11. Juni

Ich wälze mich im Bett, suche nach einer irgendwie erträglichen Lage, finde sie nicht, stehe auf, komme sofort ins Taumeln, lasse mich zurückfallen aufs schweißnasse Bett. Schlafe kurzfristig vor Erschöpfung ein, sehe im Wartezimmer Krys und eine ältliche Nachbarin mit dreist gespreizten Beinen, sie sind hochschwanger, halten sich die Bäuche, tuscheln sich Anzügliches zu, scheinen sich über mich – ich steh auf der Schwelle mit einer Rose und weiß nun nicht, wem ich sie überreichen soll – lustig zu machen, wache aber bald wieder auf, der Schmerz zieht sich nun vom Hals her über die Schultern und Ellenbogen bis zu den Handknöcheln, es ist ein heißes scharfes Sticheln, kaum noch auszuhalten, bleibt aber rein oberflächlich – so stelle ich mir die Folter des Nesselhemds vor. Ich muss wieder aufstehn, geh in der Wohnung herum, nehme nochmals die Schmerzmittel, suche das Klo auf, weil sich mit der zunehmenden Übelkeit eine Durchfallattacke ankündigen könnte. Ist aber nichts. Ich hocke da und seh nur, wie der Schweiß von der Stirn, vom Hals auf die Tonplatten tropft. Zurück ins Bett. Die Migräne mit ihren Schmerzen und Krämpfen setzt sich im Oberbauch fest, alle dreißig, vierzig Sekunden gibt es eine Knetbewegung auf Magenhöhe, ich kann aber weder den Ort noch die Qualität des mörderischen Schmerzes genauer bestimmen, denke … fürchte momentweise, das alles könnte ein Herzinfarkt sein. Der Schmerz ist durch nichts aufzuhalten, durch nichts zu mildern, der Bauch hart aufgedunsen, die Misere nicht zu ertragen, dennoch – oder deswegen? – versinke ich immer wieder in einem Sekundenschlaf mit unfassbar weitläufigen Träumen. Zwischendurch versuche ich aufzustehen, gehe ein paarmal ins Freie, der Himmel, anthrazitgrau und ohne ein einziges Gestirn, steht da wie eine vertikale Autobahn. Die Bauchmigräne arbeitet weiter wie eine Maschine, mit mechanisch sich wiederholenden Schmerzkrämpfen, die mehr und mehr nach oben drücken. Bis gegen sieben in der Früh gibt es keine Änderung, keinerlei Besserung, mir fehlt die Kraft, die Wäsche, die Bettwäsche zu wechseln, ich bin nun ständig der Ohnmacht nah, vor Schmerzen, vor Erschöpfung. Plötzlich reißt es mich hoch, der Magen drängt zum Erbrechen, das Drängen muss enorm sein, da ich eigentlich nicht erbrechen kann, noch nie erbrechen konnte. Doch es kommt, es ist ein mehrfaches Würgen, der Leib reißt sich konvulsivisch zusammen, bringt aber nichts Substantielles herauf, ich spucke bloß eine schlierige zementgraue Suppe aus, offenbar aber genug, um den Krampf ein wenig zu beruhigen. Es ist halb acht, es geht besser, doch der Bauch bleibt hart und gebläht, der dumpfe Schmerz liegt jetzt ohne Krampfbewegung quer unter den Rippen. Acht, fast neun Stunden hat der Aufstand gedauert, und ich weiß … ich weiß noch immer nicht, was das alles bedeuten und wozu es gut sein soll, geschweige denn, worin der Sinn des Vorgangs bestehen könnte. – Dem Klimawandel zum Trotz bleibt die Schafskälte verlässlich, sie tritt mit schöner Regelmäßigkeit ein, wenn der Kalender es vorsieht. Ein Gleiches gilt für die Bauernregeln, die ich von meiner Mutter kenne. Dass es im Großwettergeschehen eine Handvoll aberranter Punkte gibt, an denen man sich orientieren kann, obwohl sie als Ausnahmen die jahreszeitliche meteorologische Normalität unterlaufen, finde ich irgendwie tröstlich, ich kann mich sogar darüber freuen. – Ich habe neulich in relativ rascher Folge Franz Kafkas Romane wiedergelesen, ›Der Process‹, ›Das Schloss‹, ›Der Verschollene‹, und finde diesmal nebst Großartigem und abstrus Komischem auch manch Triviales. Erst jetzt, da ich mir die Texte in Folge vornehme, fällt mir die Gleichförmigkeit beziehungsweise Gleichartigkeit der Stoff- und Problemanlage auf. Ob im Schloss oder im Zirkus oder im Hotel – stets ist eine Hierarchie vorgegeben, die aus lauter Dienern besteht, vom niedrigsten zum unerreichbar Höchsten, von denen keiner den Chef kennt und auch keiner weiß, ob