2. November

Es hat nachtsüber durchgeregnet. Stundenlang klatschten sturmartige Windböen das Wasser gegen die Rollläden. Bis drei Uhr früh ging ich schlaflos in der Wohnung auf und ab, hörte Johann Sebastian Bachs Geigenstücke mit Hilary Hahn, sah mir die Sexangebote im TV an, las mir im Gehen die dreihundertelf Definitionen Gottes vor, die Valère Novarina zusammengetragen hat – eine litaneiartige Kompilation in Form einer langen Liste von Vermutungen, Behauptungen, fixen Ideen, spontanen Einfällen, angeblichen Beweisen, diversen Wunsch- und Horrorvorstellungen; doch die erhoffte einschläfernde Wirkung trat nicht ein. Ich war zu aufgeregt, Wind und Regen hielten mich mit ihrem stürmischen Getue in Trab. Erst gegen fünf Uhr früh, ich hatte noch den Ausstellungskatalog von Markus Raetz angeblättert, schlief ich ein. Jetzt ist es zehn Uhr neununddreißig, die Nässe ist abgetrocknet, die Sonne steht schräg in der Gasse, leuchtet sie mit grellem Schein aus, wirft scharfe Schatten über die Fassaden. Alles ist irgendwie anders. Aber wie genau? – Mit Krys beim Frühstück kommt es zum Tratsch über »das erste Mal«; meine diesbezügliche Neugier ist geringer als ihre, auch fürchte ich, den Vergleich mit Krys in dieser Sache klar nicht zu bestehen. Ein wenig reden wir hin und her, das Fazit ist ziemlich ernüchternd und lässt sich leicht zusammenfassen: Bei Krys war das erste Mal gut, aber peinlich, bei mir – peinlich, aber gut. Oder täuscht man sich in solchen Dingen? Vielleicht war’s ja eher umgekehrt! – Ich bin alt genug, um längst obsolet gewordene Dienstleistungen erfahren zu haben, an die sich in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft kaum noch jemand erinnert – die regelmäßige Wiederkehr des Scheren- und Messerschleifers auf der Gasse; die Schneiderin, die jährlich dreimal »auf die Stör« kommt, um Kleider zu nähen und Gestricktes zu flicken; der Milchmann, die Eierfrau, die täglich in der Früh die am Vortag bestellte Ware vor der Tür deponieren; die bulligen Männer mit ihren rußgeschwärzten Gesichtern und Schultern, die aus staubigen Säcken zentnerweise Kohle in die Kellerluke kippen; Straßenbahnführer, die stehend ihren Dienst versehen und von den drängelnden Fahrgästen geschubst werden, während sie mit der rechten Hand die Geschwindigkeitskurbel, mit der linken den Bremshebel und mit dem Fuß das Klingelpedal bedienen. Aber das waren doch schon damals, in den 1950er Jahren, ganz und gar moderne Zeiten! Mein Großvater väterlicherseits wurde jedes Jahr einmal, meist im Spätherbst, von seinem Bankberater Jules Bollag mit der schwarzen Geschäftslimousine – ursprünglich ein Londoner Taxi – zu Hause abgeholt, zum Hauptsitz gefahren und danach ins Bordell eingeladen. Ich weiß es, weil ich einst – ein einziges Mal – als kleiner Junge mitfahren und mitgehen durfte; während Großvater sich vergnügte, beschäftigte sich im Roten Salon eine nette Dame mit mir, die eigens dafür bezahlt wurde – ich sollte … ich durfte sie Tante nennen, und mit ihr zusammen spielte ich ganz wunderbare Spiele, jedes eine Premiere! Doch Wunder kommen, falls sie kommen, nur einmal und nie wieder. Deshalb bleibt die Erinnerung daran so stark. – Exit. Mal reicht die Treue bis zur Heiserkeit. Mal grinst zwischen aaaaaSpringstiefeln schwappend
aaaaadie Lache. Noch das gestrige Scheiße!
aaaaadauert und taugt. Wie Neid oder Reue
aaaaadie den Menschenweizen – ungeschieden von
aaaaader Spreu – als räuberische Wolke äufnen.

