Brigitte Oleschinski: Nach Georg Trakls Gedicht „Grodek“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Nach Georg Trakls Gedicht „Grodek“. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Grodek

2. Fassung

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldenen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

 

Trakl Tapete

Ich kann und kann mir nicht erklären, woher das zweite „d“ kam. Es dunkelte den Klang ab, nahm der inneren Stimme das zu Nördliche, zu Westrheinische, aber es war eine reine Erfindung, es stand so nirgendwo sonst, nur auf der Tapete.
Trakls Kriegsgedicht. Das Kriegsgedicht. Ich hatte noch andere, „Patrouille“ von August Stramm, und von Carl Sandburg „Gras“, in der kongenialen deutschen Fassung von Alfred Czach, aber „Grodek“ bildete den Kern dieser Kriegs-, also Antikriegsgedichte in der Fensternische, in einer steil nach rechts geneigten, dramatischen Schrift, die ich damals als fette Graphitstriche auf die Tapete setzte. Über blassgraue Bambuswedel auf kalkweißem Grund.
Auf die Tapete schreiben war purer Aufruhr. Dieses saubere Zimmer, heller Schleiflack, Flokati, gerade noch ein Teenie-Traum, jetzt durchschossen von fiebrigen Impulsen, für die es keine Sprache gab, es sei denn: in Gedichten. Überall an den schrägen Wänden, die weniger solide waren als der Rest des Hauses, begannen sie zu wuchern. Abschriften, Fundstücke, geheime Zeichen. In diesem Dachzimmer war im Frühjahr 1945 ein Blindgänger geborgen worden, eine Phosphorbombe. Nun ließ ich bei Vollmond das Fenster offen und badete im Silberlicht.
Es ging aber nicht auf. Später reichte uns ein Deutschlehrer den Begriff der „Bilddurchdringung“ herüber, den ich als persönliches Geschenk auffasste, tief erleichtert, dass es ein Besteck dafür gab. Für meine eigene Erfindung hatte ich bis dahin den Versuch gehalten, das eine Gedicht in zwei zu zerlegen, ein idyllisches und ein kriegsversehrtes. Nur dass es eben nicht aufging. Es knirschte in den Gelenken, mal am Ellbogen von Reihung zu Relativsatz, mal am Knie der Zwiedeutigkeit von Nacht, Kühle oder Flamme. Den Satzzeichen war überhaupt nicht zu trauen. Dem eigenen Lesen auch nicht immer. Weil sich zwischen Schleiflack und Led Zeppelin mit der endemischen Inszest-Schwüle des Wiener Fin de sciècle nicht viel anfangen ließ, las ich lange der Schwerter Schatten, statt der Schwester Schatten.
Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Die Struktur der modernen Lyrik. Menschheitsdämmerung. Was in den kommenden Monaten den Auftakt zu einer gut ausgeleuchteten Serie von Hundertjahrfeiern bilden wird, roch in meiner Fensternische in feuchten Nächten noch nach den Brandschäden der Jahrhundertkatastrophen. Der erste und der zweite Krieg, und wie in unserem Umkreis alles miteinander zusammenhing, in dieser nach Ost- und Westeuropa verzweigten Familie, die sich zusammengezogen hatte zu einer einsprachig geduckten Angst. Das Schweigen (noch im Erzählen) roch so, das Unaussprechliche. Heute sind die Expressionisten Standard-Schulstoff der höheren Bildung, zu Trakl finden sich Dutzende von Standard-Interpretationen im Netz. Mein Rätsel war ein anderes. Ich war die ungeborene Enkelin, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Die heiße Flamme des Geistes? O stolzere Trauer? Der Nachbar gegenüber hatte nur einen Arm. In der neuen Fußgängerzone rollte ein Mensch auf einem Brettchen herum, den es nur vom Bauchnabel aufwärts gab. Die meisten Männer um die fünfzig waren an der Front gewesen, in Wehrmachtuniformen. In unserer fortschrittlichen Schule wurde „Nacht und Nebel“ gezeigt. Es gab aber die fugenlosen Gedenkformeln noch nicht, den professionellen Lack über allen Erinnerungsroutinen. Das Unaussprechliche roch in meiner Fensternische, es stach und biss und scheuerte, die wilde Klage ihrer zerbrochenen Münder, es wehrte sich gegen das Ausweichen, das Belogenwerden. Über Bomben, Hunger, Flucht verständigten sich die Erwachsenen in den Kürzeln der Dabeigewesenen, mit Überlebensreflexen, die uns maßlos empörten. (Der war ein Sturmbannführer? Den muss ich grüßen?) Von den aktuellen Empörungen gar nicht zu reden. Napalm. Vietnam.
Mit dem Tapetenaufruhr fing es an, mit Trakl an der Brandwand, mit Gedichten wie „Grodek“. Genauer: „Groddek“, mit zwei „d“, und immer noch weiß ich nicht, warum zwei.

Brigitte Oleschinski, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014

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