23. Oktober

Krys kommt aus Riga zurück, ist eben in Zürich-Kloten gelandet; ich hole sie ab, wir fahren zu mir. Unterwegs im Taxi berichtet sie kurz von ihrer Arbeit beim Workshop für improvisierte Musik, wo sie nach meinen ›Ortsterminen‹ ein Konzept mit Maultrommel und zugespielten Originaltongeräuschen aus dem Dolderwald vorgestellt hat. Erbost ist sie – mich verblüfft ihre Wut und Verachtung – über die Horden von britischen Polterabendgästen, die in Clubs und Discos regelmäßig für billiges Geld ihre Feten veranstalten, für die sie lettische Mädchen einkaufen, um sich kollektiv mit ihnen zu vergnügen. »Was billig zu haben ist, gilt als Ausverkaufs- und Wegwerfware.« Bei der ortsansässigen Bevölkerung, auch bei der lokalen Presse seien diese Briten verhasst, die jungen Frauen – Verkäuferinnen, Studentinnen, Models – versprächen sich von ihnen eine Zukunft und … aber was verspricht sich Krys denn eigentlich von mir? Inzwischen sind wir zu Hause. – In einem schon etwas vergilbten russischen Zeitungsausschnitt lese ich eine ausführliche Besprechung zum jüngsten Buch meines einstigen Kollegen Robin Kemball. Es ist eine wirre Besprechung ohne Hinweis auf Titel und Verlag der Neuerscheinung. Ich überlege, wie ich diese Informationen – da ich Kemballs Buch, offenbar eine Mischung von Autobiografie und Verslehre, unbedingt beschaffen will – in Erfahrung bringen kann, doch der grobe Ausriss lässt nicht erkennen, in welchem Blatt die Rezension erschienen ist. Also begebe ich mich auf die Suche nach dem Autor, von dem ich keinerlei Daten habe und nicht einmal weiß, ob er noch lebt, komme auf ein Kasernenareal, wo ich mich auf eher unangenehme Weise daheim fühle. Gerade hält ein kleingewachsner feingliedriger General eine Ansprache an die Rekruten, auf der Stirn trägt er, wie aufgeklebt, eine silberne Epaulette, die im Sonnenlicht immer wieder aufblitzt. Nach dem Abtreten schlendert man über den Exerzierplatz, ich grüße die in Gruppen plaudernden, mir kaum bekannten Kameraden, von fünf grüßen zwei zurück. Am Rand des Areals wartet ein alter Kastenwagen, vermutlich ein ehemaliges Transporttaxi. Drin windet sich ein Hochzeitspaar, ja, eben taucht die Braut aus der wogenden Weißwäsche auf – sie trägt einen silbrig schimmernden Gesichtsschleier, unter dem sich ihr riesiges Brillengestell abzeichnet. Mehrere Leute – Sicherheitskräfte, Passanten, Paparazzi – zwängen sich in das Fahrzeug. Ich komme neben die Braut zu sitzen, wir sind nun zu viert auf der hinteren Sitzbank. Die Fahrt führt durch eng zusammengerückte Bergdörfer, der Chauffeur – erst jetzt erkenne ich Kemball am Steuer des Wagens – kurvt forsch durch die schmalen Gassen, ich zucke jedes Mal zusammen, wenn unmittelbar neben mir eine Hausecke am Seitenfenster vorüberflitzt. Weiter geht’s auf rasantem Schleuderkurs durch viele Haarnadelkurven bis hinunter ins Tal, wo wir an einem großen fensterlosen Gebäudekomplex vorbei den Autobahnanschluss erreichen. Wir fahren nun auf nasser Straße, der Wagen wird immer langsamer, ich beuge mich aus dem Fenster und sehe, wie das Wasser in schrägen Fontänen unter den Rädern hervorschießt. Das umliegende Überschwemmungsgebiet ist – eine Gefahrentafel macht’s klar – »Wegen Überschwemmungsgefahr gesperrt.« – Wikileaks erregt mit neuen Enthüllungen (250 000 Seiten geheime US-Dokumente) weltweites Aufsehen, zumeist Protest und den Ruf nach mehr Mediensicherheit – was naturgemäss ebenso wenig erreichbar ist wie der Stopp der Erderwärmung oder das Wachstum der Erdbevölkerung. Der generelle Trend zur Katastrophe scheint für die Mehrheit der Gaffer eher ein Faszinosum denn ein Horror zu sein. Man meint wohl, die Klima-, die Bevölkerungskatastrophe sei ohnehin nicht mehr aufzuhalten, also sollte vernünftigerweise damit gerechnet werden, man sollte die Katastrophen geschehen lassen und nur einfach die Selbstregulierungsreaktion der Natur abwarten. Die Natur wird – dies die zynische, aber gar nicht so unwahrscheinliche Hoffnung – die Überwärmung, die Übervölkerung, die Ausbeutung der Erde, die Verschmutzung der Ozeane und des erdnahen Weltraums gewinnbringend konterkarieren. Also warten wir’s ab. Falls wir es erleben. Denn im Unterschied zur Natur hat der Mensch die Fähigkeit … die Möglichkeit, sich selbst aus der Welt zu schaffen. Bevor es zu spät ist! – Bambipreisverleihung im ZDF – eine Festversammlung von Prominenten aus der Medien- und Unterhaltungsbranche, »Promis mit Wow-Faktor«, kostümiert und frisiert und geschminkt wie auf der klassischen Theaterbühne einst in großen Königsdramen, overdressed zumeist und geschmacklos fast durch die Reihe – als wäre Geschmacklosigkeit der angesagte Stil. Alles Kitsch, alles Klischee – von der Moderation über die Roben bis zu den Dankesreden. Alles ist falsch und hat in solcher Falschheit seine Richtigkeit. Man wundert sich nur … ich wundere mich, dass Schauspielerinnen, Schauspieler, die im Film oder auf der Bühne fast durchweg in Alltagskleidung auftreten, die sich so präsentieren und die auch so reden, wie es im Supermarkt, auf der Polizeiwache, im Schlafzimmer, in der Disco üblich ist, das Theatralische gerade dann bis zur Peinlichkeit übertreiben, wenn sie nicht im Theater, nicht auf dem Set sind. Eine bemerkenswerte, vielleicht zeittypische Umkehrung: Auf dem Theater wird Alltäglichkeit und Aktualität vorgeführt, Hamlet soll Jeans tragen, Faust einen Businessanzug, doch wenn sie dann außerhalb des Theaters für ihr alltagsnahes und aktualitätsbezogenes Spiel ausgezeichnet werden, wechseln sie die Klamotten, kostümieren und schminken sich bis zur Unkenntlichkeit, verraten somit das, wofür sie nun heute Abend wortreich gefeiert werden – das Theater als Spiel, das Theater als Verwirklichung möglicher Welten.

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