10. September

Heimreise ab Gondo im Autobus auf Umwegen durch das Simplongebiet, zurück ins untere Wallis; von Martigny (Ausstellung russischer und rumänischer Ikonen bei Gianadda) mit dem Zug nach Lausanne und weiter nach Croy. Dann zu Fuß durch die Baumgärten von Praël nach Romainmôtier. Zu Hause legt sich Krys hin, ruht sich aus. Ich besuche auf einen Sprung den kleinen Büchermarkt in Envy, entdecke einen Erinnerungsband über Marcel Proust mit handschriftlicher Widmung der Prinzessin Bibesco, die das Buch verfasst hat, zahle drei Franken dafür; dazu kaufe ich eine schöne, in Leder gebundene Ausgabe von Jules Michelets ›La mer‹ und Paul Claudels Tagebücher aus der Pléiade von Gallimard, macht alles in allem zweiunddreißig Franken. Wie ein unerwartetes Geschenk trage ich die Bücher in einer Plastiktüte nach Hause. Treffe Krys beim Kochen an. Heize den Kamin ein. Besorge aus dem Keller zwei Flaschen OEil de Perdrix aus Auvergnier. Es kann ein langer Abend werden. – Um halb sieben wach; der Landregen hat sich über Nacht zu einem gleichmäßigen, fast geräuschlosen Nieseln verdichtet. Gegen sieben mache ich mich auf den Weg zur Bäckerei, zum Frühstück, diesmal mit einem Abstecher in den Klosterhof. Das Kopfsteinpflaster zwischen Priorshaus und Pilgerschuppen schimmert im trüben Dämmerlicht, sieht aus wie ein Spielfeld mit unzähligen, zur Hälfte eingesunkenen Billardkugeln. Auf den nassen buckligen Pflastersteinen und dazwischen liegen, kriechen, ringeln sich massenhaft Regenwürmer, und plötzlich habe ich nun das Gefühl, über einen lebendigen löchrigen Teppich zu gehen. Lebendig! Aber was ist das eigentlich … was soll das Leben, das hier unter meinen Schritten wimmelt … das hier unter meinen gerippten Hartgummisohlen platzt, zerquetscht wird, in rötlichgrauen Schlieren zurückbleibt? Was gibt den unzähligen Würmern den Antrieb, die Steuerung, den Sinn zu ihrem Geschlinge, wenn nicht der Eigentrieb des Lebens! Zu ihrer Funktionsbestimmung gehört (was hier zwischen den eng gesetzten Steinen nicht möglich ist) die Lockerung des Erdreichs, vielleicht auch einfach – dass sie von den pfeilschnellen Amseln aufgeschnappt und gefressen werden. Leben, um gefressen zu werden und damit anderes Leben zu ermöglichen? Sei’s drum; aber woher kommt … wohin geht die Energie, die das Leben ist? – Dostojewskijs Befund und meine Befürchtung: Das eigentlich Menschliche … das Menschliche am Menschen zeigt sich am ehesten beim Unmenschen und beim Übermenschen – vom Tier sind Übermensch wie Unmensch am weitesten entfernt. – Ein Spruch von mir, hergeleitet aus eigener paradoxaler Erfahrung: Dem Tod macht am meisten die Krankheit zu schaffen. – Da Elias Canetti, der auch sich selbst schon mal als »ein Buch« imaginiert hat, überzeugt ist davon, dass der Mensch … dass die gesamte »vergangene Menschheit« ausschließlich »in den überlieferten Worten« erhalten bleibt, würde als Konsequenz daraus auch er, der ganz »aus Worten« besteht und ganz in Worten lebt, lang genug, sogar über seinen allfälligen Tod hinaus, fortdauern können. Das wäre dann wohl der Weg des Mystikers, dessen Ziel es sein müsste, »das Wort, aus dem er bestünde, zu finden«, oder es wäre die Kunst eines Stendhal, dem es gelingt, »sich vollständig aufzuschreiben«. An den »Verwalter der Worte, wer immer er sei«, richtet Canetti, diesmal in Ichform, das unbescheidene Gebet: »Gib mir dunkle Worte und gib mir klare Worte, aber ich will keine Blumen, den Duft behalte dir selbst. Ich will Worte, die nicht abfallen, Worte, die nicht verblühen.« Solch beständige Worte kann man sich nur als Gravuren in Stein vorstellen, wie sie auf Gedenk- oder Grabtafeln zu finden sind, nicht aber in jener kurzlebigen akustischen Gestalt, die Canetti, auch hierin sich selbst widersprechend, so oft als den einzig authentischen Sprachausdruck bezeichnet hat und der ihm, trotz ständiger Bemühung, weitgehend versagt geblieben ist. – Vorm Eindunkeln absolviere ich trotz merklicher Erschöpfung meinen Rundgang bis zum Rigiplatz hinunter und wieder die Gladbachstraße hinauf in die Rosenau. In der heutigen Trockenheit und Wärme ist das abgefallene Laub dürr geworden, ist geschrumpelt, leicht knisternd schleift’s unter den Sohlen. Die Blätter sind nun mehrheitlich rot eingefärbt. Auffallend beim feineren Laub ist das frische Granatapfelrot, ansonsten dominieren dunklere Töne – Karmin, Ocker, Blut. Am Fuß des Spyristeigs, dort wo bis vor kurzem die Quartierapotheke war, werden offenbar zwei neue Ladengeschäfte eingerichtet. Das eine nennt sich Otherwise und