19. November

Ich bewohne mit Krys seit kurzem eine weitläufige, großfenstrige Wohnung in einem Hochhaus. Wir sind noch beim Einräumen, sie packt ihre Wäsche, ihre Strümpfe und Schuhe aus, legt sie in den Schlafzimmerschrank. Hier sollen wir künftig Liebe machen! Wir sind mit der Einrichtung noch lange nicht fertig. In einem der leeren Räume treffe ich auf drei mir fremde Personen, einer davon ist durchs Fenster aufs schräge Blechvordach hinausgeklettert. Ich weiß, dass es sich um unsere Etagennachbarn handelt, aber warum sind sie nun hier, warum wollen sie raus übers Dach? Der Wohnungsmieter hat seinen Schlüssel verloren, den einzigen, den er besitzt. Wozu aber klettern? Wozu sich so weit hinauswagen? Wir rufen die Polizei! Nein, wir rufen den Hauswart, der doch sicherlich einen Schlüssel hat und die Wohnung problemlos öffnen kann. Der Hauswart eilt sofort mit mehreren Helfern herbei, auch Galina und Gena Ajgi gehören zum Team. Galina arbeitet jetzt auf eigene Rechnung als Wohnungsvermittlerin, sie hat einen großen Schreibblock bei sich, kann unserm Nachbarn eine neue Wohnung an der Jungstraße anbieten. Mit einem Begleiter (Oskar Pastior?) geh ich zur Bushaltestelle, um hinzufahren und die Wohnung zu besichtigen. (Warum aber ich? Warum in Begleitung?) Eine zerzauste Frau mittleren Alters spricht mich auf der Straße an, bittet um Kleingeld. Ich suche in meinem braunen, leicht zerknüllten Geldkuvert unter sehr vielen Scheinen irgendeinen kleinen Wert, finde aber nur Achtziger, Hunderter, Fünfhunderter. Ich gebe ihr schließlich einen Hunderter, den sie ja aber für den Bus nicht brauchen kann. Mit meinem Begleiter fahre ich nun zur Jungstraße. Wir kommen bei einem Supermarkt an, es ist ein älteres düsteres Gebäude, wir nehmen den Aufzug in den 3. Stock, suchen nach der Cafeteria. Die Cafeteria befindet sich ganz am Ende des Korridors, ist voll besetzt. Es gibt gerade noch einen freien Rundhocker, auf dem ich nun meine Mappe und das Geldkuvert ablege, um ihn für mich zu besetzen, während ich zum Büfett gehe, Essen holen, etwas zum Trinken. Ich komme nach Hause, treffe bei der Eingangstür auf einen jungen Mitbewohner (Thomas Müller?) und frage ihn, ob er an unsrer Wohnung, die viel größer ist als die seine, interessiert wäre. Nein, er kann diese hohe Miete nicht bezahlen, nein, das ist nichts für ihn. In diesem Augenblick, bemerke ich, dass ich Mappe und Kuvert im Supermarkt vergessen habe. Also sofort dorthin zurück, ich weiß nicht mehr, in welchem Stock und an welchem Korridor sich die Cafeteria befand, fahre rauf und runter mit dem Lift, finde endlich den vollgequalmten Raum mit den vielen Leuten, sehe mich um, entdecke auf einem der Hocker meine Mappe, finde aber keine Spur vom Geldkuvert, habe also zweiundzwanzigtausend Euro? – oder Ostmark? jedenfalls eine Fremdwährung – verloren. Nachzufragen hat wohl keinen Sinn, aber da ruft mich der Tresenchef (oder die Barkeeperin?) zu sich, präsentiert mir das Kuvert, sagt: Alles da! Ich fasse ihn dankbar bei den Unterarmen, an der linken Hand trägt sie ein schweres klirrendes Armband, geschmiedet nach keltischer Manier, aufgeladen mit atomarer Strahlung. Das Kuvert gibt er mir gegen Unterschrift zurück, spendiert uns (ja, Oskar ist wieder dabei) einen Obstler, und ich bestelle vor lauter Menschenfreundlichkeit gleich zweimal Amaro (?) dazu.