb Jahren entsprechend erlernt haben dürfte – nicht anders als vor ihm Rainer Maria Rilke, der bereits nach wenigen Wochen des Selbststudiums und gelegentlicher Konversation russische Gedichte schrieb.
Doch zurück nun zur Legende. Nach der unerwarteten Entdeckung des russischen Erstdrucks, 1995, wurde der Text mehrfach als provisorische Rückübersetzung ins Französische vorgelegt, zuletzt 1998 als Einzelpublikation, zusammen mit dem Faksimile der russischen Ausgabe und ergänzt durch Illustrationen von Pierre Alechinsky, beim Verlag Fata Morgana; in die jüngste Werkausgabe von Cendrars (2001) ist La Légende de Novgorode nur mit dem Vorbehalt ihrer nach wie vor zweifelhaften Autorschaft aufgenommen worden.
Die beiden jetzt greifbaren Textfassungen – die russische Übersetzung einerseits (falls es denn eine „Übersetzung“ ist) und die französische Rückübersetzung andererseits – lassen durchaus erkennen, dass hier ein Autor von bemerkenswerter Eigenständigkeit und ungewöhnlichem poetischem Furor am Werk war. Formal und motivisch nimmt die Legende, ein rhapsodisches, in langen Versen und grossen Strophen sich entfaltendes Poem, manches vorweg (oder deutet es an), was Jahre danach in Pâques à New York (1912) und La Prose du Transsibérien (1913) unverkennbar wiederkehren wird: ein nomadisch bewegtes lyrisches Ich, das ständig schwankt zwischen Grandiosität und Zerknirschung, das kein Ziel, aber viele Wege kennt, das sich gern als Bürgerschreck und Globetrotter, aber auch als tragischer Held oder Märtyrer geriert, das in der Liebe gleichermassen zu Zynismus und Sentimentalität neigt, das die Alltagswelt mit vielerlei Mythen und seine Lebensgeschichte immer wieder mit der Weltgeschichte verschränkt. Dass in der Legende auch schon die „kleine Jeanne“ namentlich eingeführt wird, die dann in La Prose du Transsibérien die weibliche Hauptrolle zugedacht bekommt, macht den direkten genetischen Zusammenhang zwischen den beiden Werken offenkundig.
Auch in der Legende stellt sich das lyrische Ich mit einer präzisen Altersangabe vor:

Zu jener Zeit war ich ein junger Mann von siebzehn Jahren…

Und:

Erst damals war ich ein richtiger Dichter.

Mithin wäre das im Text rapportierte Geschehen auf die Zeit um und nach 1904 anzusetzen, was in der Tat genau mit Cendrars’ Russlandaufenthalt übereinstimmt.

Ich wollte mich in das Leben der Poesie stürzen
und also musste ich durch die Poesie des Lebens hindurch.

Zur Poesie des Lebens gehörten nicht nur zahllose Reiseabenteuer und Sexeskapaden, sondern auch die erste grosse Liebe, und vor allem diese hat den Jüngling zum Mann, den Mann zum Dichter gemacht. Der Feuertod der Geliebten scheint die Initiation vollendet zu haben:

… einer weissen Nacht ähnlich ist mein Gedächtnis bis auf diesen Tag,
denn man hat meine Helena entführt
und Troja hat sich bereits in Asche verwandelt…

Der junge Dichter, Verfasser der Légende de Novgorode, hat darauf hin – so heisst es wörtlich im Text – „sich selber wie Asche gesehen, / nach der Feuerglut der Gefühle und Hoffnungen“. Aus „Feuerglut“ (braise) und „Asche“ (cendre) formte Frédéric Sauser in der Folge seinen Dichternamen, den er als Pseudonym ab 1911 bis zu seinem Lebensende beibehielt: Blaise Cendrars.

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 13./14.11.2004

Drittes Gespräch

Blaise Cendrars: Halt, Manoll! Was ziehen Sie da aus Ihrer Tasche? Ich will das nicht gesehen haben! Sie mogeln. Stecken Sie es wieder ein. Sie wissen genau, dass ich mir für unsere Radiogespräche Improvisation und Spontaneität ausbedungen habe. Wenn Fragen und Antworten im voraus festgelegt sind, hat dieses Spiel am Mikrofon keinen Sinn mehr. Man könnte sonst ebensogut in der Sorbonne eine Vorlesung halten oder einen Vortrag in einem gelehrten Zirkel, was nicht mein Fall ist, das wissen Sie genau.

Michel Manoll: Bei unserem letzten Gespräch hätte ich gern mit Ihnen über Gérard de Nerval gesprochen, doch die Zeit ist uns davongelaufen. Ich dachte vor allem an ihn, als ich sagte, dass ein Mann Sie entscheidend geprägt hat: Gérard de Nerval. Der Mensch Gérard de Nerval und dessen Leben vielleicht mehr noch als der Dichter, der versucht hat, ein Gleichgewicht zwischen der magischen und der wirklichen Welt…

Cendrars: Le rêve et la vie – Traum und Leben –, was Goethe Dichtung und Wahrheit nannte.

Manoll: Sie zitieren in einem Ihrer Bücher einen Vierzeiler von Gérard de Nerval. Den hatte ich mir aufgeschrieben. Gestatten Sie mir, dass ich ihn vorlese?

In Grabesnacht, du, die ein Trost mir war,
gib mir den Posilip, gib mir Italiens Meer zurück,
die Blume, die meinem verhärmten Herzen so gefiel,
und das Spalier, wo Rose sich und Rebe innig sind.

