11. März

Ein großer Tag (gestern), der sich aus früher Bläue langsam grau melierte, während ich in der Früh mit Krys im Auto unterwegs nach Genf war – bei der Ankunft hatte bereits Regen eingesetzt, und unter seinem dichten Einschlag schien der See leicht aufzuschäumen. Mittagessen beim Ange qui passe, danach für zwei Stunden in der Fondation Bodmer, wo gegenwärtig Schriftwerke aus zwei Jahrtausenden in Vitrinen und Regalen gezeigt werden. Das Einzugsgebiet reicht von altägyptischen Papyri bis ins 20. Jahrhundert … bis zu den Erstausgaben von James Joyce und Bertolt Brecht. Die Ausstellungsräume sind wie Grabkammern abgedunkelt, nur die Exponate – aufgehängt an unsichtbaren Fäden – baumeln (gewöhnungsbedürftig) in diesem Schattenreich, immer wieder gestreift von gleißendem Halogenlicht, das gebündelt in den Sälen kreist. Da: Isaac Newtons ›Principia‹ mit den Marginalien (und den Ruß- und Tabakspuren!) von Gottfried Wilhelm Leibniz; da: ein handschriftliches Goethegedicht; da: Erstausgaben von John Donne und William Shakespeare, auch von Flaubert, Baudelaire, Tolstoj – alles schwebend wie in einer riesigen Voliere. Die Ausstellung scheint kein Ende zu haben, allmählich gelangen wir zum Eingang und damit ins Licht der hiesigen Welt zurück, und plötzlich ist man (bin ich) mal wieder im Glück darüber, dass Texte, dass Werke von dieser Qualität irgendwann unter menschlichen Augen und Händen entstanden sind und dass der Himmel noch heute – Blick nach oben! – von ihnen und ihresgleichen vollhängt. Doch auch ein wenig Trauer mischt sich ein, Trauer darüber, dass hier Hunderte von Pionierschriften der Philosophie, der exakten Wissenschaften und der schönen Literatur entrückt in der Luft hängen, als wären sie nie berührt worden und auch nie dazu bestimmt gewesen, berührt zu werden. Als hätten wir sie noch immer nicht wahrgenommen. – Bei strömendem Regen fahren wir über Lausanne zurück nach Romainmôtier, treffen am frühen Abend ein, befeuern den Kamin; Krys erläutert mir eine Passage aus Johann Sebastian Bachs ›Musikalischem Opfer‹ anhand der Originalpartitur, die sie in einer neuen Faksimileausgabe mitgebracht hat; später lese ich ihr ein paar Fabeln von Vilém Flusser aus der Welt der Alltagsgegenstände vor – über Dinge und Undinge wie Gehstöcke, Hebel, Teppiche, Flaschen. Gibt zu lachen und … und zu denken! – So viele Erfolgsautoren! So viele Erfolgsromane! Soviel konsensfähige Literatur. Doch was die lesende Mehrheit interessieren kann und was allen gefallen darf, wird keine starke Literatur gewesen sein. Starke Literatur behauptet sich nicht vor einem möglichst weitläufigen Publikum … das kann schwache, beliebige Literatur viel besser … ja, nein, starke Literatur richtet sich immer, ob der Erfolg sie trägt oder nicht, an den Leser als Einzelnen, und sie hat deshalb auch immer wieder andern Erwartungen, Anforderungen, Hoffnungen gerecht zu werden. Starke Literatur ist dialogisch engagiert, weckt auf, spricht an, stößt ab, will Antwort. Lob, Preis, Erfolg braucht sie nicht, sie will kritisch gelesen werden, bloß überfliegen lässt sie sich nicht, auch gefallen kann sie kaum. Wo sich aber … wenn sich aber die »Kritik« sozusagen unisono als »Jury« geriert und bloß noch fördert, was möglichst viele anzusprechen und zu »berühren« vermag, ja dann … ja deshalb haben wir die Literatur, die wir so großmehrheitlich haben. – Eine dreistellige Milliardensumme (Dollar? Euro? Egal!) wurde im vergangenen Jahr weltweit in die Rüstung … in die Aufrüstung investiert – angeblich weniger als in den Jahren zuvor. Wofür sonst ließe sich ein einziger derartiger