2. März

Maurice Blanchot soll, einem Bericht aus seinem Bekanntenkreis zufolge, »entzückt« gewesen sein, als er einst von Heidegger – der ihn mit Georges Bataille verwechselte – für eine seiner Hölderlinstudien gelobt wurde. Entzückt worüber? Wohl eher über die Verwechslung als über das Lob. Denn seiner Einsicht nach ist der, der schreibt, stets einer, der er nicht ist, und ist das Geschriebene – statt Zeugnis des auktorialen Ich zu sein – eine »Maske«. Bei manchen Philosophen und Schriftstellern (und vorzugsweise bei den Schriftstellerphilosophen) hat Blanchot dieses verstörende Phänomen aufgezeigt, besonders prägnant bei Albert Camus: »Alle seine Bücher verbergen und bezeichnen ihn, denn sie sprechen von ihm, aber von einem Anderen als ihm.« – Früh morgens finde ich hinterm Küchentisch schon wieder ein neues Bild aufgehängt – es zeigt genau das, was der Fensterrahmen freigibt, immer das Gleiche, doch das Gleiche für einmal in ganz besonderer Ausformung, Ausleuchtung, Farbgebung. Heute sieht’s aus, als hätte die frühe, noch ganz tief stehende, von hier aus noch gar nicht sichtbare Sonne die Baumwipfel auf der Kuppe des Hügels in Brand geschossen – oder auch nur gestreift. Das noch fast kahle, aber dichte, mit rötlichen Knospen besetzte Gezweig wiegt sich im morgendlichen Biswind, unter der flachen Beleuchtung sieht es aus, als wogten da lauter warme Farben, Braun, Gelb, der Eindruck ist eher herbstlich denn frühlingshaft. Eine Weile lasse ich den Blick dort oben ruhn, wo die leicht schwankenden Wipfel an den frischen, graublauen Himmel rühren, merke nun, dass ich der kaum merklichen Wanderung des Frühlichts tatsächlich mit dem Blick folgen kann, sehe, wie der aufkommende Sonnenschein zuerst den Waldsaum, dann die darunter liegende Flanke des Hügels mehr und mehr ausleuchtet, wie er über die steile Grasfläche, über Zäune, über die ersten Hausgiebel, die Dächer, das Mauerwerk streicht, bis er – es hat vielleicht zehn, zwölf Minuten gedauert – an meinem Fenstersims ankommt. Ich lehne mich kurz ins Licht hinaus, unter dem Fenster liegt eine zerknautschte Petflasche auf dem Fußweg, in der grellen Beleuchtung wirft sie einen langen, kristallinen Schatten, der mit seinen feinen Ecken und Kanten aus sich selbst zu leuchten scheint. – Heute ist der Tag schon um halb acht ganz groß, ganz da, der Himmel gleichmäßig zugemalt mit blassem Violett, keine Wolke, kein Wind, die sichtbare Welt präsentiert sich wie ein sorgsam retuschiertes Kalenderbild. Zur Reglosigkeit dieses Bilds steht die Klangfülle, die es durchwirkt und überwölbt, in auffallendem Gegensatz – wie unter Kopfhörern schlendere ich nordwärts durch den Wald, kein Lufthauch ist zu spüren, die Vögel beherrschen den zart durchgrünten Raum, sie orchestrieren ihre lauteren Stimmen zu einem symphonischen Klangereignis: Die Stimmen wiederholen die immer gleichen und doch immer wieder etwas anders artikulierten Kadenzen, überlagern und antworten einander, und da ihre beweglichen Quellen hoch im Waldgelände verstreut sind, ergibt sich daraus ein weiträumiger Stereoeffekt. Während die Singvögel rauf und runter trällern, würgt ganz in der Nähe eine Wildtaube ihre Gurgeltöne heraus, ein dreifaches Würgen und Gurgeln, nacheinander langsam leiser werdend, und von weither kommt mit einigem Verzug die fast gleichlautende Antwort. Es ist ein Dialog auf Distanz, die beiden daran Beteiligten regen sich nicht, bewegen sich nicht aufeinander zu. Monologisch ist demgegenüber der Ruf des Kuckucks, der sich aus einem der noch kaum belaubten Wipfel vernehmen lässt, wobei er sich auf zwei luzide, aber warm ausschwingende Töne beschränkt, einen ersten, höheren, der jedes Mal gefolgt ist von einem etwas tieferen, leiseren – es gibt keine Antwort auf diesen endlos wiederholten Appell, nur ein fernes, verfremdetes Echo. Um aber auf das stehende Bild zurückzukommen, durch das ich mich wandernd bewege – da ragen, noch immer reglos, beliebig viele Bäume, sie stehn für das, was man »Wald« nennt, und doch steht jeder Baum auch für sich allein, ist jeder vom andern zu unterscheiden, hat jeder seine eigene Art, ist jeder eins. Darin manifestiert sich immer wieder und überall das »Wunder der Natur«, dass sie bei all ihrer Massenhaftigkeit ausschließlich Einzigartiges, Individuelles, Unterscheidbares hervorbringt; selbst »der Mensch«, selbst »die Menschheit« besteht aus lauter unverwechselbaren Einzelwesen, von denen jedes seine singulären Handlinien und Stimmfrequenzen hat und dazu zahllose andere Besonderheiten. Doch bekanntlich werden solche Qualitäten weithin von den Quantitäten dominiert, die alles Singuläre zu einem großen Ganzen