Deuten Sie durch dieses Zitat an, dass Gérard de Nerval Ihnen das Thema für Ihr Buch vorgegeben hat?

Cendrars: Mein ganzes Leben ist durch die Lektüre von Gérard de Nervals Werk stark beeinflusst worden, das stimmt, dennoch würde ich mir nie erlauben, mit solcher Deutlichkeit zu behaupten, dass er mir ein Thema vorgegeben hat. Dieser Vierzeiler aus El Desdichado ist tatsächlich einer der geheimen Schlüssel meiner Geschichte, aber die Geschichte selbst, die ganze Geschichte, ist die Heraufbeschwörung von Kindheitserinnerungen, würde ich sagen. Die Lektüre von Gérard de Nervals Werk und insbesondere von Filles du feu, ist im übrigen ebenfalls eine Kindheitserinnerung. Ich war zehn, als mein Vater mir das Buch zum Geburtstag schenkte, und ich habe es über die Jahre immer wieder gelesen. Ich verdanke Gérard de Nerval vor allem meine Liebe zum Volkslied, dessen Geschichte er am Beispiel der Volkslieder aus dem Valois skizziert; ich kannte alle Strophen auswendig, und später, als ich glaubte, Musiker zu sein, versuchte ich sie originalgetreu zu vertonen oder forschte in der Bibliothek der Pariser Oper nach Aufzeichnungen. Man findet dort allerdings jede Menge Ballettchoreographien, aber keine Lieder aus dem Valois. Ich verdanke ihm aber auch meine Liebe zur Volksdichtung; und überall auf der Welt habe ich, wenn immer möglich, Volksmusik, Volksdichtung und Volksliteratur gehört und gelesen und aufgezeichnet: vor allem in Russland, in China und in Brasilien natürlich.
Wenn ich zum erstenmal in einem Land oder in einer grossen, mir noch fremden Stadt ankomme, mache ich gewöhnlich zuallererst einen Rundgang durch die Buchhandlungen, durch die kleinen Buchhandlungen in den Arbeitervierteln, um zu sehen, was das einfache Volk liest. Es wird viel Alexandre Dumas gelesen, Mantel- und Degenromane, Liebesromane für Tippfräuleins; von Ausnahmen abgesehen, haben Tippfräuleins weltweit die gleiche Mentalität. Aber es gibt in jedem Land eine ganze Reihe von Werken, die ausschliesslich dem Populären vorbehalten sind, Bücher wie zum Beispiel Der Schlüssel zu den Träumen, Die Sprache der Blumen und tausend andere. Auch wenn diese Gattung Kolportageliteratur in Paris vielleicht etwas aus der Mode gekommen ist, in einem Land wie Brasilien jedoch, einem noch jungen Land, erscheint alles neu, und ganze Volksschichten, die noch kaum lesen können, entdecken erst jetzt die Geschichten über Hexerei, von Werwölfen, vom Maultier ohne Kopf, von der Weissen Frau, Gespenstergeschichten, Gruselgeschichten, Romanzen, Märchen, Ritterromane, Räuberromane, berühmte Liebeskriminalfälle, Blütenlesen… ein magisches Universum! Es wäre allzu billig, diese Literatur als Schund und als rückständig zu belächeln, wenn man an die Beliebtheit der Detektivromane in England und der Gangsterabenteuer in den Vereinigen Staaten denkt, in viel entwickelteren Ländern also; oder an den Erfolg der grossen Liebesfilme in allen Kinos überall auf Welt, die ebenfalls auf den alten Wurzeln folkloristischer Tradition beruhen, also aus der Volksliteratur entstanden sind.

Manoll: Ist die Folklore Brasiliens nicht ausschliesslich auf die Neger zurückzuführen?

Cendrars: Überhaupt nicht, die literarische Folklore ist portugiesischen Ursprungs. Die Kolportageliteratur wurde aus Portugal importiert; sie ist die eigentliche Grundlage der nationalen brasilianischen Literatur, und zwar in weit grösserem Masse als die Werke brasilianischer Intellektueller, die ihrerseits – bis vor ein paar Jahren zumindest – alle mehr oder weniger von der akademischen französischen Literatur beeinflusst worden sind, so wie die jüngste Generation der brasilianischen Schriftsteller von den nordamerikanischen Schriftstellern der Zwischenkriegszeit beeinflusst ist, die wiederum hauptsächlich in Paris lebten und sich bei uns in Saint-Germain-des-Prés und in Montparnasse à jour hielten: Hemingway, John Dos Passos, Henry Miller.

Manoll: Haben denn die verpflanzten Neger geschrieben?

Cendrars: Die verpflanzten Neger, das heisst die Sklaven, schrieben nicht. Das Schreiben war ihnen untersagt, und nur ganz wenige durften lesen oder schreiben lernen. Überdies war es in Brasilien verboten, Bücher zu drucken: Alles kam aus dem Mutterland. Die erste Druckpresse in Rio de Janeiro wurde erst 1818 eingerichtet, zur Zeit des Kaiserreichs also. Daher sind die gesammelten Gedichte von Gregório de Matos Guerra – er lebte von 1633 bis 1696 –, den man zu Recht den François Villon Brasiliens nennt und den seine Zeitgenossen wegen seiner ätzenden Satiren über die Kolonialgesellschaft boca do inferno nannten, erst 1882 in Rio gedruckt worden. Vorher wurden sie mündlich oder durch handschriftliche Aufzeichnungen überliefert, die in einer bestimmten Gesellschaftsschicht von Hand zu Hand gingen: der Boheme Bahias.

Manoll: War er ein Neger?

