10. November

Bin viel zu früh aufgestanden, tauge noch nicht für den Tag; ich leg mich noch einmal hin, es folgt ein Traum, in dem ich als Babysitter und röchelnder Maturand einen schwachen Auftritt habe. Definitiv wach um halb acht. Unterwegs zur Bäckerei fällt mir auf, dass der milde, aber kräftige Wind nur ganz oben, auf Wipfelhöhe, im Gang ist und sich als ein kompaktes Rauschen – sehr schön – zu erkennen gibt, während das Unterholz mit seinen Sträuchern und Stauden und Gartenhecken völlig reglos am Wegrand verharrt. – Vorabendliche Lesung in Sihl City (Pestalozzibiliothek), freundliche Atmosphäre, zwei Dutzend Hörerinnen und Hörer. Ich stelle meine Anthologie ›Als Gruß zu lesen‹ vor, biete auch ein paar Gedichte im russischen Originalton, stelle fest – das wohl mehrheitlich deutschsprachige Publikum reagiert darauf viel lebhafter als auf die Übersetzungen. Was sich dem Verständnis entzieht, hat eine eigene … hat für viele Menschen eine eigenartige Faszination. Mag sein, dass sich bei solcher Gelegenheit die urtümliche Magie von Zaubersprüchen noch einmal … dass sich auf diese schlichte Weise die Wortmagie auch heute noch kundtut. In der Fremdsprache bleibt das Gesagte hinter dem Sagen zurück, Klang und Rhythmus kommen unmittelbar zur Geltung, die Lautgestalt der Gedichte ist unbelastet von Bedeutung, wer hinhört, wer zuhört, schafft durch spontane Assoziation selbst einen Sinn, setzt sein eigenes Verständnis durch. An diesem Punkt beginnt die souveräne Lektüre. – Internet. Da! das gewaltige Schnippchen zwischen
aaaaaStaat und Digitalisat und Sahara.
aaaaaEndlich mal wieder was Besonderes. Ein
aaaaaWunder fast. Wird kalte Asche
aaaaaflugs! zu Fliederglut und Blut lacht
aaaaaunter Fliegen.
(Man bekommt sie, Mädchen und Woge, am besten in der schönen Jahreszeit zu sehn, zum Beispiel Ende März an einem frühen Nachmittag, vollkommen ausgeleuchtet und ohne jede Erklärung, auch ohne Geschichte. Dennoch bleibt sie vor sich selbst in sich verborgen, so wie jetzt, da sie schäumend aus ihrer Mitte steigt und über dem Spektakel Möwen schnarren. Ist das die Sehnsucht, wenn sie sich genügt. Ein Geheimnis oder wenigstens ein Rätsel, das nie nicht mit seiner Auflösung zusammenfällt. Im hiesigen Zweiten Leben braucht’s den Schlüssel nicht, die Zweideutigkeit ist Wahrheit genug und besseres Glück. Während dort, wer erinnert sich noch, ein Wort als Lösung genügte, der Name des Helden als Los.)
aaaaaWie überhaupt nur was
aaaaadazwischen ist verwundern kann.
aaaaaDoch leider sobald es irgendwie inter-
aaaaaessant wird erlischt’s.
aaaaaDie Schatten – schau! – sie fliehn und niemand
aaaaabraucht den Notausgang. – Im diffusen Lichtkegel der Straßenlaterne vor meinem Fenster weht der Nieselregen wie ein orange gesprenkeltes Gazetuch. Der – etwas zurückversetzt – dahinter stehende Alleebaum hält einen Teil seines kahlen, von der Feuchtigkeit matt glänzenden Astwerks ins abgezirkelte Kunstlicht. Auf einem der äußersten Zweige hockt wie ein schwarzer aufgeplusterter Schneeball eine Amsel.

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