verrühren, das leichter zu erkennen und zu benennen ist: Klasse, Gattung, Art, Gruppe, Familie usf. In diesem Verständnis bringt auch der Wald die Bäume zum Verschwinden, aus denen er doch besteht; oder er lässt sie zumindest vergessen. – Auf einem Wühltisch der Buchhandlung Payot in Yverdon bin ich in diesen Tagen zu meinem Erstaunen auf Julien Gracq gestoßen – hatte unversehens das schmale Bändchen ›Littérature à l’estomac‹ in der Hand, eine jener wunderbar schäbigen Broschüren aus dem Verlagshaus von Jean-Jacques Pauvert, datiert von 1964, eingeschlagen in feines Packpapier, mit geschwärztem Buchschnitt und nun hier angeboten zum Einheitspreis von zwei Schweizerfranken. Ich hatte den Gracqschen Text gleich nach seinem Erscheinen gelesen (war damals zum Studium in Paris), ihn dann bald an einen Kommilitonen ausgeliehen und nicht wieder zurückerhalten. Diesmal hab ich mir das kleine Buch nicht wegen des Inhalts – »Literatur zum Verschlingen«! – gekauft, sondern wegen seiner ungewöhnlichen Aufmachung, die in ihrer gewollten Ärmlichkeit bis heute … noch heute eine geradezu bibliophile Aura bewahrt. Und bin dann eben doch ins Lesen gekommen! Hab’s mit dem gleichen Vergnügen und Interesse wie damals durchgelesen und stelle fest, dass Gracqs Thesen zum Literaturbetrieb inzwischen an Aktualität eher gewonnen denn verloren haben. Mein eigenes Ungenügen am Betrieb allgemein und an der Literaturvermittlung im Besondern ist bei Gracq so präzis vorformuliert, dass ich ihn eigentlich bloß zu zitieren bräuchte, um es adäquat und unmissverständlich auf den Punkt zu bringen. Doch da ich mich nun schon mal eingelesen habe, nutze ich – mit nachträglicher Verbeugung vor Julien Gracq – die Gelegenheit, meine Lektürenotizen durch einige weiterführende Überlegungen zu ergänzen. Wenn Julien Gracq der meinungsbildenden Kritik vor einem halben Jahrhundert vorwerfen konnte, einer »Literatur für den Magen« das Wort zu reden, hat dies noch immer – unter mehreren Gesichtspunkten – für das zeitgenössische Rezensionswesen seine Richtigkeit. Der »Magen« steht hier einerseits für Lebensnähe und Welthaltigkeit, anderseits für Bekömmlichkeit, leichte Verdauung sowie positive Wirkung (etwa als Spaß, Spannung, Unterhaltung, Information, Aufklärung, Überraschung usf.) – weder das eine noch das andere hat notwendigerweise mit Literatur als Kunst zu tun, beides könnte auch durch Textsorten wie Essay, Reportage, Autobiografie geleistet werden. Doch tatsächlich bewegen sich heute literarische Genres wie die Erzählung, der Roman mehrheitlich auf dem außerliterarischen Terrain der Erfahrungsberichtserstattung und damit »hart an der Wirklichkeit«, was nicht allein ihre Authentizität, sondern auch ihren Wahrheitsanspruch erhöht, dies bei gleichzeitigem, eben dadurch bedingtem literarischem Qualitätsschwund. Rezensenten scheint das nicht anzufechten; für viele … für die meisten von ihnen besteht ein gutes Erzählwerk schlicht aus (Originalzitat:) »Menschen aus Fleisch und lebendiger Prosa«, ist mithin ein hybrider Text-Körper, gleichermaßen durchpulst von Menschenblut und Druckerschwärze. Wo die Lebenswirklichkeit so nah ist, ist auch der literarisch versorgte »Magen« nicht fern, und es darf vom »Sahnehäubchen« oder von der »Kraftnahrung« geredet werden, welche dieser Autor, jene Autorin anzubieten hat, von einem gewaltigen Roman, den man – als Rezensent wie als Leser – »begierig wie kräftigen Mokka schlürft«, von grandiosen Erzählungen, die »eindeutig Suchtpotential haben« oder von einer großartigen Autorin, die »eine Sprache für alle Sinne« schreibt, so dass man – mit dem Großkritiker Peter von Matt – »die Klänge auf der Zunge riecht, schaut, fühlt, hört und spürt«. So nah am Magen wird keineswegs nur in der literarischen Provinz geschrieben; so liest man’s allzu oft auch im sogenannten Qualitätsfeuilleton. Aber mit der Zunge Klänge zu schauen – soviel Synästhesie ist da wie dort sicherlich zu viel des Guten. Unmissverständlich lässt sich aus derartigen kulinarischen Empfehlungen schließen, dass die dafür einstehenden Kritiker nur noch über ihren »Geschmack« zu Urteilen kommen, doch sind Geschmacksurteile, wie man weiß, bloße Meinungsäußerungen und als solche nicht zu widerlegen. Jedermann hat, bis zur Geschmacklosigkeit, seinen eigenen Geschmack, jeder mag sich seines Geschmacks sicher sein und sich daran erfreuen, aber eine Literaturkritik, die den Geschmack zu ihrem zentralen Kriterium macht und sich damit jeglicher argumentativen Verantwortung entzieht, steht wohl tiefer in der Krise als jene allzu »schwierige« Literatur, die [bricht ab]

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