Cendrars: Nein, höchstens ein sehr dunkelhäutiger Mulatte, ein pardo, wie man dort sagt. Seine Eltern besassen eine Zuckerrohrpflanzung und hundertdreissig schwarze Sklaven. Er hatte die Chance gehabt, in Coimbra, der berühmten Universität Portugals, Jurisprudenz studieren zu dürfen. In Bahia zurück, wurde er wegen seiner dämonischen Zunge und seiner teuflischen Schmähungen nach Angola ins Exil geschickt, nach Afrika, von wo er zorniger denn je zurückkehrte und sich, unter Hausarrest gestellt, in Pernambuco niederliess. Keineswegs gebessert, führte er von da an mit den Negerinnen des Hafenviertels ein lasterhaftes Trinkerleben. Alle seine Liebeslieder, und es gibt wunderbare darunter, preisen die schwarze Venus. Er ist im Elend gestorben. Er soll mit seiner Gitarre, seiner einzigen Habe, begraben worden sein wie der gemeinste Schurke.

Manoll: Und die Literatur der Schwarzen?

Cendrars: Sie ist ebenfalls mündlich überliefert worden. Man vergisst, dass in den Schiffsladungen mit den Tausenden von Sklaven, die die Sklavenschiffe an den Küsten der Neuen Welt entluden, nicht nur alle afrikanischen Volksstämme vertreten waren, die, je nach physischer Ausdauer oder umgänglichem Charakter, bei den Sklavenhändlern und Pflanzern unterschiedlich beliebt waren, sondern dass es darunter auch Schwarze von hohem sozialen Status gab, die Schmiede zum Beispiel, Medizinmänner, Wodupriester, Magier, Feticheure, Trommler, Geschichtenerzähler, Dichter, Krieger, kurz Königssöhne, die man, bunt durcheinander, mit dem übrigen menschlichen Vieh verkaufte und mit der Sklavenmasse auf die Plantagen verteilte. Sie gingen unter der stigmatisierenden Bezeichnung „Marronneger“ in die Geschichte ein, weil sie sich nicht unterordneten, weil sie flohen, weil sie sich auflehnten, weil sie ihre Stammesbrüder zur Revolte aufriefen, weil sie in den Augen der christlichen Missionare einen zu grossen Einfluss auf ihre Gefährten ausübten, weil sich diese Anführer nicht unter den Peitschenhieben beugten und, ohne mit der Wimper zu zucken, die schlimmsten Folterungen über sich ergehen liessen, weil sie in den Augen ihrer Landsleute als Wunderwesen galten, weil einige von ihnen – das stimmt – die schlimmsten Verbrechen an den Weissen verübten und Rache predigten, weil die Geschichtenerzähler die Erinnerung wachhielten, aufwiegelten, die alten Rituale weitergaben, weil sie bestraften und durch Terror und Okkultismus herrschten. Diese vereinzelten Männer waren es – Vogelfreie, Verbannte, Gejagte, Gesetzlose, Verfolgte, Gezeichnete, mit dem glühenden Eisen Gebrandmarkte, von denen die Kolonialchroniken bloss den Vornamen oder den entehrenden Spitznamen der öffentlich Hingerichteten und Gefolterten und an den Pranger Genagelten überliefert haben –, diese Kriminellen waren es also, die im Exil ihr Volk retteten und, dank ihrem Beispiel und ihrer Aufopferung, der Seele der amerikanischen Schwarzen ermöglichten, trotz drei Jahrhunderten der Unterdrückung, der Knechtung, des psychischen Elends, der Zwangsarbeit, der Verdächtigungen, der Schmach, der Verachtung, der Herabwürdigung und des Spotts nicht zu verkümmern und trotz der aufgezwungenen Taufe nicht ganz von der überlieferten Dichtung und den Religionen Afrikas abgeschnitten zu werden. Der Geist weht, wo er will. Und ausgerechnet Graf Gobineau war es, der Theoretiker und Gründer des arischen Rassismus, jener Verächter der farbigen Rassen, der dem verfluchten Neger die Krone der Dichtung aufsetzte.

Manoll: Das alles ist hoch interessant. Doch sagen Sie, Cendrars, warum haben Sie die brasilianischen Schwarzen nicht in Ihre Anthologie nègre aufgenommen?

Cendrars: Das ist eine andere Geschichte. Ich hatte meine Anthologie nègre auf drei Bände angelegt. Band I: Die Erfassung aller in der Nationalbibliothek vorhandenen Werke, die bis zum Ersten Weltkrieg über die Literatur der Neger veröffentlicht worden sind. Band II: Die Erfassung aller im British Museum vorhandenen, im Ausland erschienenen Werke, die die Nationalbibliothek nicht besitzt. Band III: Was ich selber in Afrika, in Nord- und Südamerika und vor allem in Brasilien aus dem Mund Schwarzer erfahren und zusammengetragen habe. Nur Band I ist erschienen, und glauben Sie mir, es war überhaupt nicht einfach, einen Verleger für ein so inaktuelles und umfangreiches Werk zu finden – und erst noch mitten in der Papierkrise von 1919 bis 1921. Trotzdem, schleppend und nach und nach sind bis heute drei Auflagen und eine amerikanische Ausgabe erschienen.

Manoll: Und die beiden anderen Bände?

Cendrars: Die Deutschen nahmen die Dinge in die Hand. 1940 war Band II zum grössten Teil fertiggestellt, und Band III war druckfertig. Im Juni 1940 nahmen die Deutschen die Dinge in die Hand und räumten mein Haus im Seine-et-Oise aus. Man hat mir gesagt, nichts sei übriggeblieben. Ich bin noch nicht nachsehen gegangen. Reden wir nicht mehr davon!

