20. Oktober

Ich haushalte mit Krys zu dritt, und zu dritt reisen wir auch – doch wer ist der Dritte? Bin mit Lazar Fleishman im Wald zurückgeblieben, könnte ihn ja fragen, doch – dort! – der kleine, ganz in Asche gekleidete, mir unbekannte Junge lenkt mich ab von dieser Nebensache. Herbstlicher Dunst und vereinzelte silbrig schimmernde Spinnenfäden wehen durch den dichten Baumbestand bis der schmale Holzweg, auf dem heute nur ganz selten ein Wagen aufkreuzt, unversehns in der Lichtung endet oder, nein, der Weg bringt mit einem seiner wenigen Wagen die Lichtung überhaupt erst hervor. Da stehen wir und haben uns verlaufen. Der Weg und die Lichtung sind nicht mehr zu unterscheiden, wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir wollen, ein im schütteren Gegenlicht passierendes Gespann lassen wir vorbei, ja, wir ducken uns ins Dickicht, um nicht bemerkt zu werden. Ich liege eng umschlungen mit dem jungen Schwarzen neben einem Stapel von verrottenden, mit molligem Moos besetzten Baumstämmen, frage mich, ob man das darf … ob ich das darf, ob ich das soll, wo doch überall von Kindsmissbrauch die Rede ist. Lazar geht die Umgebung erkunden, will nach der richtigen Richtung suchen, nach Pilzen, nach einer rettenden Idee. Ich mag nicht länger warten, lasse den Jungen in der Baumschule Wurzeln schlagen, hebe vorsichtig von der Lichtung ab, quere ein Stück Himmel, erreiche in steilem Aufstieg eine finstere Siedlung. Beim Dorfeingang stoße ich an die Schwelle, ein gewaltiges Mutterhaus tut sich auf, über die Treppe herab kommt eine unscheinbare Frau mittleren Alters. Ich frage sie nach dem Namen der Ortschaft, sie gibt freundlich und leise so etwas wie »Hachabad« oder »Habachab« zur Antwort, und wieder habe ich keine Ahnung, wo ich mich befinde, habe diese Namen nie gehört. Ich springe über dem frisch beschneiten Wald ab, in der Ferne – noch im Flug – erkenne ich Lazar, wie er noch immer suchend umherirrt, doch ich möchte von ihm nicht gefunden werden, ziehe mir den linken Flügel vor die Augen und bin herzlich vergessen. – Nach meiner Lesung aus ›Alias‹ in Hottingen stellt sich ein älterer Herr als »Professor Boxler« vor, berichtet, er sei Gulagforscher, benutze mein Buch beziehungsweise das darin skizzierte Leben Kirill Beregows in seinen Vorlesungen als exemplarisches Dokument für die sowjetische Willkürjustiz und den Strafvollzug im Arbeitslager. Die Bilderfolge im Anhang des Romans (die natürlich ebenso fiktiv ist wie der Plot), begreift er als »Beleg« für die Authentizität der von mir erzählten Geschichte! Mich wundert’s, dass mit diesem Buch offenbar doch etwas gelingt, das ich zwar nie angestrebt, insgeheim aber erhofft hatte, dass es nämlich für naive und für elitäre Leser gleichermaßen (wenn auch jeweils aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise) – funktioniert. Gerne schreibe ich Herrn Boxler – nein, er heißt Bochsler! – eine Widmung ins Buch.

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