ERWACHEN
Am Tage meiner Geburt
war Gott krank.
Alle wissen es, daß ich lebe,
daß ich böse bin; und wissen nichts davon,
daß dieser Januar einen Dezember hat.
Denn am Tage meiner Geburt
war Gott krank.
Es ist ein Loch
in meinem metaphysischen Wesen,
daran soll keiner rühren;
die Zuflucht eines Schweigens,
das flammenhoch sprach.
Am Tage meiner Geburt
war Gott krank.
Horch, Bruder, horch…
Auch gut. Es ist besser, ich gehe
und nehme mit die Dezember
und lasse die Januare zurück.
Denn am Tage meiner Geburt
war Gott krank.
Alle wissen es, daß ich lebe,
daß ich kaue… Und wissen nicht,
warum durch meine Verse,
als dunkler Abergeschmack des Sarges,
die verschlissenen Winde pfeifen,
entrollt von der Sphinx,
der ewigen Fragerin in der Wüste.
Alle wissen es… Und wissen nicht,
daß das Licht schwindsüchtig ist
und der Schatten feist…
Nicht, daß das Geheimnis alles Getrennte verbindet…
daß es der traurige, musikalische Buckel ist,
der von weitem verrät, wo die Grenzen
im Mittag zur Grenze hin übergehn.
Am Tage meiner Geburt
war Gott krank,
schwerk krank
Übertragen von Hans Magnus Enzensberger
Dieser peruanische Dichter, der 1938 in Paris verhungerte und heute mit Pablo Neruda zu den literarisch einflußreichsten Stimmen Lateinamerikas gehört, hat eine Dichtung hervorgebracht, die einzigartig ist in ihrer Verbindung von indianischer Schwermut und spanischer Leichtigkeit, verschlissener Redensart des Alltags und raffinierter Kunstsprache. Der Andensohn trug seinen Abstieg in das Europa sich umarmender Wölfe mit einer Würde, die nur der besitzt, in dem ein höheres Feuer brennt. Leidenschaftlich war seine an die spanische Republik geknüpfte Sehnsucht nach einer menschlicheren Gesellschaft. Ihr Untergang beschleunigte den Zusammenbruch Vallejos, der es den Moment entscheidender Jahre vermocht hatte, von wenig mehr zu leben als Hoffnung und Luft.
Aus Wilhelm Tkaczyk: Poesiealbum 139, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1979
Vielleicht wird man eines Tages sagen, daß einzig in den Gedichten von César Vallejo, insbesondere seinen poemas humanos, die moderne Kunst ihre Entsprechung zur bewegenden Legende des kleinen Mannes mit dem Spazierstock, der Melone und den zu großen Schuhen gefunden hat… Damit ist natürlich auch gesagt, daß dies keine Dichtung der Bilder oder gefundener Worte sein kann… sondern von Situationen.
Roberto Fernández Retamar
Er hinterließ ein einzigartiges poetisches Werk, das die jüngere Dichtung Lateinamerikas maßgeblich beeinflußt hat. Vallejo gehört nicht zu den Dichtern, deren Sprache sich erst durch einen Kommentar erschließen läßt. Die Originalität seiner Dichtung beruht auf einem ironischen Selbsthaß, einer Trauer aus tiefer indianischer Vergangenheit und einem empfindlichen Bewußtsein für die Zustände des Menschen in der Welt.
Fritz Rudolf Fries
Verlag Neues Leben, Klappentext, 1979
– César Vallejo zwischen Tradition und Avantgarde. –
Damals lernte ich César Vallejo kennen, den großen Cholo, Dichter zerfurchter Poesie, die beim Berühren rau wirkt wie grobe Haut, doch einer großartigen Poesie, einer Poesie übermenschlicher Ausmaße.