Manoll: Gut. Aber erzählen Sie uns doch, Cendrars, wie Sie es anstellen, um Geschichten aus dem Mund von Schwarzen zu sammeln.

Cendrars: Das ist die einfachste Sache der Welt, Sie werden sehen. Kommen Sie, folgen Sie mir nach Rio. Ich weiss nicht, ob Sie eine Ahnung von Rio de Janeiro haben. Es ist eine Weltstadt von über zwei Millionen Einwohnern, eine hochmoderne Stadt mit vielen Wolkenkratzern, mit endlosen, schnurgeraden Avenuen und buchtigen Stränden. Zerklüftete, von Urwald überwucherte Berge und dichte tropische Vegetation umringen auf der einen Seite die Stadt und dämmen ihre Ausbreitung ins Landesinnere ein; quer durch die Stadtmitte erstreckt sich eine bizarr geformte Hügelkette mit einem Gewirr von Ausläufern, die die verschiedenen Stadtviertel voneinander abtrennen und einen zu Umwegen und Umfahrungen zwingen, die weiss Gott wohin führen und den Verkehr unvorstellbar erschweren und behindern, ja unmöglich machen. Es sind die morros, und der berühmteste ist der Morro da Favela, an dessen Hängen sich abgelegene Vororte und unglaubliche Stadtviertel hinaufschlängeln. Man befindet sich mitten in der Wildnis. Tausend improvisierte Wege und Pfade führen durch einen urbanen Busch auf die Kuppen der Hügel, von wo aus man auf die Stadt in der Tiefe hinunterblickt. Dort oben wohnen die Neger in ihren blauen casinhas, sie leben, wie es ihnen passt und absolut frei in den Tag hinein, singen, tanzen die ganze Nacht und feiern ihre macumbas. Sie steigen selten in die Stadt hinunter, ausser für den Karneval, doch während des Karnevals sind sie die Herren! Die Stadtverwaltung hat Projekte für die Verkehrserschliessung der Stadt in Auftrag gegeben und Spezialisten aus der ganzen Welt zugezogen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen: die Hügel abzutragen und sich so der schwankenden Negerbevölkerung zu entledigen, sie ihre Häuser räumen zu lassen und sie in bereits fertiggestellten Wohnvierteln anzusiedeln. Doch das Problem ist unlösbar, weil es von einer zu gewaltigen Dimension ist. In der Bucht wurde bereits ein erster Hügel geschleift, der schönste, der Morro do Castelo, einst Teil des historischen Panoramas Rio de Janeiros. Der Ingenieur, der diese Leistung vollbrachte, brauchte zehn Jahre dazu; er musste riesige sluices einsetzen, um den Granit abzutragen und die Stadt zu amputieren. Andere begnügten sich damit, Tunnels für Strassenbahnen und Autobusse zu bohren und so die verschiedenen Stadtviertel direkt miteinander zu verbinden; der zuletzt gekommene, Le Corbusier, wollte einen riesigen Eisenviadukt bauen, der von morro zu morro, führte, eine durchlaufende Brücke, die auf den Hügelkuppen auflag und deren obere Fahrbahn ausschliesslich dem Autoverkehr vorbehalten gewesen wäre; darunter wollte er hundertstöckige Gebäude hängen, ähnlich wie die Stöcke der wilden Bienen in den riesigen Wäldern Brasiliens, „Meereskratzer“ sagte er, „die die Wolkenkratzer in den Schatten stellen werden.“ Ein, zugegeben, origineller Gedanke; ich fand ihn jedenfalls grossartig. Leider war die Idee aus einer Million guter Gründe undurchführbar, an die Le Corbusier niemals gedacht hat, denn mein Freund Corbu ist eher Dichter denn Stadtplaner, daher sein Abscheu vor praktischen Problemen.

Manoll: Eine wunderbare Geschichte, Cendrars, Ihre Geschichte von den Meereskratzern. Aber was ist mit Ihren Negern?

Cendrars: Warten Sie, ich komme gleich darauf zurück. Wenn man in Rio de Janeiro ankommt, fällt der Blick zuerst auf die mit kleinen blauen Häusern und Wäscheleinen übersäten Hügel. Stellen Sie sich zehn, zwölf märchenhaft exotische Montmartres vor. Und natürlich möchte man hin. Doch niemand geht jemals hin. „Die Favela ist gefährlich, Cendrars. Gehen Sie nicht hin. Es ist lebensgefährlich!“ warnte man mich. Der Präfekt von Rio, ein Freund von mir, bot mir an, mich von einem Beamten der Kriminalpolizei begleiten zu lassen, was ich natürlich ablehnte. Und wissen Sie, wie ich trotzdem hingegangen bin und mich mit den Leuten angefreundet und meine Angst abgelegt habe? Es gibt nämlich kein sanftmütigeres Volk als die Schwarzen auf den Hügeln und in den Vorstädten Rios! Ein anderer Freund, ein junger Arzt, Assistenzarzt im Krankenhaus des pronto-socorro, hatte jeweils Bereitschaftsdienst, und wenn ein Telefonanruf kam, fuhr er mit seinem Ambulanzwagen los, einem kleinen Ford, der überall durchkam, um den Unfallopfern, den gebärenden Frauen, den an Angina erstickenden kranken Kindern, den Malariakranken oder Fiebernden, die Angst hatten, am Gelben Fieber, Rios Alptraum, zu sterben, Erste Hilfe zu leisten, um die Ermordeten einzusammeln oder die Selbstmörder oder die Irren. Ich leistete ihm in der Notaufnahme Gesellschaft, beim ersten Anruf sprang ich auf den Beifahrersitz, und wir rasten durch die Nacht, fuhren überallhin, und auf diese Weise drang ich in die nahen oder entfernten schwarzen Vorstädte vor, wohin sich kein Weisser wagt und schon gar nicht die Cariocas, die allein beim Gedanken daran zittern. Das führte dazu, dass ich mich schnell mit den Negern anfreundete, die sahen, was für eine Art Kerl „der kleine, freundliche einarmige Franzose“ war, der dem Onkel Doktor bei seiner Arbeit half und sich mit den Leuten verständigen konnte. Ich war meistens gern gesehen und wurde mit dem bei den Negern – auch bei den Ärmsten – üblichen und unerlässlichen Zeremoniell empfangen, so dass ich später oft allein und nach meinem Gutdünken zurückkehrte und ihre Musik kennenlernte…