Jahresetat einsetzen? Für eine globale Energiewende! Für ein globales Bildungswesen! Für die globale Sicherung der Wasserversorgung! Für die globale Redimensionierung des Bevölkerungswachstums! Für globale medizinische Vorsorge! Usf. Von Kulturförderung nicht zu reden – die wird ja gemeinhin zuerst aus den Budgets gestrichen, obwohl sie von allen Etats der geringste ist. – Habe zufällig am Rand einer Vernissage S. M. getroffen, Deutschlehrer und Rezensent, der seit Jahren am Biel-Bernischen Literaturinstitut doziert und auch tatsächlich an die Lehrbarkeit literarischen Schreibens glaubt. Als Beweis dafür nennt er den einen und andern »erfolgreichen« Absolventen, der doch inzwischen diesen oder jenen Literaturpreis erhalten habe. Sei’s drum. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich unterhaltsames, leseleichtes, erfolgsorientiertes Schreiben als angewandte literarische Praxis trainieren lässt, nicht aber Literatur als Kunst. Literatur als Kunst kann ich nur bei mir selbst und durch mich selbst erlernen. Wer von den Großen des vergangenen Jahrhunderts ist nicht als Autodidakt zur Literatur gekommen? Kafka! Beckett! Brodsky! – In einem frühen Versuch zur Poetik der euroamerikanischen Moderne hatte ich die Begriffe des Dädalischen und / oder des Ikarischen vorgeschlagen zur Bestimmung … zur Charakterisierung literarischer Kreativität. Das Dädalische sollte für ein rational gelenktes, handwerklich (oder technisch) kontrolliertes Schaffen stehen, das Ikarische für eine Kreativität, die sich primär durch irrationale Impulse (Eingebung, Einbildungskraft usf.) leiten lässt. Konkret standen mir dabei zwei unterschiedliche … zwei gegensätzliche Bilder der Erhebung vor Augen – einerseits die mythologische Gestalt des ingeniösen Erfinders Dädalus, anderseits jenes des enthusiastischen Himmelsstürmers Ikarus. Dieses kontrastreiche Doppelbildnis des schöpferischen Menschen präzisierte und ergänzte ich damals auf apparativer Ebene durch den vergleichenden Hinweis auf den Freiluftballon und das Flugzeug. Der Ballon kann sich wohl von der Erde lösen, ist in der Luft aber nicht steuerbar, bleibt den Windströmungen ausgeliefert und wird an nicht vorhersehbarer Stelle landen, während das Flugzeug gezielt pilotiert werden kann, beim Start wie bei der Landung und auch in der Luft. Dem entspricht die technizistische Produktionsästhetik der Moderne, die an der Materialität und der Machart des Kunstwerks weit mehr interessiert ist als an arationalen Antrieben wie Inspiration oder Intuition. Nur das Flugzeug … erst das Flugzeug (schwerer als Luft!) hat ein Abheben entgegen der Schwerkraft möglich gemacht, bei dem ein vorgegebenes Ziel auf vorab festgelegtem Kurs präzis angesteuert werden kann – so wie es Edgar Allan Poe schon 1846, im Gegenzug zu den althergebrachten Genie- und Inspirationslehren, mit seinem epochalen ›Traktat der Komposition‹ für die Dichtung gefordert hatte: eine Forderung, die noch heute von vielen Autoren als Überforderung empfunden und vom mehrheitlichen Lesepublikum als Entzauberung der künstlerischen Inspiration beklagt wird. Anderseits haben Poe und seine Adepten den Weg zur Literaturrevolution des frühen 20. Jahrhunderts freigemacht, so wie die Brüder Wright und der Flugpionier Louis Blériot die »Eroberung des Luftraums« eingespurt haben – mit dem Unterschied nur, dass die motorisierte Fliegerei den Ballon längst hinter sich gelassen hat und zu einem Alltagsphänomen geworden ist, derweil die zeitgenössische künstlerische Literatur fast durchweg hinter den formalen Errungenschaften der klassischen Moderne zurückbleibt und sich mit einem Standard begnügt, der bereits vor hundert Jahren erreicht war. