1. September

Endlich zieht der Sommer an, nein, er zieht nach, was der August an Wärme, Düften, Farben hat vermissen lassen. Bin um sieben in der Früh beim Bäcker, der Tag dämmert herauf, die Luft atmet sich leicht wie nach einer tropischen Nacht. Ich frühstücke stehend an der Schwelle zum Backraum – Brioche, Mönchstee – und gerate unter dem massiven Hitzewall rasch ins Schwitzen. Im Vergleich dazu kommt mir die Wärme draußen moderat vor. Ich steige ohne Umweg westwärts zum Wald hoch, auf dem steinigen Weg regt sich unter dem leichten Bodenwind erstes Herbstlaub – angegilbte grüne Blätter, auch rote, braune, die unstet dahintreiben, als suchten sie den passenden Ort zum Verrotten. Bald ist riesengroß die Sonne da, eine warme, leicht dunstige Überfülle von Licht, das schräg einfällt und noch einmal das wollige Moosgrün, das den Wald wie ein flacher Archipel durchsetzt, aufleuchten lässt. Die Vögel zeigen sich heute kaum, um so mehr lassen sie von sich hören – sie verlautbaren sich in konzertiertem Jubel … ihr Gesang bejubelt sich selbst und außerdem – mich. – Heute mein Auftritt beim Festival für neue Musik in Rümlingen mit einer Lesung der Strophenfolge ›Himmeln‹ in der vollbesetzten Kirche. Davor und danach diverse Uraufführungen von Werken Walter Zimmermanns mit der Sopranistin Sylvia Nopper, darunter die Vertonung meines Gedichts ›Vertont‹. Wiederbegegnung mit manchen Bekannten und Freunden – Jürg Laederach, Marianne Schroeder, Michael Donhauser, Rolf Winnewisser, Marianne Schuppe, Nanne Meyer, Marlene Frei u. a. m. Spät abends zurück nach Zürich, wo die Fahnen zu ›Dieses Leben‹ (Anatol von Steiger) auf Korrektur warten. – König Fußball ist die sportliche Supermacht, auf regionalem und nationalem Plan ebenso wie global. Woher das Faszinosum? Und wohin eigentlich reisst es all die Fans, die nach Abermillionen zählen? Eine Sportart, bei der die Hände unter Penaltydrohung aus dem Spiel gehalten werden müssen! Nur Kopf, Knie, Fuß dürfen aktiv in Ballkontakt gebracht werden. Zweimal elf Spieler stehn sich gegenüber, treten kämpferisch und trickreich gegeneinander an, vertreten Clubs, Städte, Staaten, werden dafür mit Millionengagen oder auch nur mit Fanapplaus bedacht. Und doch ist das, was auf dem Feld geschieht, in aller Regel ein wüstes Durcheinander, bei dem der Ballwechsel durch Stösse, Stürze, Fehlpässe, Stopps und Fouls unentwegt gestört wird. Strategie und Taktik des Spiels sind zwar erkennbar, kommen aber kaum zum Tragen unter dem Druck der Zufälle und Fehlleistungen. Mir, der ich in dieser Sportart zugegebenermassen ein desinteressierter Laie bin, scheint das Fußballspiel viel mehr vom Ball beziehungsweise vom Zufall bestimmt zu sein als von Füßen und Köpfen. Füße und Köpfe beherrschen den Ball ja offenkundig nicht, sie reagieren bloss auf ihn – die Spieler treiben das Leder vor sich her zum gegenerischen Tor und tun letztlich doch nichts anderes, als hinter ihm herzujagen und seinen nomadischen Sonderwegen zu folgen. – Schlaflose Nacht unterm Sirren beliebig vieler Stechmücken, die über mich herfallen, sobald das Licht gelöscht ist. Bei Tagesanbruch ist die Wand am Kopfende des Betts mit blutigen Klatsch- und Quetschflecken übersät. Mein lachhafter Hass auf jede einzelne dieser Mücken lässt mich dann plötzlich an den Philosophen Pawel Florenskij denken, der in einem seiner Lagerbriefe von der Strafinsel