15. Oktober

Kontakte mit Jörg Drews, mit Klaus Hoffer. Letztern traf ich vor nicht allzu langer Zeit auf einer Kafkatagung im Dürrenmatthaus in Neuchâtel; wir hatten einander jahrelang nicht gesehen, hatten auch nie korrespondiert, fanden uns aber sogleich in freundschaftlichem Gespräch. Wir sind vom gleichen Jahrgang, dennoch gehört Hoffer (für mein Empfinden) zur Generation meines Vaters – sein Denken, seine Art zu reden, zu schreiben, selbst sein Schweigen gehört einer Vorzeit an, der ich mich zwar irgendwie verpflichtet, doch in keiner Weise verbunden fühle. Drews habe ich spät kennengelernt. Erstmals kamen wir vor etwa zwei Jahren anlässlich einer Jurysitzung für den Jandlpreis in Wien ins Gespräch, wir redeten nicht über Literatur oder gar über Literaten, statt dessen ausführlich (auf meine Bitte hin) über Gershom Scholem, mit dem er länger in Verbindung war, dann auch (was sich wie von selbst ergab) über unsre Krankheiten – er war damals guter Dinge, stellte sich auf einen langen produktiven Lebensabend ein, wollte mich mal mit seiner Freundin im Jura besuchen – nun überrascht er mich mit seinem Tod. Nie kann man wissen, wer der Überlebende gewesen sein wird. – Bewege mich zur Zeit, nomadisierend, im 17. Jahrhundert, das ich bisher weit weniger gut kannte als das 18., das mich aber durchweg fasziniert als epochaler Schauplatz existentieller Auseinandersetzungen zwischen Gottglauben und Sachwissen – schon damals war eigentlich doch alles gewusst und erlitten: Pascal! Descartes! Aber Wissen und Glaube waren noch auf Versöhnung angelegt. – Immer wieder versuche ich mir vorzustellen (wenn auf meinen Waldgängen alle paar hundert Meter eine Gruppe von Nordic Walkers oder zwei Reiterinnen oder ein Jogger oder drei behelmte Biker an mir vorbeischrammen), wie es wäre … was »der Mensch« wert sein könnte … wie aufregend jeder Einzelne sein würde, wenn er eine Rarität wäre, anzutreffen höchstens alle zehn Kilometer, vielleicht auch nur alle fünfzig, vereinzelt jedenfalls, weit gestreut, auf sich selbst gestellt und gleichzeitig angewiesen auf den fernen Nächsten. Statt in monströser Ballung jedermanns Nächster zu sein. – Im heutigen ›Tages-Anzeiger‹ berichtet ein Regionalkorrespondent in der Rubrik »Wald und Garten« vom derzeitigen Desaster mit der Aster; im Bund für den Kanton Zürich ist im Zusammenhang mit den schweizerisch-deutschen Querelen um die Verteilung des Fluglärms vom Fluchhafen Kloten die Rede; den neuen Film von Markus Imhoof, ›More Than Bees‹, qualifiziert ein Kritiker als kein B-Movie, aber ein spannendes Bee-Movie. Beispiele dieser Art von Kalauerei, die offenbar für aussagekräftig und bedeutungstragend gehalten wird, finden sich in Qualitäts- wie in Gratiszeitungen täglich zuhauf. Im Nachgang zur Blog- und Werbesprache hat auch die Presse … hat auch der professionelle Journalismus und Feuilletonismus entdeckt, dass ein leidlich amüsantes Wortspiel heute mehr aussagt … heute mehr bewirken kann als ein korrekt gebauter mehrteiliger Aussagesatz. Den meisten Lesern genügt ein schlichter Aha!