Pablo Neruda
Eine archaische Andenwelt raubt dem Reisenden den Atem und lässt den Einheimischen in Demut und Geduld verharren, in einer Geschichte ohne Zeit. Vor den Urgewalten der Gebirgskulisse erscheinen die technischen Fortschritte der westlichen Welt wie Käfer, die versehentlich zertreten werden könnten. In Rotbraun gehülltes Hochland begleitet den Besucher über Pisten, die sich in der Regenzeit in Flüsse verwandeln. Die leisen Stoßgebete der ohnehin wortkargen Indígenas lassen die Stille noch intensiver wirken. Der Blick in die 2.000 Meter tiefe Schlucht offenbart die Skelette von amerikanischen Diesel-Bussen als bunt-rostige Reste mit lustigen Reklame-Schriften. Hier ist der Mensch gleichwertig dem Tier und der Pflanze. Wie soll er sich über seine Mitbewohner einer solch gigantischen Natur erheben? Gesänge eigenartiger Vogelstimmen begleiten den Reisenden weiter und lassen ihn verblüfft innehalten, wenn er sie wiederfindet in den Litaneien der Quechua-Indianer in den Chicherías oder den Tagesküchen mit der Aufschrift „Menú del día“ hinterm Markt der einstigen Inkametropole Cuzco, deren Grundriss einem Puma gleicht. Ein Gemisch aus Gebeten in Quechua und Spanisch, einmal murmelnd, dann schimpfend, ergibt für unsere Hörgewohnheit eine erstaunliche Komposition autochthoner Andersartigkeit, „la question de l’autre“. Das europäische Bedürfnis, sich durch Eroberungen Chroniken zu erschaffen, erscheint wie ein klägliches Scheitern angesichts der zeitlosen Ewigkeit, des Fortlebens von Natur, Mythen und uraltem Wissen. Qué hora es? fragt eine Mamacita mit verschmitztem Lächeln zwischen zerfurchtem Gesicht und kindlichen Augen, zeigt auf die batteriebetriebene Armbanduhr. Wie weit ist es noch? Una hora más…
Die Menschen, die dort leben, sind so still wie die Anden.
Über eine staubige Piste brauchte man vier Tage zu Pferde, bis man zur nächstgelegenen Universitätsstadt Trujillo kam. Die Hauptstadt Lima war unerreicht.
Wie fast alle Einwohner seines Dorfes und die Mehrheit der Bevölkerung Perus war auch er ein Mestize, ein peruanischer Cholo. Er führte das Erbe seiner Großmutter, Indígenas des Stammes der Quechua, und das der Großvater, beide spanische Pfarrer, fort. Als Jüngstes von elf Kindern wuchs er in einem armen doch warmherzigen Elternhaus in Santiago de Chuco auf, einem Ort in den nordperuanischen Anden, der sich in 3.500 Metern Höhe in ein Seitental der Weißen Kordilleren schmiegt. Sohn eines Beamten und Notars, war er wie wenige sonst in Santiago des Lesens kundig und schrieb sich in der Fakultät für Philosophie und Literatur in Trujillo ein. Auf einer nahe gelegenen Zuckerrohrplantage verdingte er sich als Buchhalter. Das traurige Leben der Landarbeiter auf den Feldern erschreckte ihn und bedrängte ihn Zeit seines Lebens. Er kündigte und arbeitete für eine gewisse Zeit als Lehrer in einem Kollegium der Stadt. Er schrieb. Las Rúben Darío, den „Propheten“ der modernen lateinamerikanischen Dichtkunst, las Verlaine, Walt Whitman, Julio Herrera y Reissig… vor allem las er die Klassiker – Góngora, Quevedo. Er schrieb.
Nach einer unglücklichen Liebesbeziehung ging César Vallejo nach Lima, eine zu jener Zeit provinzielle Hauptstadt mit einer anachronistischen, verstaubten Universität – ein Museum kultureller Rückständigkeit. Er hatte kein Geld und begann sich in miserablen Hotels niederzulassen, die ihn bis zu seinem Tode verfolgen sollten. Er traf sich mit den Bohemiens und schloss Bekanntschaft mit dem berühmtesten Literaten Limas, Valdelomar. 1918 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband Los heraldos negros („Die schwarzen Boten“), der zumindest innerhalb der intellektuellen Kreise Perus ein literarischer Erfolg werden sollte. Dieser Gedichtband verrät erste Anklänge einer eigenen peruanischen, ja amerikanischen Identität. Der peruanische Dichter erfindet eine eigenständige Sprache – eine Lyrik, in der Farben des Modernismus und Symbolismus erklingen. Trotz allem erscheinen seine Gedichte ungewöhnlich fremd:
KAISERLICHE SEHNSÜCHTE
III
Wie alte Kaziken wandern die Rinder / Richtung Trujilto, nachdenklich… / Und im Eisen des Abends spielen sie Könige, / die toten Besitztümern nachtrauern.
