10. März

Schmutzige Schneewälle säumen den Weg zum Wald hinauf; ich wate ziemlich geistesabwesend durch den zerrinnenden Matsch, rutsche immer wieder aus, komme ins Stolpern und Fluchen, bin gleichzeitig überlaufen … bin überfordert von ständig wechselnden Einfällen, aber nur wenige von ihnen kann ich in Gedanken so weit zur Sprache bringen … so weit ausformulieren, dass ich sie zu Hause wieder abrufen und nachschreiben könnte. Das Meiste geht mir, da ich mich zu sehr auf den fast unbegehbaren Weg einstellen muss, gleich wieder verloren. Irgendwie werde ich mir dabei selbst auch noch zum Verlust. – Die Überschätzung des Menschen, des Einzelmenschen, des Menschen in seiner Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit (als wäre nicht auch jeder Baum ein unverwechselbarer, jeder Stein und jeder Specht ein einmaliger) manifestiert sich täglich darin, wie über Unfälle, Verbrechen, Katastrophen, Kriegsereignisse berichtet wird – heute etwa über einen Angriff der syrischen Regierungstruppen auf Aleppo, der »dreihundert Menschen das Leben gekostet« habe, und ein Lawinenunglück, dem »drei Menschen zum Opfer gefallen« seien. Man spricht von Opfern und Leben, meint damit immer die Toten, vergisst in der Regel, dass es in solchen Fällen oft mehr Überlebende als Tote gibt, Verletzte, Schwerverletzte mit bleibenden Behinderungen, Traumata, Schmerzen, Menschen, die als Überlebende nur noch das Leiden kennen, die aber immer schon vergessen sind, für die es keinen Gedenktag gibt, keine Gedenkminute. Hier – bei mir, für mich – ist »Syrien« ein Thema, ein Problem von vielen; die Wirklichkeit ist anderswo. Ich notiere: Krieg ist. Endet nie
aaaaanicht unten. Hinkt auf allen Flügeln.
aaaaaPlustert sich mächtig. Nimmt die Sicht. Und nicht

aaaaaein Blick holt ihn aus dem blühenden Feuer. Für Schmerz
aaaaaund Kitzel ist Mittag der Ort. Alles blind
aaaaaund doch wie immer.

aaaaaNoch immer Oltraggio!
aaaaaWer’s weiß kann nur schweigen
aaaaadazu und schweift im Zweifel übers Trümmerfeld.

