18. Februar

Die Temperatur schwankt unentschieden um den Gefrierpunkt, das Schmelzwasser ist abgeflossen, die verbleibenden Eis- und Schneereste sind mit Straßendreck durchsetzt, sehen aus wie im Asphalt erstarrte graue Fischrücken. Grippewetter. Pausengefühl. Gleichgültigkeit. Nichts zu erwarten, manches zu befürchten. Noch vieles … fast alles bleibt zu tun. – Theologie und Dichtung: Dichtung wie Theologie können … müssen über nichts reden können. Die Theologie, egal welcher Herkunft und Ausrichtung, lässt sich Namen, Definitionen, Funktionsbestimmungen, Eigenschaften, Fähigkeiten, sogar Geschichten und Voraussagen einfallen für etwas … für jemanden, der nirgendwo auszumachen ist, noch nie gesehen, nie gehört wurde. Die Unbestimmtheit beziehungsweise Unbestimmbarkeit ihres Gegenstands gibt Raum für tatsächlich poetische Konzepte wie Allgegenwart, Allmacht, Allwissen, aber auch Jungfrauengeburt, Auferstehung, Dreieinigkeit. Theologie als Lehre von Gott … von den Göttern kann das Göttliche mit dem Wind, mit dem Wort, mit dem Sohn, mit dem Geist, mit der Natur, mit dem Kosmos und auch mit dem Nichts zusammendenken; das Paradoxon, der Widerspruch, der Nonsens sind hier weit mehr als bloß rhetorische Figuren – da sie nichts Greif- oder Begreifbares bedeuten, sind sie selbst der Sinn. Oft fehlt ein derartiger textexterner Bezug auch in der Poesie; auch die Poesie kann über nichts und wieder nichts so wortreich wie kunstvoll sich aussprechen – statt zu besagen begnügt sie sich mit dem Sagen; statt etwas zu bedeuten, was sie selbst, als Sprachwerk, nicht ist, gibt sie zu hören oder zu lesen, was einzig sie sein kann: Wort und Rede pur, nicht mehr vorrangig aufs Verstehen angelegt, dafür aber offen für sinnliche Wahrnehmung und ästhetische Erkenntnis. Was sich kompliziert ausnimmt und vielleicht etwas hochtrabend klingt, ist in der Praxis des Lesens ganz einfach: Man achte auf das, was dasteht … man beachte den Klang, das Aussehen, die Fügung, den Eigensinn der Wörter und man fange damit etwas an … etwas Anderes, etwas Eigenes. – Mir selbst ist von der Kritik mehrfach bestätigt und vorgeworfen worden, meine Lyrik mache »es« der Leserschaft »nicht leicht«, meine Gedichte seien zu »dicht«, zu »dunkel«, zu »anstrengend« oder gar – Gipfel der Provokation! – zu »poetisch«, zu »künstlich« (als wären Gedichte Naturprodukte). Warum sollte ich »es« einem Leser, den ich ernst nehme, leicht machen? Der Leser hat »es« leicht mit meinen Gedichten, da ich sie ihm zu freiem Umgang überlasse und eigentlich nur darauf hoffe, dass er damit auch tatsächlich etwas anfangen kann. In solchem Verständnis mögen die Gedichte »dicht« oder auch »dunkel« sein – das hat durchaus seine Richtigkeit; denn Transparenz zur außerliterarischen Welt strebe ich nicht nur nicht an, ich versuche sie nach Möglichkeit zu vermeiden, um den Text von vorgegebenen, also hinter ihm liegenden Bedeutungen freizuhalten. Mir geht es nicht um den Bedeutungs- oder Wirklichkeitsgehalt des Gedichts, sondern um sein Sinnpotential. Nimm’s! Lies es! Mach etwas daraus! Schreib daran weiter! Zum Beispiel hier … zum Beispiel in dieser Perspektive: Der Horizont ist das
aaaaawas Augen stutzt. Und duzt
aaaaaan jenem Punkt
aaaaader Weltgeschichte die Ebene
aaaaadas morgige Gestirn.
aaaaaJeder Gruß tut aber immer
aaaaanie vernarben. Wessen
aaaaaPracht ragt zuletzt
aaaaanoch als Flügel ins Fernweh.
aaaaaLässt hören
aaaaaim bunteren Rauschen
aaaaawas gilt.
aaaaaSo stillt’s
aaaaadie vielen Lieder die
aaaaagefallen. So fährt’s durch Feld und
aaaaaBerg und verebbt
aaaaain nicht enden wollendem
aaaaaGefieder. Wie Drähte
aaaaasingen oder sinkt vorm Schmerz
aaaaadie absolute Kapitale.
aaaaaSchickt sich in die Wüste. Wo
aaaaamit hellem Tierblick
aaaaadie Moderne liegt als wäre sie
aaaaaam Leben. Und wo
aaaaaunterm Horizont der Himmel
aaaaaseine zahllose Nacht hat.