An der Mauer stehend, denke ich an die Gesetze, / die Glück und Angst tauschen: / schon in den Witwenpupillen der Rinder / faulen Träume, die kein Wann besitzen.
Das Dorf kleidet sich angesichts ihres Vorüberziehens / in rohes Grau, in dem das Brüllen der Kühe / sich ölt in Traum und in Grabtrauer.
Und beim Gelage des jodblauen Himmels / seufzt im Kelch der traurigen Viehglocke / ein alter verbannter Coraquenque-Vogel.
(Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason)
Nicht nur mit César Vallejo ist erstaunlicherweise gerade Peru wortführend in einer Indigenismus-Debatte geworden, die für ganz Lateinamerika wegbereitend werden sollte und Landsleute wie den Romancier José Maria Arguedas, den Philosophen und Literaten José Carlos Mariátegui oder Ciro Alegría, der als Kind das ABC bei dem stillen, hageren Dichter in Trujillo erlernte, ins Rampenlicht der Geschichte rücken lässt. Die anfangs politischen Befreiungsgedanken der peruanischen kommunistischen APRA-Partei, in deren Dunstkreis sich auch César Vallejo aufhielt, bildeten nicht zuletzt einen Rahmen für seine ideologischen Sympathien in Europa. Ciro Alegría beschrieb seine erste Begegnung mit dem damals für verrückt erklärten Lehrer, der der Gestalt eines entblätterten Baumes glich. Dieser nun wusste den Kindern in einer Art über Dinge des Alltags zu berichten, die Gegenstände plastisch werden ließen, ihnen Leben einhauchten, dass sie in ungeahnten, ja unbekannten Farben erstrahlten, und nahm seine Zöglinge so auf eine phantasiereiche, sprachgewaltige Spurensuche in die Welt der Anden mit.
Für den europäischen Leser ist die Dichtung von César Vallejo schwer zu verstehen, seine Gedichte beinhalten nicht nur Wörter in Quechua, sie spiegeln eine Kultur wieder, die uns unbekannt ist. Er entwirft ein Bild seiner indigenen Welt, andin, animistisch, abergläubisch – eine Welt voller Symbole, voll von indianischem Pessimismus:
HUACO
Ich bin der blinde Coraquenque-Vogel / der durch die Linse einer Wunde späht / der gefesselt an den Globus / wie an ein wunderbares sich drehendes Opfergefäß.
Ich bin das Lama, / dem vollkommen ausreicht / die feindselige Dummheit / Trompetenschnecken / Trompetenschnecken vor Ekel glänzend / und gebräunt von einem alten Yaraví-Gesang.
(Aus dem Spanischen von Eleonora Gehrisch)
Im Juli des Jahres 1920 kehrte er nach Hause zurück, um seine Eltern zu besuchen – eine Reise ohne Glück. Er wurde in einen blutigen lokalen Konflikt verwickelt, einen bewaffneten Aufstand. Trotz seiner zufälligen Anwesenheit bezichtigte man ihn der politischen Konspiration. Er wurde ins Gefängnis geworfen und dort vier Monate ohne Prozess festgehalten. Man entließ ihn unschuldig. Sein Leben lang ertrug Vallejo mit Fatalismus und Stolz dieses Trauma, von dem er sich nie befreien konnte.
Im Gefängnis schrieb er an seinem zweiten Lyrikband mit dem seltsamen Titel Trilce. Dieses Werk ist gezeichnet von tiefer Nachdenklichkeit und bitterer Enttäuschung. Seine Sprache ist autonom, führt weder einheimische, peruanische Muster fort, noch europäische Modelle neuer aufkommender Strömungen in der Kunst, des Surrealismus, Futurismus, Dadaismus oder des amerikanischen Kreationismus und Ultraismus. Die Poesie in Trilce ist hermetisch, metaphorisch, mehrdeutig, mit semantischen Verschiebungen, syntaktische neue technische Mittel sprengen den möglichen Rahmen der damaligen Zeit. Einfluss hatte sowohl die hermetische, in einer altertümlich artifiziellen Sprache geschriebene Lyrik Góngoras als auch die raue und harte Ausdruckskraft der peruanisehen Landarbeiter, der Peonen. Nachdem sein erstaunlicher Gedichtband erschienen war, verbreitete sich der Name César Vallejos das erste Mal in ganz Peru:
XLIV
Dieses Klavier reist einwärts, / reist mit fröhlichen Sprüngen. / Gleich darauf meditiert es auf eisernem Ruhepol, / an zehn Horizonte genagelt.