aaaaaHält oder hallt da so etwas wie Hoffnung. Immer
aaaaanur »so etwas wie«. Nie das
aaaaagrößere Ganze.
– Diana B., die Nachbarin aus dem Freimaurerturm, kommt unangemeldet mit hausgemachtem Kuchen und bringt gleich auch ihre Lebensgeschichte mit, sie berichtet fast drohend vom Fluch ihres Namens, entdeckt mir freimütig die Göttin (Artemis) in sich; mein Mann … ihre Männer, sagt sie, müssten mindestens zwanzig Jahre älter sein als sie, noch lieber dreißig, so wie der Schuldirektor, mit dem sie zur Zeit ein Verhältnis habe – sie achtundzwanzig, er dreiundsechzig, zusammen fast ein Jahrhundert. – Bin völlig erschöpft nach dieser stürmischen Nacht mit klatschenden Regenböen und einem plötzlichen Temperatursturz nach oben. Bei solchen Wetterkapriolen holt mich regelmäßig die Migräne in ihr Jammertal hinab – zwischen vier und fünf Uhr früh setzte sie mit einem stechenden Schmerz hinterm linken Auge ein, um sich danach wie ein feiner glühender Draht zwischen den Ohren hochzuspannen. Obwohl ich noch mit Medikamenten dazwischen ging, hielt sich die Spannung unverändert während Stunden. Dennoch muss ich zwischendurch immer wieder eingeschlafen sein – sonst hätte ich wohl kaum soviel geträumt und im Traum soviel gelesen wie nie … Habe dem Kurator Franz Waterhouse aus Büchern junger Autoren vorgelesen, Autoren wie Sabine Schulz, Jahnheinz Jann, Else Elsaesser, die sich bei mir zur Prüfung (Bachelor) angemeldet haben, aber auch aus vergessenen Werken, denen ich als Herausgeber zu einem neuen Publikum verhelfen soll. Waterhouse, braungebrannt, winkt die Gedichte mit träger Geste durch und schaukelt weiter in seiner mit seidenweißen Kissen gepolsterten Hängematte. Mein Favorit unter Hunderten von eingereichten Probetexten ist der von Bodo Stauss: Die dunkelgrüne Wiese ist
aaaaanoch mit märzemberlichem Schnee
aaaaabefleckt. Da und dort hat sich die verharschte Erde
aaaaaaufgewölbt wie billiges
aaaaadurchtränktes Pappmaché. Zwischen den dreckigen Buckeln
aaaaaragt ein faschistisches Bündel
aaaaanamenloser Kreuze – Wegweiser sind’s
aaaaadie alle ineinander zeigen: Sie warten darauf
aaaaada und dort in der weiten Landschaft
aaaaaaufgestellt zu werden. Dann erst wird es sich weisen.
– Nach der Papstwahl wieder die vielen Bilder aus Rom – die Festung des Vatikans, der Petersdom, der weiträumige Platz davor. Ich denke mir: Michelangelo Buonarroti war Architekt, war Stadtbaumeister, und vermutlich hatte er die Ambition, um seine Skulpturen und Malwerke herum eine steinerne Aura zu schaffen, mithin ein starres Gesamtkunstwerk, das in sich selbst selig scheint, wobei das Selige bei ihm, Michelangelo, als das Pathetische in Erscheinung tritt und der Schein sowohl ein Leuchten wie ein Vorspiegeln … ein Vortäuschen ist − Vorschein und Anschein zugleich: »M’illumino d’immenso …« Dagegen die Musik, die Literatur – festgeschrieben auf transportierbaren Trägern, reproduzierbar überall, nicht beschränkt auf ein (und nur ein) Original, beliebig oft zu kopieren und dennoch immer eins. Um wie viel bedeutsamer, weil sinngebend, ist in diesen Fällen der Akt der Rezeption, das Lesen, das Hinhören: die eigentliche, wiewohl niemals letztliche Vollendung des Werks. – Abends bei Krys mit gegrilltem Gemüse, Aal und Pinot Grigio; danach sehen wir uns auf DVD gemeinsam Michael Hanekes Film ›Caché‹ von 2005 an – eine dramaturgisch und bildnerisch sorgfältig gebaute Geschichte um Schuld und Sühne, in der es kein Verbrechen und auch keine Strafe, dafür umso mehr Schicksalsschläge gibt: Ein Sechsjähriger mobbt und verleumdet einen Gleichaltrigen, der in der Folge wegen all der falschen Anschuldigungen in ein Heim für Schwererziehbare gesteckt wird und deshalb nicht nur keine normale Schulausbildung bekommt, sondern zeitlebens sozial geächtet bleibt. Der Täter, heute ein erfolgreicher TV-Moderator, verdrängt den Vorgang und damit auch seine Schuld für Jahrzehnte aus dem Gedächtnis, bis er sich – nach einer Reihe von nicht ganz plausiblen Vorwarnungen – erneut mit dem Opfer konfrontiert sieht. Doch statt zur Klarstellung oder gar zur Versöhnung kommt es zur Fortsetzung des ungleichen Konkurrenzverhältnisses zwischen dem gut situierten Pariser Intellektuellen und dem naturgemäß unterlegenen algerischen Sozialhilfeempfänger, der sich weiterhin die Beleidigungen (und darüber hinaus neue Anschuldigungen) seines früheren Peinigers gefallen lassen muss und dabei seine Opferrolle bis zum Gehtnichtmehr perpetuiert … bis er eines Tages vor den Augen des Uneinsichtigen mit souveräner Geste Selbstmord begeht und ihn mit der ungesühnten Schuld allein lässt. Haneke handelt in diesem Film ein großes Thema in ruhiger Bildsprache und starken Dialogen ab. Dass er die Schicksalhaftigkeit … dass er das Zwanghafte der Vorgänge durch immer wieder auftauchende anonyme Videoaufnahmen symbolhaft vergegenwärtigt, wird letztlich nicht plausibel – wer soll denn die Aufnahmen gemacht und bewusst als Mittel der Terrorisierung eingesetzt haben? – und erweist sich als überfrachtete Hilfskonstruktion. Krys fällt auf, dass Haneke auch in diesem Film (ähnlich wie in ›Die Klavierspielerin‹ und ›Amour‹) die Handlung lange Zeit bedächtig dahinfließen, bisweilen fast einhalten lässt, um sie plötzlich durch einen unauffälligen, aber scharfen und ultimativen Akt extrem zu intensivieren – in der ›Klavierspielerin‹ ist es der Moment, da die Protagonistin zur Rasierklinge greift und sich damit das Geschlecht verstümmelt, in ›Amour‹ die Schlussszene, wo der gutmeinende und umsichtige Musikprofessor unversehens über seine schwerkranke Frau herfällt, um sie in einem veritablen Vergewaltigungsakt zu erdrosseln, und nun eben in ›Caché‹ der völlig unerwartete blutige Suizid, bei dem sich ein friedfertiger Mann die Kehle durchschneidet. Eine bildhafte Parallele dazu bringt Haneke in eine Rückblende ein, die in traumhaft krasser Optik die Schlachtung eines Hahns vor Augen führt – für mich die stärkste Szene in diesem starken Film: wie der kopflose Hahn in schier endlosen Sprüngen, flügelschlagend und Blut verspritzend, durch den Hof juckt, immer wieder hochschießt, immer wieder abstürzt, mal dahin, mal dorthin sich reckend und endlich liegen bleibend in einer Wolke von aufgewühltem Staub und Laub. Eindrücklicher kann ein Totentanz nicht sein.

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