Solowki beschreibt, wie’s in seiner Baracke von Kakerlaken und Ratten wimmelt, wie er und seine Mithäftlinge beinah aufgefressen werden vom Ungeziefer und … aber er beobachtet es nur, studiert das Verhalten der Mücken und Spinnen, zieht daraus bemerkenswerte wissenschaftliche Erkenntnisse, macht also aus der horrenden Not eine rational fassbare Tugend, wie die Stoa sie geschätzt hätte. Von dieser Haltung bin ich weit entfernt: Wer über mich herfällt – ob Mensch oder Mücke – ist mein Feind. – Rückfahrt nach Zürich im Dauerregen. Die vergangenen Tage brachten das letzte Aufbegehren eines missratenen Sommers und die Wende zum Herbst. Habe mit Anatol von Steiger abgeschlossen, das Buch – zweisprachige Erstausgabe seiner Gedichte – kann nun bei Ammann in Druck gehen. Ich denke für demnächst (im Anschluss an meine Monografie über ›Russische Wege‹) an eine kleine – »andere« – Kulturgeschichte Russlands, die den russischen Weg nach Westeuropa und die Rezeption europäischer Vorbilder und Anregungen im Zarenreich aufzeigen soll. Als Ausgangs- wie als Zielpunkt wähle ich die in Russland gern kolportierte Legende von Mozart und Salieri, schlage aber eine neue Lesart dafür vor, indem ich sage, dass sich die russische Kultur – im Gegensatz zu der auf Originalität und Innovation angelegten »Mozartkultur« des Westens – seit ihren Anfängen als eine »Salierikultur« etabliert habe, eine Nachahmungskultur also, deren Originalität eben darin bestehe, dass sie die Aneignung des Fremden als Eigenleistung für sich beansprucht. – Dreierlesung … »Dreiländerlesung« mit Ann Cotten und Christian Steinbacher in der Stuttgarter Stadtbücherei vor kleinem, aber aufmerksamem Publikum. Steinbacher improvisiert brabbelnd einen Introitus, die Cotten liest – nach eigenem Bekunden – »Unanständiges« vor, ich selbst lese ein paar Stücke aus meiner druckfrischen ›Wortnahme‹. So weit, so gut. Nach der Lesung steuert eine mir unbekannte Dame mittleren Alters dezidiert auf mich zu, stellt sich vor mir auf und zischt mir ins Gesicht: »Von Ihnen hätte ich was anderes erwartet. Bin ja nur Ihretwegen hergekommen, nur weil ich sehen wollte, wer das ist, der diesen wunderbaren Namen trägt. Und da bieten Sie uns hier solch unverständlichen Mist. Damit werden Sie Ihrem Namen nie und nimmer gerecht!« Und weg war sie. Verwehter Namenszauber. – Großer Sonnenuntergang heute! Es geht gegen sechs, ich sitze allein auf der untern Gartenterrasse, knoble an der Übersetzung eines Elfzeilers von Stanley Chapman, nehme beiläufig wahr, dass mein Glas (Dôle blanche) schon wieder leer ist. Dann wendet mir ein rasch aufkommendes sanftes Leuchten den Kopf zum Westen, zum Abend hin – ich hatte übersehen, wie der gelbrote Dämmerschein sich unter das stählerne Blau des Himmels schob, und erst jetzt nehme ich wahr, dass sich die warme Farbenpracht als kühle Glut auf dem hügeligen Horizont ausbreitet, immer höher ins Blau steigt und mit diesem sich vermengt. Die unbewegte Luft ist mild und klar, in der weiten Höhe und Ferne hängen in unregelmäßigen Abständen winzige schneeweiße Wolken, teils geballt, teils in strähnigen Büscheln, zwischen denen sich wie glitzernde Insekten die von Genf kommenden oder dorthin absinkenden Flugzeuge hin und her bewegen. Ein Bild … ein lautloses Spektakel der Erhabenheit, so schlicht wie grandios, so natürlich wie unvergleichlich und ich – ich sitze