Es geht weiter. Schleppt sich unter Tunnels hindurch, / weiter dahinten unter Tunnels aus Schmerz, / unter Wirbeln, die auf natürliche Weise flüchten.
Dann wieder gehen seine Rüssel, / langsame, gelbe Lebensgier, / gehen verfinstert, / und entlausen sich von insektenhaften Alpträumen, / schon tot für den Donner, Herold der Genesis.
Dunkles Klavier, wen belauerst du / mit deiner Taubheit, die mich hört, / mit deiner Stummheit, die mich taub macht?
Ach, geheimnisvoller Pulsschlag.
(Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason)
César Vallejo ging nach Europa. Es war eine Flucht ohne Wiederkehr. Er sollte Peru nicht mehr sehen. Paris und die Atmosphäre der Avantgarden zogen ihn an, hier konnte er Lima, das ihm provinziell und abweisend begegnet war, den Rücken zuwenden. Er kam im Juli des Jahres 1923 an, ein Freitag der 13. Er hielt sich in schäbigen Hotels auf, in billigen Unterkünften auf der linken Seite der Seine. In Paris widmete er sich der Literatur der Avantgarde und schrieb Artikel für große Zeitungen und ein sehr geringes Honorar. Er traf sich in Cafés mit namhaften Intellektuellen und Künstlern oder jenen, die es noch werden sollten – Neruda, Huidobro, Picasso, Gris, Diego und anderen. Vallejo selbst war ein zurückhaltender Beobachter und schweigsamer Einzelgänger, er beteiligte sich an den Diskussionen nicht. Die europäischen Ideologien seiner Zeit, besonders Kommunismus und Marxismus, übten auf ihn eine immer größere Faszination aus. Er veröffentlichte Zeitungsartikel wie „Literatur des Proletariats“ (1928) oder „Die Lektionen des Marxismus“ (1929). 1928 unternahm er seine erste Reise in die Sowjetunion, ein Jahr später seine zweite. Schon während seiner Rückkehr begann er an „Die Kunst und Revolution“ zu schreiben. Sein enthusiastisches „Russland 1931. Einige Reflexionen am Fug des Kremls“ sollte ursprünglich den Titel „Die Entdeckung der Welt“ tragen. Vallejo adaptierte die Ideen des Kommunismus an seine eigene Ideologie, integrierte sie in eine Gedankenwelt voller Religiosität und Utopie. Für das Proletariat empfand er tiefe Solidarität wie ehedem für die peruanischen Peonen. Im Dezember 1929 wurde Vallejo als nicht erwünschter Ausländer und wegen seiner Zugehörigkeit zu kommunistischen Kreisen, von der rechtsgerichteten Regierung Frankreichs des Landes verwiesen. Er ging mit seiner Ehefrau Georgette nach Spanien. In Madrid fühlte er sich wohl, vielleicht glücklich. Er befreundete sich mit García Lorca, Rafael Alberti, Antonio Machado, José Bergamin, Luis Cernuda und lernte Miguel de Unamuno kennen. Er schrieb viel, wenig Lyrik, dafür Essays, einen proletarischen Roman und Dramen – das Meiste für die Schublade. Die Erzählung „Paco Yunque“ lehnte der Herausgeber mit der Bemerkung „zu traurig“ ab. Im Dezember 1932 entschied er sich für eine Rückkehr nach Paris, in die Misere, und begann wieder Gedichte zu schreiben. Unter dem verstörenden Eindruck des spanischen Bürgerkrieges entstand der Band Spanien, entferne von mir diesen Kelch.
XI
Ich blickte den Leichnam an, seine ungestüme sichtbare Ordnung / und die ganz langsame Unordnung seiner Seele; / ich sah ihn überleben; in seinem Mund war / das stockende Alter zweier Münder. / Sie schrien ihm seine Nummer zu: Stücke. / Sie schrien ihm seine Liebe zu: ihm wäre besser gedient! / Sie schrien ihm seine Kugel zu: gleichfalls tot!
(Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason)
In dieser letzten Etappe seines literarischen Schaffens überschlugen sich die Ereignisse in Europa. Die Verträge mit den Zeitungen gingen ihm durch seine politischen Aktivitäten verloren. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich. Im März 1938 wurde César Vallejo in ein Krankenhaus gebracht und starb dort nach langer Agonie am 15. April 1938, einem Karfreitag.