– Alain lesen! Alain (d. i. Emile Chartier) ist der gesündeste, trockenste, toleranteste aller Autoren, seine ›Propos‹ – schlicht: Aussagen, Aussagesätze – sind Lebenskunde und Lebenshilfe gleichsam in Pillenform, auf mich wirken sie eher heilend, beruhigend als anregend. Ich denke, ich würde die vier oder fünf Dünndruckbände, die ich von ihm habe, insgesamt ein paar tausend Seiten, auf jene ferne Insel mitnehmen, die noch keinen Namen hat und noch keinen Robinson kennt; denn wer Alain griffbereit hat, der bekommt immer auch zahlreiche andere Autoren – die stärksten von Heraklit bis Valéry – zu lesen. – Damit Gott in die Welt zurückfinden könne, notiert Simone Weil, müsse der Mensch sich aus ihr zurückziehen. Das wäre der Gegenzug zum Zimzum der Kabbala, der Selbstentäußerung Gottes, der sich zu einem ausdehnungslosen Punkt kontrahiert, um allem andern Platz einzuräumen und so überhaupt erst die Schöpfung zu ermöglichen. Diese raumschaffende Kontraktion ist identisch mit der göttlichen Weisheit und Güte. Bei der Lektüre Simone Weils ist man … die Lektüre Simone Weils versetzt mich durch ständige paradoxale Provokationen in einen Zustand völliger Losigkeit, der zugleich ein Zustand der Ausweglosigkeit ist. Man steht … ich stehe mit weit offenen Augen frontal vor einer schwarzen, nach obenhin wie nach der Seite unbegrenzten Wand, wenn ich lese, der Tod sei groß und schön als Akt verzichtender Liebe oder – die beste Zeit sei die, »in der man alles verliert«, also nichts mehr hat, aber auch nichts mehr begehrt; oder auch – jedermann sei verbannt und fremd »hinsichtlich jedes beliebigen menschlichen Milieus ohne Ausnahme«. Besonders vertraut ist mir der Gedanke an Missstände, Ungerechtigkeiten und Verbrechen, »an denen ich keinen Anteil habe« und die mich dennoch »mit einer Mischung aus Entsetzen, Mitleid, Scham und schlechtem Gewissen« erfüllen, weil das Unrecht wenn nicht durch mich persönlich, so doch durch meinesgleichen geschieht, also vom Menschen bewirkt ist. Diese schlichte Tatsache kommt mir so peinlich und schändlich vor, als wäre ich für jene Gefährdungen und Nöte in jedem einzelnen Fall, von dem ich erfahre, persönlich verantwortlich. Ist das die Hysterie des passiven Schreibtischtäters? Dessen, der sich schuldig fühlt, allein weil er weiß … und der immer auch weiß, dass er außer seinem unproduktiven Gratiswissen nichts in Reserve hat, um auch nur einen Deut zur Verbesserung der Welt beizutragen. – Gut und tief geschlafen bei vollem Licht; ich vergaß die Lampe überm Lukrez zu löschen, bin mitten im fünften Gesang aufgewacht. Die anthrazitene Nacht weicht nun schon ziemlich rasch einem mit feinem Rosa untermischten dämmrigen Blau. Die Kälte hat sich nochmals verschärft und verstockt, bin irgendwie (naiv) erstaunt darüber, dass die Geräuschwelt – Hahnenschrei, Hufgeklapper, Hundegebell, Axtschläge, Motorenlärm – von der allgemeinen Starre unberührt bleibt und im glasklaren Raum so frei und variantenreich expandiert: ein wogendes Auf und Ab und Hin und Her, mal anschwellend, mal verebbend – die hiesigen … die immer wieder frisch entbundenen Sirenenklänge.

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