es einen solchen überhaupt gibt. Wichtiger als die Dienerschaft, die aus lauter Rädchen und Schräubchen in einer automatisch rotierenden Apparatur besteht, sind die beweglichen Dazwischer (Engel, Boten), die wie Funken in dem mechanischen Getriebe hin und her und auf und ab springen, ohne aber irgendetwas an der ein für allemal installierten Maschinerie zu ändern. Die Machtvertikale ist nicht zu stürzen, ist auch längst zur Gewohnheitsvertikale geworden, der sich niemand zu entziehen vermag und die selbst durch die subversive Geilheit der Frauen nicht zu erschüttern ist. Deutlich arbeitet Kafka den Hampelcharakter seiner Protagonisten heraus, die alle bloß an ihrem vorgegebenen Ort das Knie heben, das Kinn recken, den Ellenbogen ausstellen, ohne jemals einen dezidierten Schritt zu tun. Dieses mechanische Herumhampeln ist auch für die Antihelden Robert Walsers charakteristisch. Was Walser im kleinformatigen Idyll aufgehen lässt, gewinnt bei Kafka die abgründige Komik tragischer Ausweglosigkeit. – Bin in unbekannter Begleitung in einer dicht und hoch gebauten, ziemlich finstern Stadt unterwegs, deren gewaltige Baukörper sich in ferner Höhe zusammenschließen, so dass kein Himmel nirgends zu sehen ist. Die Stadt bekommt ausschließlich Kunstlicht, teils aus rotierenden Scheinwerfern, teils von blinkenden Neonreklamen. Braun, Grau, Schwarz, Pissgelb sind die dominierenden Farben. Alles ist hier Fußgängerzone, es gibt Hunde und Ratten und Einkaufstouristen zuhauf. Aber keinerlei Fahrzeuge. Ich bin mit einem unbekannten Begleiter – untersetzter freundlicher Mann mittleren Alters – ziellos unterwegs. Wir betreten einen Imbissraum, der als Grotto ausgestattet ist, kosten Weine, gehen dann weiter durch die Zone. Manche Straßenzüge sind verbarrikadiert, die Hochbauten so aufgestellt, dass es dazwischen kaum Raum gibt. Wir kommen bei einem Einkaufszentrum vorbei. Hier gibt es Selbstbedienungsrestaurants, Papeterien, Teppichgeschäfte, Drogerien usf. Vor den Schaufenstern sind Sofas und Sessel und Servierboys aufgestellt, man kann von hier aus durch die verglasten Wände ins Land hinaus sehen. Ich packe mein Malgerät aus, schraube mein Tuschefass auf, beginne zu skizzieren. Eine fröhliche Dreierfamilie schaut mir dabei für eine Weile zu, verschwindet dann im Restaurant; ich seh sie auf der andern, innern Seite wieder auftauchen. Die drei Leute, ein Paar mit Kind, setzen sich hinter der Glasfront an einen Tisch mir gegenüber, und die Frau beginnt nun ebenfalls zu zeichnen, ja, sie schaut immer wieder her, jedes Mal kurz und scharf aufblickend, ja, ich bin mir sicher, sie porträtiert mich. Im Schaufensterglas sehe ich mich gespiegelt, sehe mir dabei zu, wie ich der fremden Frau beim Zeichnen zusehe. Ich empfinde die Situation als äußerst unangenehm, und ohne etwas konsumiert oder gemalt zu haben, räume ich meinen Platz auf dem blauen Sofa und mache mich wieder auf den Weg. Mein Begleiter führt mich durch düstere Passagen und Unterführungen zu einem kleinen Platz … zu einem überdachten Innenhof, in dessen Mitte auf einem sandigen Hügelchen ein abgestorbener Baum steht. Darunter im Sand liegt eine kleine Kinderschaufel, liegt auch weggeworfenes Spielzeug. Kein Mensch, nicht mal ein Kind ist in der Runde zu sehen, auf allen Seiten ragen die rußgeschwärzten Fassaden ins Finstere. An dem toten aschgrauen Baum, dessen Äste wie Waffen gereckt sind, hängen aufgespießt mehrere Papierfetzen mit neuesten Nachrichten. Ich stelle fest, dass der Platz hier als Kiosk benutzt wird – wer eine Nachricht vom Baum reißt, muss eine andere hinterlassen. Ich habe bloß meine angefangene Zeichnung dabei, sie zeigt auf einem Hügel einen kahlen verkrüppelten Baum, ich stecke das Blatt an den geknickten Ast zu den andern Fetzen und … aber bemerke erst jetzt, dass dies der Ellenbogen meines Begleiters ist, der mir gleichzeitig ins Ohr zischt: Aber lebenslänglich, mein Lieber!

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