SCHWARZER STEIN AUF WEISSEM STEIN
Ich werde an einem verregneten Tag in Paris sterben, / an einem Tag, den ich schon im Gedächtnis habe. / Ich werde in Paris sterben – und ich irre mich nicht – / vielleicht an einem Herbstdonnerstag, so einer wie heute. (…)
César Vallejo ist gestorben, sie schlugen / alle, ohne dass er ihnen etwas angetan hätte; / sie schlugen zu mit einem Stock, schlugen zu / auch mit der Peitsche; / die knochigen Herbsttage sind Zeugen, / die Einsamkeit, der Regen, die Wege…
(Aus dem Spanischen von Eleonora Gebrisch)
Die Gedichte, die Vallejo in den letzten Jahren vor seinem Tod schrieb, wurden von seiner Witwe Goergette Vallejo in einer posthumen Edition 1939 in Paris veröffentlicht. Danach geriet er fast vollkommen in Vergessenheit und wurde erst vierzig Jahre später wiederentdeckt. Durch die späte Rezeption seiner Werke ranken sich Mythen um den „cholo peruano“, wie er in Paris genannt wurde. Sicher wissen wir, dass César Vallejo als einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts, der Literatur der Avantgarde gilt – nicht nur in der spanischsprachigen Literatur. Von der jungen Generation der lateinamerikanischen Dichter wird er verehrt und nachgeahmt.
Auch wenn man die genauen Umstände seines Todes nicht kennt, trifft doch die tradierte Annahme, er sei Hungers gestorben, wohl am besten zu.
Eleonora Gehrisch, Ostragehege, Heft 68, 2012
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler César Vallejo
Zwisprachen I: Steffen Popp über César Vallejo am 18.5.2015 im Lyrik Kabinett München
DIE AUGEN VALLEJOS
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMit einem Wort, ich habe, mein Leben
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauszudrücken, nichts als meinen Tod…
Wie hungrige Hunde ziehen mit mir
aaadie Augen Vallejos.
Streifen durch Zeitungen, Abrißhäuser,
Delikat-Läden in Santiaga de Chuco,
aaaStralsund, Paris.
Betrachten talentierte Frauen und schaun:
Kinderwagen, Geschäftsauslagen, wimmernde
aaaRecorder,
Die Farbpaletten des Herzens, die lauten
aaaOrgane der Macht.
ICH TRAG JETZT BEI MIR ETWAS ZAGHAFTES GRÜN,
aaazum Gedenken an
Vallejos Augen, die im anbrechenden
Pariser Frühling verstummten, und rätsle
An meiner Biographie, die im Kopfe weht
aaawie eine unruhige Fahne.
Uwe Lummitsch
VALLEJOS MANTEL
„Ich werde sterben in Paris, warum auch nicht,
an einem Donnerstag vielleicht, wie heut, im Herbst.“
Der Mann bat den Tod, sich zur Ruhe zu legen,
und ging ins gewohnte Café.
Er rauchte, bestellte ein Bier und sah:
Von seinem Mantel, nach all den Jahren,
hingen nur noch Knopflöcher da.
Auch vom Hut keine Spur.
Doch schien der Boulevard belebter als je
und der Himmel wie immer, blaue Seide,
Innenfutter von nichts. Menschen
verblühten zu früh. In allen Augen,
matt wie Mantelknöpfe, Angst
vor dem Hunger der Stunde.
Und über den Dächern, bei leisem Gelächter,
werfen sich Götter Jahrhunderte zu.
Der Mann bestellt ein zweites Bier
und fragt: Carlito, mein Lieber, wann starb ich?
Der Kellner, während er den Tisch abwischt:
Karfreitag vor sechzig Jahren, César,
– Nanu. Schrieb ich nicht Donnerstag?
Der Kellner, während er die Bar wegwischt:
Der Tod kann nicht lesen, César,
– Ach was! Dann muß er es lernen!
Bitte bring meinen Mantel, darin ist ein Stift.
Und er wartet und schließt, etwas müde, die Lider,
während Wind am Himmel zerrt, Herbstwind im April,
und der Kellner die Bäume, den Boulevard, seine Tränen
und sich selbst wegwischt. Und der Tod
bat den Mann, sich zur Ruhe zu legen.
Ralf Rothmann
César Vallejo – Chronologie von Leben und Werk in Bildern.
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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