-Effekt als Erkenntnisakt. Man glaubt den Sachverhalt zu verstehen, sobald man das Wortspiel kapiert hat. Das Sprachdesign der Werbung gibt dafür das Vorbild ab. Vergessen ist dagegen die Sprache der frühen Poesie, der mittelalterlichen Skalden und des Minnesangs, die mit ähnlichen Klangeffekten eine magische Wirkung erreichte, die dem Verstehen allemal voranging. – Zu den wundersamen Tieren gehören – so schön und so gut, wie sie sind – die Kühe; wie gescheckte Schränke stehn sie nun wieder (meist in lockeren Gruppen zu siebt, zu neunt) in den Weidewiesen, die schweren Schädel ins Gras gesenkt, mit leicht dampfenden Nüstern, glitzernden Lefzen. Sobald ich mich nähere, heben sie, alle gleichzeitig, die Häupter, drehn mir langsam ihren matten Blick zu, lassen ihn lange, minutenlang, auf mir ruhn; es ist ein unentzifferbarer Blick, desinteressiert, fern jeder Neugier oder Ungeduld, dunkel, vielleicht kurzsichtig, ganz und gar unangestrengt, wenn auch streng fokussiert – und endlich senken, alle auf einmal, die Köpfe, ohne Eile der Schwerkraft folgend, erneut ins feuchte kalte Gras. – In diesem Jahr wird es weltweit mehr Tote durch Fettleibigkeit gegeben haben als durch Hunger (heute in der Wissenschaftsrubrik der NZZ) – zum Lachen? Zum Weinen? Hinzunehmen als statistische Tatsache! Doch hier wirkt die Tatsache wie ein Hohn auf den gesunden Menschenverstand. Der Augenschein ließe das Gegenteil erwarten. – Heute, zur Abwechslung mal wieder, stundenlange Migräneattacken in Kopf und Bauch, Krämpfe ab sieben in der Früh, zur Zeit (14.43h) immer noch andauernd … ebenso jetzt (17.46h) und weiter bis zum Gehtnichtmehr. Das Gefühl letzter Erschöpfung wird aufgemischt durch das gegenläufige Gefühl der Erleichterung; es ist wie jedes Mal nach derartigen Attacken die Befreiung … die nicht mehr für möglich gehaltene Befreiung von Schmerz, Entwürdigung, Verzweiflung – ich gehe ins Dunkel hinaus, mache einen kurzen Abstecher zur Quelle am westlichen Waldrand, immer dem schmalen steilen Schatten nach, den mir der Vollmond über die Schulter wirft. – Meine Augenprobleme stecken offenbar im Hals, da gibt’s eine Verengung, einen Stau, der den Durchgang nach oben behindert und die Augen austrocknen lässt. Mit dieser Vermutung sitze ich im Wartezimmer. Ich soll, bis mich der Arzt ins Untersuchungszimmer ruft, ein wenig trainieren, mich auf den Kopf stellen, damit das Blut und auch der andere Saft der Schwerkraft nach durch den Hals in die Stirn sinkt. Doch mir wird bald schwindlig vom Kopfstehn, aus den Ohren dringt eine gallertige Flüssigkeit, die mich kitzelt und hellhörig macht. Mein Arzt ist eine Ärztin, die sich zur Zeit in Nuklearmedizin habilitiert und für ihren Auftritt im Prüfungskolloquium unbedingt meine Ratschläge braucht. Was sie mir (in nun schon ziemlich gereiztem Ton) unmissverständlich klar macht. – Ein Großteil dessen, was ich sage und schreibe, ist gelogen; am besten lüge ich dann, wenn die Lüge sich eigentlich erübrigt; der Wahrheit am nächsten bin ich dort, wo ich schweigen kann; die Frage nach der Wahrheit … das Problem der Wahrheit stellt sich, ernstlich, nur deshalb, weil wir – Menschen? – Sprache haben und ständig befangen sind im Spannungsfeld zwischen sprachlichen und außersprachlichen Gegebenheiten. – Ich möchte kein Original sein, bin – sozusagen – ein Universal, ein General (wie Scheusal, Schicksal, Mühsal, Überall …).

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