(Mein Bewusstsein, vermute ich mit A. Z., ist nichts als ein Entwurf, eine Übereinkunft; nichts als eine kommunizierende (und aber womit kommunizierende?) Röhre, aus der nie nicht Angst aufscheint, aufkommend vom Grund, hochblubbernd aus jenem düstern Magma, in dem, vor allem Wissen, winzige Kristalle sehr langsam zerfielen und sich zu Wolken türmten, zu Gefühlen wurden. Gestalt seien wir bloß, meint A. Z. – und nach so langer Zeit des Wartens, des Vergessens sieht er das wohl richtig –, um die Unbeständigkeit zu rechtfertigen, aus der wir geknetet wurden wie die Erde aus dem Feuer, das in ihr nachglüht. Oder umgekehrt. Geknetet wie das Feuer, das in der kalten Riesenfaust zum Erdball geriet.)
aaaaaDa bleibt manch ein Witz wie Weh! in der
aaaaaSchwebe. Da ist der Zauderer ein wahrer
aaaaaMeister. Geduldig also abgewartet bis
aaaaaHoffnung und Lachen und Unschuld
aaaaavergehn. Und endlich (im flickrigen
aaaaaDunkel) zum Ausgang getanzt. Da steht
aaaaaschon die Luft. Und hält den Atem an.
– Eigentlich ist noch nicht einmal Abendzeit, sechzehn Uhr acht, und doch schiebt schon die Nacht ihre Wache. Der Nieselregen wabert im Schein der Straßenlaterne vorm Fenster. Das staubfeine Wasser sammelt sich am obern Fensterrahmen zu dicken Tropfen, die immer schon bald der Schwerkraft nach über das alte, leicht gewellte Glas nach unten schlieren. Die rundlichen Pflastersteine sind mit matten Glanzlichtern bestreut. Die Sträucher am Gartenrand, der Kletterturm im Schulhof, die TV-Schüssel und die Alarmsirene auf dem Gemeindehaus – alles ist nur noch wie ein filigraner Scherenschnitt zu sehen und verliert sich schon bald im tieferen nächtlichen Dunkel. – »Weiter als bis zu meinem Tod geh ich in meinem Abendprogramm nicht zurück. Ich hüte mich, seitdem ich die eigene TV-Show habe, zu sehr auf die Pauke zu hauen und klüger als der Durchschnitt sein zu wollen. Nein. Das Publikum soll bei seinem Leisten bleiben und trotzdem dann und wann den Atem anhalten. Ich liebe mein Publikum, es tut alles für mich. Auch vereinzelte Pfiffe oder – wie gestern – ein kurzes Murren aus der Ecke hinten links darf ich als Applaus verbuchen. Ich meine, ich tu’s einfach, verbuche einfach alles als Applaus, auch der Applaus bei falsch verstandnen Pointen ist mein Erfolg. Ich lasse das Publikum pfeifen und klatschen, wissend, dass alles bloß ein großes Patzen ist. Solang ich die Leute dazu anhalten kann, von sich selbst und von den Eintrittspreisen abzusehn, fressen sie mir so manches, auch die Wahrheit aus der Hand. Für mich ist das der größte Triumph. Mehr muss nicht sein. Und auch was sein muss, ist kein Kunststück und kein Maximalprogramm. Ich zieh’s aus dem Ärmel oder greif ’s aus der Luft – es sind ja meistens ganz einfache Sätze … einfache Aussagesätze, also keine Behauptungen oder Versprechungen. Ich sage nur … zum Beispiel sage ich: Wie geht’s uns heute, Leute, wir sind ja nun alle erkältet. Kein Wunder bei diesem Vorweihnachtswetter. Alle im selben Boot. Keiner gefeit. Aber nicht wahr, wir machen das Beste daraus. Wir bekommen kaum Atem, husten uns in die Faust, und die meisten Pointen überhören wir. Womöglich auch die vom Krieg als Hygiene für künstliche Mütter. Und so fort. Oder auch anders rum. Die Vorsokratiker sind schwer zu behalten, und das Vergessen liegt mir nicht. Ich mach dann halt in Momenten des Zweifels und der Atemnot so weiter, wie’s eben noch geht. Ein schlechter Unterhalter bin ich deswegen noch lange nicht. Noch lange nicht werde ich deswegen den Glauben an mich, an mein Talent verlieren. Klar, dass ich – ob erkältet oder nicht – hin und wieder die Brille absetze, beim Weiterreden die Gläser behauche, um sie blank zu reiben, die Brille wieder aufsetze, sie zurechtrücke und den Faden dort aufnehme, wo er mir grade entglitten ist. Das kann überall sein – beim Lapsus des Bundespräsidenten, beim Busenblitzer der Wetterfee, bei der Geldwaschanlage des weithin bekannten Radsportsponsors, beim Bestsellererfolg einer schreibenden Hausfrau oder auch bei meinem letzten Kalauer, den offenbar keiner im Saal besonders aufregend oder gar amüsant fand.« [bricht ab]

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