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Dass Literatur, im Unterschied zum technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, einer Gravitation unterliegt, durch die sie permanent an ein Mittelmaß … an eine künstlerische Normalität gebunden bleibt, die auch heute nur ganz selten durch herausragende, meist nur kurzfristig wirksame Einzelleistungen konterkariert wird. Der aktuelle Literaturbetrieb produziert unterm Diktat von Ratings, Umsatz- und Gewinnzahlen eine weithin unifizierte Belletristik, die kulturelle, nationale, thematische und auch künstlerische Differenzen bis auf wenige, bloß noch dekorativ eingesetzte Restelemente verschwinden lässt. Statt dessen dominiert inzwischen eine international begradigte Schreibweise, die in Irland und Ägypten, in Polen und Brasilien gleichermaßen im Trend ist … die im Sinn und im Jargon der Betriebswirte gleichermaßen »gefördert und gefordert« wird. Die Literaturkritik unterstützt diese Entwicklung in unguter Anpassung an die Lehrgänge der Literaturinstitute wie auch an trendbildende Verlagswerbung, und beliebig viele Preisgerichte bestätigen und bekräftigen sie. Ich widersetze mich dieser global wirksamen Tendenz nicht – wie könnte ich … wozu sollte ich? Die Gleichmacherei ist in den Künsten ebenso wenig aufzuhalten wie in politischen Belangen oder wirtschaftlichen Zusammenhängen. Ich möchte demgegenüber allerdings für eine neue literarische »Weltordnung« plädieren, und dies nach einem sehr simplen, von jedermann anwendbaren Kriterium. Die Belletristik – mit inbegriffen die Lyrik – mag sein und bleiben, was sie nun mal geworden ist, nämlich ein Teil der Unterhaltungsindustrie und der Publizistik. Trendbestimmte Themen wie Kindesmissbrauch, Altersdemenz, Homosexualität, Finanzkrise, Pornografie, Abzockerei, Plagiarismus, Doping, Umwelt- und Lebensmittelskandale sind gut aufgehoben bei ihr. Die primär künstlerisch engagierte, mithin sprachbezogene und selbstreflexive minderheitliche Literatur soll denn auch den Kunstanspruch allein vertreten und wird dafür sorgen und dazu stehen müssen, dass ihr Auftritt als elitär wahrgenommen wird – von einer kleinen Minorität in positivem Verständnis, von der überwiegenden Mehrheit mit klarer Ablehnung. Nach meiner Überzeugung hat dies … hätte dies durchaus seine Richtigkeit. Was ich nicht mehr akzeptabel finden kann, ist die Vermengung und Vermarktung … ist die Unterwerfung der beiden ungleichen Literaturklassen unter die gleichen Marktbedingungen und Bewertungskriterien. Mein Vorschlag in solch kritischer Optik wäre, die Mehrheitsbelletristik vollumfänglich den elektronischen Medien zuzuschlagen und … aber das Buch (als Objekt, als Medium) der starken, formal wie inhaltlich anspruchsvollen Literatur vorzubehalten. Der Literaturmarkt mit den Sektoren Werbung, Sortiment, Vertrieb und auch Rezeption wäre damit klar strukturiert, und wer auch künftighin noch Bücher kaufen würde, könnte sich einigermaßen darauf verlassen, dass er für einen deutlich höheren Preis auch deutlich mehr Qualität geboten bekäme – mehr Kunst! Wie es euch gefällt … – Ein kompaktes Grau steht senkrecht im Tag … sieht aus wie eine nach drei Seiten unbegrenzt sich ausdehnende Betonwand. Doch die Schwere und die Monotonie dieser Wand werden aufgehoben … werden abgeschwächt und beinah schon aufgelöst durch einen wehenden Schleier aus feinstem pulvrigem Schnee, der aus dem Grau herauszutreten … der den grauen Himmel zu verwischen scheint.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00