Überlebensenergie ist vor allem aus Feindschaften zu gewinnen; man will ja nicht für die Freunde überleben, man will die Feinde überleben. Der trauernde Freund fällt weniger ins Gewicht als der triumphierende Feind. – Im Fernsehen (»Kulturzeit« auf 3sat) Sendung über die aktuelle Ästhetik der Vulva. Totalrasur der Schambehaarung als Norm bei Mädchen und jungen Frauen, aber auch bei reiferen Damen, die jugendlich wirken möchten, wissend, dass Männer heute mehrheitlich nach jungem Fleisch verlangen. Ob das mit dem rasch zunehmenden Trend zu Kinderpornografie und Kinderschändung korrespondiert? Und soll man daraus schließen, dass sich »die Frau« bereits jetzt dem Druck männlichen Begehrens nach Unreife beugt … zu beugen bereit ist? Und könnte solche Bereitschaft den kriminellen Faktor sexueller Übergriffe auf Mädchen und Frauen relativieren, mit der Zeit vielleicht gar normalisieren? Etwa so, wie in viel früheren und keineswegs besseren Zeiten die Vergewaltigung relativiert wurde durch die sogenannten ehelichen Rechte (des Manns) und die sogenannten ehelichen Pflichten (der Frau)? – Bin für zwei, drei Tage in Hamburg zu Besuch bei E. Sch., H. G., M. G. Der späte November zeigt sich in frühlingshafter Luzidität und Frische – Märzember wäre mal wieder der bessere Name. Unterwegs durch Altona mache ich kurz vor Mittag Halt vor einer Holzbude auf dem Weihnachtsmarkt, setze mich an einen der davorstehenden schmalen Tische – auf der Karte gibt es Dutzende von Bieren und Schnäpsen, Essen wird nicht serviert, kein Brötchen, keine Brezel, keine Wurst, nichts; ich bestelle einen Birnenschnaps aus Pommern. An einem Tischchen etwas weiter weg sitzen zwei junge Frauen, die eine – vornüber gebeugt, auf die Ellenbogen gestützt – kehrt mir den breiten Rücken zu, hinter dem die andre, ihr gegenübersitzend, fast verschwindet; nur hin und wieder taucht ihr rundes Gesichtchen neben oder über den mächtigen Schultern auf. Nastassja? Nastassja Filippowna, hierher versetzt aus einem klassischen Roman! Ein Gesicht von auffallender Schönheit, wie von innen erhellt, mit fast weißer, von den Wangen zu den Schläfen hin leicht geröteter Haut, mit schmalen grauen Augen, mit einem starken blassen Mund, aus dem eine auffallend tiefe Stimme unentwegt redet. Das Mädchen ist in ständiger Bewegung, wendet das Gesicht kokett ins Mittagslicht, redet und redet – nicht aufdringlich, eher beschwörend – auf ihr geknicktes Gegenüber ein, als müsste sie die Freundin zum Leben verführen. Die andre sitzt reglos da, scheint immer tiefer auf den Tisch zu sinken. Plötzlich stampft die Hübsche auf, erhebt sich, läuft, die Strickmütze auf die Brauen ziehend, davon, läuft nicht, sondern hüpft, nein, sie hinkt – sie hat ganz kurze dicke Beine, die sich wie Prothesen unter der engen schwarzen Hose abzeichnen. Sie hüpft, sie hinkt zwischen den Buden davon und wendet sich nicht mehr nach ihrer schweren Partnerin um, die inzwischen kopfvoran auf die Tischplatte gesunken und vielleicht schon eingeschlafen ist. – Zwischen meinen Lieblingsautoren und meinen literarischen Vorbildern sind die Unterschiede so groß, dass ich sie in zwei separaten Listen aufführen müsste. Autoren, die ich besonders gern und immer wieder lese, gehören nur selten zu denen, die mich zum Schreiben anregen und meine Schreibbewegung mitbestimmen, und andersherum kann ich gerade diese, also die für mich vorbildlichen und anregenden, nur in kleiner Dosis rezipieren – hier geht Intensität vor Unterhaltung und Bewunderung. Was mich hinreißt, kann mich nicht auch noch beeinflussen oder gar prägen; was mich beeinflusst und prägt, reißt mich meist nicht sonderlich hin, lässt mich vielmehr einhalten, zusehen, nachdenken, Abstand nehmen, ist auch oft schwierig, wenn nicht unangenehm zu lesen. Lieblingsautoren? Um bloß ein paar wenige zu nennen: Kafka! Lukrez! Musil! Plutarch! Puschkin! Shakespeare! Vorbilder? Auch nur ein halbes Dutzend für heute: Char! Hopkins! Leiris! Mallarmé! Ponge! Marina Zwetajewa! Und was ist mit Arthur Rimbaud? Joseph Roth? Raymond Roussel? Sie stehen alle unter R und sind jederzeit aufzuschlagen.

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