21. Februar

Seit dreiunddreißig Jahren zeichnet Pierre Bergounioux – Schriftsteller, Plastiker, Kunstpädagoge, Literaturkritiker, engagierter Familienvater und Sozialdemokrat – seine täglichen Lebensbewegungen in umfangreichen Schreibheften auf. In drei Dünndruckbänden von zwölf- bis vierzehnhundert Seiten Umfang hat er diese Aufzeichnungen bisher gesammelt und als ein Werk von seltener und seltsamer Machart herausgestellt. Tatsächlich ragen diese Bände, in denen ein einziger einförmiger Fließtext zum Stehen gebracht wird, erratisch aus der französischen Betriebsbelletristik heraus … herausragend sind sie weder des Stoffs noch des Stils wegen, sie sind herausragend als ein gewaltiges literarisches Monument, das der Rede nicht wert ist … dessen trivial-intimistische Aussagen nicht der Rede wert sind – ein Werk, dessen Monumentalität einzig darin besteht, dass es besteht; dass da einer sich vorgenommen hat … dass da jemand sich hingesetzt hat, um ausschließlich über Privates zu berichten, über strikt persönliche Dinge, die zumeist völlig unerheblich sind, bisweilen aber auch überlebenswichtig sein können. Zum Beispiel – dass er in der Früh Geschirr spült; dass er schon wieder sein Medikament nicht eingenommen hat; dass heute die Zeitung nicht geliefert wurde; dass er im Supermarkt den Kaffee vergessen hat; dass er ohne Schirm aus dem Haus gegangen ist, obwohl es doch seit Tagen regnet; dass der Sohn morgen im Collège seine Zwischenprüfung abzulegen hat; dass Bruder Gaby mit seinem Auto wieder einmal Probleme hat; dass seine Frau Cathy grade eben einen Kuchen gebacken hat, obwohl sie unbedingt noch einmal ins Labor muss; dass es von Sloterdijk ein Buch über Sphären gibt, das man vielleicht doch lesen sollte; dass die Rückenschmerzen zwar zurückgehen, die asthmatische Atemnot aber zunimmt; dass kein Waschpulver mehr im Haus; dass man sich mal wieder – zufällig, wie meistens – mit dem Kollegen Jean Paul Michel (oder auch mit Pierre Michon) getroffen hat; dass es immer schwerer fällt, geeignetes Altmetall für Eisenplastiken zu finden; dass seit heute die Umfahrungsstraße beim Nachbardorf gesperrt ist; dass die Temperatur heute Nacht auf minus acht Grad gefallen ist; usf. Bergounioux begnügt sich konsequent mit der Festschreibung von Lebens- und Umweltfakten, verzichtet also auf jegliche Reflexion, Lektüren verzeichnet er nur dem Autor oder dem Titel nach, lässt sich zu den Texten aber nicht vernehmen, hält bestenfalls fest, wo er sie erworben oder wer sie ihm empfohlen hat. Über weite Strecken ist Bergounioux von beruflichen Verpflichtungen und körperlichem Ungemach vereinnahmt; er notiert Termine, erstellt Listen, beschreibt Schmerzattacken, Unwohlsein, Schwächezustände, zunehmende Altersbeschwerden. Doch auf all dies kommt es nicht an; es geht auch nicht darum, das eigene – weitgehend ereignislose – Leben bekenntnishaft nach außen zu wenden. Vielmehr kommt es dem Skribenten darauf an, das bescheidene, selbstauferlegte Geschäft des Schreibens unter allen Umständen fortzuführen, egal, ob es irgendetwas Relevantes zu vermelden gibt und wer als Leser dafür in Frage käme. Die Schreibbewegung wird für Bergounioux, je mehr er sich aus der Berufswelt und aus dem Literaturbetrieb zurückzieht, zur wesentlichen Lebensbewegung, und diese Bewegung will er unter Kontrolle behalten, will sie täglich überprüfen und ist bemüht, sie in untadeliger Sprache festzuhalten, korrekt, spröd, erschöpfend. Erschöpfend ist auch die Lektüre dieser detaillierten, letztlich völlig unergiebigen Bestandsaufnahme, die einzig als Arbeits- und Lebensleistung von Interesse ist, als ein gigantisches Werk von sisyphischer Vergeblichkeit. Dem ist beizufügen, dass Bergounioux neben … außer … trotz der täglichen Kärrnerarbeit an seiner Selbsterlebensbeschreibung Dutzende von Büchern publiziert hat, die dazu einen weitläufigen, wenn auch bloß marginalen Kontext bilden.

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