Manoll: Ihre Musik…

Cendrars: Die Gitarrenspieler. Ihre Lieder. Sie sangen, und ich stenographierte den Text der Lieder. Ihre naive Poesie ist einmalig. In Vollmondnächten finden Wettbewerbe statt, und die schwarzen Dichter fordern einander gegenseitig heraus. Ein Reim, ein Bild, ein Vers… Es handelt sich immer um eine Improvisation.

Manoll: Es handelt sich immer um eine Improvisation, aber der alte Kern der schwarzen Magie ist dennoch erkennbar…

Cendrars: Wenn man genau hinhört, ja, und oft nur durch Vokabeln, die nichts bedeuten und die spontan erfunden werden. Es ist wunderbar. In Rio gab es einen Mulatten, den ich sehr mochte. Er glich Max Jacob wie ein Bruder. Er war ebenso schlecht angezogen wie unser Dichter, und er war durchtrieben, gnadenlos und boshaft wie Max. Ich nenne seinen Namen nicht, weil er der Liebhaber einer vornehmen Dame war und ich möchte seinen amourösen Geschäften nicht schaden; die Brasilianerinnen sind übertrieben empfindlich. Er kannte jedermann in Rio, und er erzählte mir unwahrscheinliche Geschichten, genau wie Max Jacob, aber witzige, kluge, mit Andeutungen gespickte und oft perfide, denn er konnte sein Mundwerk ebensowenig im Zaum halten wie Max. Er war es, der mich in Rio überallhin geführt hat, in die Kneipen der verrufenen Stadtviertel und in die Matrosenbars in den entfernten Hafenvorstädten, zu den ländlichen Tanzveranstaltungen am Samstagabend, und am Sonntagnachmittag ins Cinéma-Poassière im Stadtzentrum, einen Klub auserwählter Neger. Dort lernte ich Donga kennen, der mein Freund wurde. Er war ein echter Neger, ein reinrassiger Dahome, mit einem Gesicht so rund wie der Vollmond, immer gut gelaunt und zu Spässen aufgelegt. Er war ein hochbegabter Künstler und hatte Hunderte von Volksliedern, Sambas und Karnevalsschlagern komponiert, darunter Le Bœuf sur le toit. Er hatte erfahren, dass ich Darius Milhaud kannte, und bei unserer ersten Begegnung sagte er freundlich zu mir: „Bestellen Sie doch Ihrem Freund Monsieur Milhaud, dass ich mich über eine Ansichtskarte aus Paris freuen würde. Er schuldet sie mir nämlich, weil er meine Musik verwendet hat. Ich möchte jetzt gern zu Ehren von Paris, das ich nicht kenne, La Vache dans la Tour Eiffel komponieren.“1 Donga hatte ein kleines, typisches brasilianisches Orchester zusammengestellt, mit Viola, grosser Flöte, Pikkoloflöte, Klarinette, Pfeife, chocalho und batuta. Er hatte ziemlich Erfolg und trat mit seinem kleinen Orchester in ein paar Hotels in der Avenida auf, wo man früher niemals ein Negerorchester geduldet hätte. Dieser Erfolg wurde ihm zum Verhängnis, denn er konnte sich dem Einfluss des amerikanischen Jazz nicht entziehen, der damals beim tanzenden Publikum aus der Bourgeoisie im Schwange war, und um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war er gezwungen, sein Orchester zu dirigieren, es auftreten zu lassen, zu komponieren, seine brasilianische Musik zu improvisieren und sie entsprechend der amerikanischen Mode zu instrumentieren und nordamerikanische Rhythmen nachzuahmen, so dass ich sehr befürchte, dass man die wunderbare negro-brasilianische Volksmusik mit ihren schönen, schwebenden synkopierten Rhythmen künftig nur noch im tiefsten Landesinnern hören kann, in den abgelegenen Dörfern des Sertão, wo ich sie aufgezeichnet habe. Ich brachte Schallplatten aus Brasilien zurück, die leider, leider verlorengegangen sind. Denn als 1940 mein Haus auf dem Land geplündert wurde, verlor ich alles, alle meine Bücher, meine Dokumente, alles. Es war ein schwerer Schlag für mich, als ich davon in Aix-en-Provence erfuhr, wo ich mich während der ganzen Besetzung ruhig abseits hielt. Doch nach ein paar Tagen sagte ich mir: „Was für ein Glück! Was für ein Glück, Mann! Noch ein Packen Arbeit…“