bietet ausschließlich gebrauchte Verpackungsartikel und Behälter aller Art an, alles »wie neu«, so steht’s angeschrieben, und ich kann von außen im blau erleuchteten Raum so unterschiedliche Dinge sehen wie Schuh- und Hutschachteln, leere Bücherschuber und Schallplattenhüllen, leere Wein- und Whiskyflaschen mit exklusiven Etiketten, skulptural geformte Styroporpolster für technische Geräte aller Art, aber auch alte Hutschleier, Haarnetze, Armstulpen, Schlüpfer, Monatsbinden, und zuvorderst im Schaufenster eine Vielzahl von schweren russischen Brillengestellen aus der Sowjetzeit. Das Geschäft rechts daneben ist noch nicht eröffnet. Hinter der Vitrine hat man einen Plastikvorhang aufgehängt, der den Einblick verhindert. Zwischen dem Vorhang und der Schaufensterscheibe stehn, im Halbkreis um ein winziges Modell der New Yorker Freiheitsstatue aufgereiht, mehrere klotzige Holzbuchstaben, die das Wort DEMNAECHST bilden. – Weiter mit Marc Aurel. Jeder zweite, dritte Satz ist zu unterstreichen, mit jedem vierten kann ich mich identifizieren. Allerdings fehlen mir Marc Aurels grundlegendes Interesse am Staatswesen, das Vertrauen in die Gemeinschaft, der Glaube an Sinnerfüllung durch die Schaffung von Nutzen; doch als Lichtgestalt kommt er mir näher als jeder andere Lebensphilosoph und Lebenskünstler. Seneca – großartig auch er – ist mir zu nobel, steht der Macht zu nah. Für das rechte Leben, soweit es meins sein kann, gewinne ich am meisten bei den Vorsokratikern, später bei Epiktet, Lukrez, Boethius, dann wieder bei Montaigne, Pascal, Gracián und den unmoralischen französischen Moralisten, bei Chamfort, Joubert, Rivarol. – Krys: »Was mich am Leben hält, ist die Angst vorm Versagen.« Ich: »Und aber mich? Die Angst vorm Siegen!« Ich erinnere mich: In der Primarschule war ich im Auswendiglernen der erste und beste; hatte überhaupt immer nur Bestnoten, war darauf aber keineswegs stolz, sondern eher beschämt vor meinen Klassenkameraden, die in ihrer Mehrheit wenig vom Lernen hielten, und am wenigsten vom Auswendiglernen. Also begann ich, wenn ich dazu aufgerufen wurde, ein Gedicht zu rezitieren, herumzustammeln, so zu tun, als hätte ich’s vergessen oder gar nicht erst gelernt, auch wenn ich’s perfekt intus hatte. Tatsächlich gelang es mir hin und wieder, den Lehrer von meinem Unvermögen zu überzeugen, schlechtere Noten zu bekommen, mich den andern irgendwie anzugleichen. Das ist mein Problem bis heute – der Sieger zu sein und mich dafür zu schämen; und auch – gegenüber jeder Andeutung von Lob misstrauisch zu bleiben. Eine positive Besprechung, einen Preis zu bekommen, provoziert bei mir nur den einen Gedanken: Da bin ich wieder einmal missverstanden worden … falsch eingeschätzt, falsch bewertet, zu Unrecht ausgezeichnet. Aber es gibt noch anderes … es gibt noch andere Leiden, größere Freuden. – Wer hat’s gesagt: Undank sei der Welt Lohn? Zu Marc Aurels Forderungen an ein gutes Leben gehört die Fähigkeit … gehört die Bereitschaft, Undank klaglos abzuhaken, sich daran nicht aufzuhalten. Ich selbst halte Undank für eine sublime Form von Provokation, sogar von Aggressivität; meine diesbezügliche Erfahrung reicht beliebig weit, nicht so meine Souveränität – obwohl Undank nichts anderes ist als kein Dank, empfinde ich ihn als verletzend und reagiere darauf keineswegs stoisch. Störrisch schon eher. – Klee: »In die Knie sinken, wo nichts ist …« – Martin Walser hat in einem Ersteklasseabteil der Deutschen Bahn sein Tagebuch liegenlassen, ein dickes Moleskinheft mit rund zweihundert vollgeschriebenen Seiten. Jetzt lässt er das Heft durch seinen Verlag suchen und bietet einen Finderlohn von dreitausend Euro an. Er habe, lässt der Autor wissen, mit dem Tagebuch einen Teil seines (»meines«) Lebens verloren, den er sich dringend zurück wünscht. Was Walser noch nicht weiß: Ich bin der zufällige Finder des Hefts, und ich muss mir nun überlegen, was mir dieser Fund, dieses verschriftlichte Stück eines fremden Lebens wert ist – wie verrechne ich, spekulativ, den offerierten Finderlohn mit Nutzungsmöglichkeiten wie diesen: Ich überarbeite und verfremde Walsers Text, um ihn unter meinem Namen zu veröffentlichen; ich behalte das Heft bis nach Walsers Ableben zurück und biete es dann für zehntausend Euro dem Marbacher Literaturarchiv an; ich verwende das Tagebuch als Rohmaterial für ein eigenes Erzählprojekt, in dem ich Martin Walser als Protagonisten auftreten und ihn mit seinen eigenen Worten (allenfalls unter Pseudonym) reden lasse.

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