mittendrin und bilde mir für einen glücklichen Augenblick ein, dies alles finde meinetwegen statt. – Habe heute Dutzende von Vorschaukatalogen entsorgt, mit denen bereits im Mai der diesjährige »Bücherherbst« angekündigt wurde. Frage mich, warum die Literaturverlage – kleine wie große – ihre Werbebudgets noch immer mit diesen aufwendig gestalteten, in hohen Auflagen gedruckten Broschüren belasten, statt ihre Kundschaft via Internet zu bedienen. Denn ein PDF würde in diesem Fall – es geht ja bloß um Information und Promotion – seinen Zweck genau so gut erfüllen. Doch womöglich gibt es noch andere, mir unbekannte »Zwecke«, die den Druck und Versand kostspieliger Werbung auf Papier rechtfertigen? Tatsache ist – ich habe die Kataloge durchgeblättert, habe Hunderte von angekündigten Titeln zur Kenntnis genommen, habe mir insgesamt drei davon zur Bestellung und einen zur Rezension angestrichen. Übrig bleibt, als Makulatur, ein Stapel von dreiundzwanzig Zentimeter Höhe und rund drei, vier Kilogramm Gewicht. Dem physischen Gewicht entspricht, in umgekehrt proportionalem Verhältnis, das literarische Leichtgewicht der angebotenen Ware. Leichtgewicht? Ware? Die Vorschautexte sind durchweg nach dem gängigen Sprachdesign heutiger Werbung abgefasst und dienen vor allem dem Ziel, die Ankündigungen gleich schon als Erfolge zu präsentieren. Im Vordergrund steht in aller Regel der Autor, die Autorin als Person, deren Qualitäten vor allem durch attraktive Fotoportraits und die Aufzählung von Preisen, Nominationen, Stipendien und sonstigen (immer schon zahlreichen) »Auszeichnungen« beglaubigt wird. Zur Charakterisierung der angekündigten Texte werden am häufigsten die Beiwörter »hinreißend«, »mitreißend«, »spannend«, »aufrüttelnd« verwendet, aber gern auch »wunderbar«, »wundersam«, »bewundernswert«. Dass heutige Belletristik lebensnah, echt, wahrhaftig zu sein hat, wird offenkundig immer schon vorausgesetzt, und die Autoren scheinen diese Voraussetzung weitgehend zu akzeptieren und auch zu erfüllen. Von daher erklärt sich vermutlich die Dominanz von autobiografisch grundierten oder biografisch inszenierten Erzählwerken, in denen von Abtreibung und Kindesmissbrauch über Terrorismus und Menschenhandel bis hin zur Altersdemenz und zum Krebstod alles abgehandelt wird, was gerade von aktuellem Interesse ist. Die Erzählkunst verkommt zur narrativen Publizistik. Die Literaturinstitute scheinen diesen Trend zu unterstützen. Auf Kosten individueller Personalstile wird ein markt- und publikumstauglicher Epochenstil durchgesetzt: Ich lese Dutzende von Vorabdrucken hochgelobter Autoren und meine doch immer nur einen normierten Hypertext zu lesen, an dem Literaten unterschiedlicher Herkunft, Ausrichtung und Geltung gleichermaßen mitschreiben. Es ist ein kaum differenziertes stilistisches Unisono, dem man sich anstandslos überlassen kann und bei dem die Sprache (das Sagen) auf ihre Mitteilungsfunktion (die Aussage) beschränkt bleibt. Ist ja in Ordnung. Ist aber keine Kunst. Ist Trendprosa, Konsensprosa. Ist Allerweltsliteratur und kann … darf aber heute auf entsprechendem Niveau als »Weltliteratur« gelten. Das trifft bekanntlich auf die zeitgenössische »Weltarchitektur« ebenso zu, die sich, bei all ihrer funktionalen Vielfalt, in Singapur und Seattle nicht anders ausnimmt als in Shanghai oder Rio.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00