Manoll: Sie waren bei Paquita, im Schloss…

Cendrars: Ganze zehn Jahre Arbeit. Ich habe mich damit abgefunden. Der Boche war da, er nahm alles an die Hand… Eine Schande! Als ich wieder zu schreiben anfing, von 1943 an also, begann ich, an dem Zyklus zu schreiben, den Sie kürzlich erwähnt haben, an meinen Erinnerungen, wie Sie das nennen, Erinnerungen, die keine Erinnerungen sind…

Manoll: Ich habe von Bourlinguer gesprochen…

Cendrars: Genau, um diesen Zyklus handelt es sich. Ich habe fröhlich wieder von vorn angefangen und bin neue Wege gegangen. Was die Stilrichtung angeht, so glaube ich, dass ich meinen persönlichen Stil sehr weit entwickelt habe, und was den Aufbau und den Ablauf angeht, habe ich vor allem versucht, den Begriff der Zeit aufzuheben. Mit anderen Worten: Beim Aufbau habe ich mich an Einsteins Relativität orientiert, und beim Ablauf an der Kompositionstechnik von Johann Sebastian Bach…

Manoll: Nein, das ist nicht der Kontrapunkt, der sich aus dem zentralen Thema ableitet…

Cendrars: Ein Kontrapunkt?

Manoll: … der erklärt…

Cendrars: Diese Texte sind ähnlich geschrieben wie Musik…

Manoll: Genau, wie Musik! Das ist es, was ich sagen wollte…

Cendrars: Nehmen Sie zum Beispiel die Rhapsodies gitanes – allein schon das Wort „Rhapsodie“ weist darauf hin, dass es sich um eine eher musikalische Form handelt –, und Sie werden feststellen, dass alle vier den gleichen Umfang haben, das heisst, jede umfasst gleich viele Seiten, und dass die vier Geschichten durch einen Faden verbunden sind, der das Thema strukturiert.

Manoll: Sie haben den Schlüssel zu einer Geschichte gegeben, nicht aber zu den anderen.

Cendrars: Ich gebe ihn Ihnen heute. Ich wollte sehen, ob die Literaturkritik ihn von alleine entdecken würde. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde meine Geschichten verschandeln. Inzwischen beginnt sie zu ahnen, dass es sich um etwas anderes handelt.

Manoll: In Le Lotissement du ciel, in La Tour Eiffel sidérale zum Beispiel, weist der Text immerhin eine grosse Einheitlichkeit auf ihre Erinnerung nämlich, ihr persönliches Erleben. Befürchten Sie nicht, dass die ständig den Text überlagernden Erinnerungen den Leser ablenken könnten?

Cendrars: Ich glaube nicht.

Manoll: Sie glauben es nicht?

Cendrars: Ich glaube nicht, dass dies den Leser ablenken könnte.

Manoll: Jeder hat seine eigene Arbeitstechnik.

Cendrars: Das Resultat ist jedenfalls ausgezeichnet, und das ist der Grund, warum ich aufgehört habe zu schreiben: Wenn Schreiben zu einer Technik wird, interessiert es mich nicht mehr. Weil ich nicht nur einen Horror vor dem Schreiben habe, wie ich schon wiederholt gesagt habe, sondern weil ich nach der Besetzung und dem ganzen Schlamassel – worüber ich nicht mehr sprechen möchte – gezwungen war zu schreiben. Ich zwang mich also, jeden Tag von dann bis dann zu schreiben, und mit ein bisschen Übung schafft man natürlich eine ganze Menge. Wenn das Ganze eine Methode wird, ein Rezept, etwas Einfaches, langweilt es mich. Ich habe aufgehört. Ich habe auf die geplanten zehn Bücher verzichtet, und ich weiss nicht, ob ich sie jemals wiederaufnehmen werde, denn in den vergangenen Jahren haben mich viel zu viele in Villefranche-sur-Mer besucht, die den Ort, wohin ich mich zurückgezogen hatte, wunderbar fanden… herrlich… wie für mich geschaffen… Und sie sahen mich bereits bis ans Ende meiner Tage in Saint-Segond festgenagelt; die Verleger boten mir daher freudig Verträge für einen Band im Jahr an, für zwei Bände im Jahr, für drei Bände im Jahr… nichts konnte mehr schief gehen. Natürlich hätte man mir ein Diktaphon oder sonst ein Aufzeichnungsgerät zur Verfügung gestellt. Schliesslich hatte ich das ganze Theater satt; im übrigen hatte ich einen Parforceritt hinter mir und war tatsächlich erschöpft. Eine Erschöpfung mit positiver Wirkung, denn sie hat dazu geführt, dass mir das zuletzt erschienene Buch völlig egal ist, und ich hoffe, dass ich mir in Zukunft die Plackerei vom Hals halten kann. Täglich achtzehn Stunden Schreibmaschine. Mir reicht’s.

Manoll: Schreiben Sie zur Zeit?

Cendrars: Ich schreibe nicht, ich besuche Sie vor Ihrem Mikrofon. Doch wenn diese Gesprächsreihe zu Ende ist – das heisst, falls ich dieses Jahr wieder zu schreiben anfange, was ich noch bezweifle –, werde ich einen Roman in Angriff nehmen, einen richtigen Roman.

Manoll: Einen von jenen, die Sie bereits angekündigt haben? La Carissima? L’Avocat du diable? Les Paradis enfantins?

Cendrars: Nein, die können alle warten. Sie sind alle bereits angefangen, gewisse sind sogar ziemlich weit fortgeschritten. Die Lust müsste mich packen – wie seinerzeit bei L’Or, das ich in sechs Wochen geschrieben habe –, oder plötzlicher Geldmangel müsste mich dazu zwingen; ich müsste mich einschliessen und das eine oder andere in ein paar Wochen fertig schreiben. Doch was neue Projekte angeht, ein neues literarisches Werk, habe ich ein wunderbares Thema, und diesmal wird es sich um einen richtigen Roman handeln.

Manoll: Einen Roman? Einen richtigen Roman? Wie Mauriac?

Cendrars: Lassen Sie mich mit Mauriac in Frieden, die alte Betschwester geht mir auf den Geist. Hat er denn keinen Freund, der ihm rät, endlich aufzuhören, ständig in fünfzehn Franc teuren Zeitungen vom lieben Gott zu reden? Er ist genau wie eine Elster, die sich auf alles stürzt, was glänzt. Würden die Zeitungen immer noch einen Sou kosten, so bin ich überzeugt, dass er nicht soviel von ihm reden würde. Stellen Sie sich vor: der liebe Gott zu einem Sou! Ein lieber Gott der Armen!

Manoll: Stört Sie das?

Cendrars: Nein, das stört mich überhaupt nicht. Ich stelle es ohne Missgunst oder Arglist fest, weil es jedermann denkt. Wo waren wir geblieben?

Manoll: Sie haben von Ihrem nächsten Roman gesprochen, einem richtigen Roman.

Cendrars: Ja, von einem Roman, in dem ich selber nicht vorkomme.

Manoll: In dem man aber trotzdem ein paar Fakten aus Ihrem Leben finden wird?

Cendrars: Nein-nein-nein-nein, überhaupt nicht, in diesem Roman wird man mich nicht finden; es wird sich um einen Roman-Roman2 handeln, und ich werde darin nicht in Erscheinung treten, weil man in meinen Büchern ständig nur eine einzige zentrale Gestalt sieht: Cendrars! Das ist nicht besonders originell. L’Or, das ist Cendrars. Moravagine, das ist Cendrars. Dan Yack, das ist Cendrars. Was mich langsam nervt. Es ist doch gar zu einfach zu glauben, die Personen eines Romans seien die Verkörperung des Autors. Flaubert war nicht Madame Bovary. Es mag ihm noch so hundeelend gewesen sein, als er Emmas Vergiftung beschrieb, und er mag die gleichen Symptome wie die von Magenkrämpfen geschüttelte Sterbende gehabt haben: Er war dennoch nicht Madame Bovary, obwohl er selbst es geglaubt und verkündet hat: „Madame Bovary, das bin ich.“ Demnach soll der kräftige Normand bloss eine alte Tante gewesen sein? Zugegeben, er hatte alle Mängel eines Literaten und erneuerte sich nicht besonders… Aber von da aus gleich Folgerungen zu ziehen, das ist doch ziemlich weit hergeholt. Die grösste Gefahr für einen Schriftsteller besteht darin, Opfer seiner Legende zu werden, in die eigene Falle zu laufen.

Manoll: Cendrars, der Weltenbummler! Wann gehen Sie wieder auf Reisen, Cendrars?

Cendrars: Ich weiss nicht. Ich hätte grosse Lust, nach China zu gehen, und wenn nicht nach China, dann eben nach Indien.

Manoll: Wird Sie das nicht davon abhalten, Ihren nächsten Roman zu schreiben?

Cendrars: Nein. Bis es soweit ist, wird wahrscheinlich noch geraume Zeit vergehen, aber inzwischen bin ich vielleicht bis ans Ende der Welt vorgedrungen. Was mich nicht am Schreiben hindern wird. Ich hoffe sogar, dass ich am anderen Ende der Welt ganz anders schreiben werde. Ein lebender Schriftsteller muss sich erneuern. Die Erfahrung der Fremde trägt dazu bei.

Manoll: Wie halten Sie es, wenn Sie auf Reisen sind? Schreiben Sie an Bord? In Ihrer Kabine? Oder erst wenn Sie zurück sind?

Cendrars: Ich liebe Seereisen und das einmalige Leben an Bord viel zu sehr, als dass ich ans Arbeiten denken würde. Es ist die Apotheose des Müssiggangs, ein Triumph des Nichtstuns, während das Deck schlingert, das Schiff die Wellen durchpflügt, die Maschinen stampfen, der Ozean wogt, der Wind pfeift, die Erde sich mit dem Himmel und den Sternen dreht und das ganze Universum auf einen zustürzt und sich auftut, um einen durchzulassen. Ich habe es nie eilig, ans Ziel zu gelangen; ich habe Dutzende Male versucht, einen Kapitän zu überreden, sein Schiff zu wenden und in eine andere Richtung zu fahren und nicht in seinen Zielhafen. „Leider unmöglich!“ meinte ein alter Holländer. „Seit dreissig Jahren fahre ich jeden Monat die Strecke Buenos Aires-Rotterdam hin und zurück, wie ein gewöhnlicher Lokführer. Unmöglich, etwas daran zu ändern; die Route ist im voraus festgelegt und der Fahrplan aufgestellt, ich muss an dem und dem Tag zu einer bestimmten Stunde ankommen, alles ist im voraus von der Schiffahrtsgesellschaft bestimmt, und sie hat das Sagen, nicht ich. Das Ärgerliche ist nur, dass es immer die gleichen Leute sind, die ich an meinen Tisch laden muss! Seit dreissig Jahren die gleichen Geschäftsleute, die gleichen Nabobs, die gleichen berühmten Bankiers. Ich hab’s bis obenauf satt! Wenn ich bloss den Mut hätte, Ihren diabolischen Vorschlag zu befolgen, das Steuer herumzuwerfen und einen anderen Kurs einzuschlagen, ob nach Osten oder nach Westen, egal. Das Kap umfahren, in die Südsee stechen…!“

Manoll: Und Sie schliessen sich die meiste Zeit in Ihrer Kabine ein?

Cendrars: Ich erzähle das alles, um Ihnen zu erklären, Manoll, dass ich an Bord nicht arbeite.

Manoll: Aber wenn Sie arbeiten? Sie haben einmal gesagt, dass Sie die Spiegel verhüllen, wenn Sie schreiben.

Cendrars: Vor einem Spiegel schreiben ist der Gipfel des Narzissmus! Ich könnte das nie, selbst wenn ich bei mir zu Hause, in meinem Zimmer, eingesperrt wäre. Ich bin zu wenig eitel, um mir auf diese Art selber zu schmeicheln. Ich glaube, ich würde mich eher getrauen, vor einer Menschenmenge zu schreiben – wie Simenon es in der Halle der INTRANSIGEANT getan hat. André Gide gesteht in seinem Journal, dass, wenn er sich prüfend in einem Spiegel betrachtet, er einen müden, erschöpften, von der Mühsal des Lebens gequälten Mann vor sich sieht. Er sagt nicht, er sei von sich selbst angewidert. Und das ist schade, denn wenn er sagen würde, er sei von sich selbst angewidert, hätte er den Spiegel zerschlagen, wie ich es getan habe.

Manoll: Wenn Sie sich in Ihrer Küche in Aix einschliessen oder wenn Sie in Tremblay sind…

Cendrars: In Aix war ich gezwungen, in der Küche zu wohnen, es war der einzige Ort, wo ich zwei, drei alte Bretter verbrennen konnte, um nicht vor Kälte zu verrecken. Dieser Krieg, der letzte, der Weltkrieg, ist für mich eine Erinnerung an eisige Kälte. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so gefroren. Es begann an Bord eines Zerstörers Ihrer Majestät während einer Patrouille in der Nordsee, und so ging es alle Winter dieser Scheisse von einem Weltkrieg weiter, viele lange Winter, die alle ungewöhnlich rauh waren. Wenn ich in der Zeit der drôle de guerre an der Maginotlinie Material für meine Reportagen sammelte, sah man die armen Soldaten, die – ehrlich! – in den Kornspeichern Lothringens vor Kälte erfroren, überall. Auch in den ausgestorbenen Dörfern, wo die Exilierten jeden Moment glaubten, die Wölfe auftauchen zu sehen. Und ich, ebenfalls im Exil, in meiner Küche in Aix-en-Provence eingesperrt, habe gefroren und erst recht gefroren, denn sogar wenn man Brennmaterial besitzt, sind die alten Patrizierhäuser in Aix nicht beheizbar, ich aber hatte keines…

Manoll: Sie haben vorhin von André Gide gesprochen, der vor einem Spiegel schreibt. Sie haben gesagt, Schreiben sei eine geistige Projektion…

Cendrars: Ich könnte nie vor einer Landschaft schreiben…

Manoll: Alle Ihre Freunde machen es wie Sie: Sie stellen ihren Arbeitstisch vor eine Wand und schreiben: Rémy de Gourmont, Peisson, t’Serstevens…

Cendrars: Sie können Apollinaire hinzufügen, der ebenfalls in seiner Küche schrieb und der einen kleinen Tannenholztisch hatte abhobeln lassen, damit er millimetergenau in die Nische unter dem Fenster passte, einem liegenden Dachfenster à la Mansard. Guillaume liebte diese Ecke über alles und hielt sich mit Vorliebe dort auf. Eines Tages widerfuhr ihm sogar ein lächerliches Abenteuer mit dem kleinen…

Manoll: Ein Abenteuer? Bitte, erzählen Sie doch…

Cendrars: Nein, nichts… Ich hätte Ihnen beinahe eine galante Anekdote erzählt…

Manoll: Ach, kommen Sie…

Cendrars: Nein, keine galante, eine obszöne. Die würde nicht gesendet werden. Schade, denn alle Freunde Apollinaires, die die Geschichte kennen und sich köstlich amüsierten…

Manoll: Wie schade.

Cendrars: … klingt etwas zu sehr nach Schürzenheld…
Nun gut!
Allgemein lässt sich sagen, dass der Schriftsteller ein Klausner ist. Der heilige Hieronymus auf dem schönen Kupferstich von Albrecht Dürer sitzt in seiner Zelle. Er ist der Schutzpatron der Übersetzer. Ein Vielschreiber. Ein Löwe wacht, damit er nicht gestört wird.

Manoll: Wenn Sie schreiben, gönnen Sie sich hin und wieder etwas Urlaub? Oder sind Sie, im Gegenteil, an Ihren Arbeitstisch angeschirrt?

Cendrars: In den vergangenen Jahren war ich ständig an meine Schreibmaschine angeschirrt, daher bin ich ihrer überdrüssig… bis zum nächsten Mal natürlich.

Aus Blaise Cendrars: Am Mikrofon. Gespräche mit Michel Manoll, Lenos Verlag, 1999

 

Hans-Jürgen Heinrichs: Die Signatur des Feuers

Forian Vetsch: Pionier Rückwärts auf dem Zeitstrahl

Jay: Blaise Cendrars

Jan Volker Röhnert: Das Fahrrad von Blaise Cendrars

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hugo Dittberner: Die Lokomotive des Schreibens
Frankfurter Rundschau, 1.10.1986

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Blaise Cendrars (1887–1961). Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 in der Reihe Un siècle d’écrivains.

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