25. Juni

Abbitte bei Friedrich Dürrenmatt! Ich habe Dürrenmatt in den frühen oder mittleren 1970er Jahren im Bergeller Atelier von Varlin kennengelernt. Scheinbar überlebensgroß saß er mir auf einem nicht gerade stabilen Klappsessel gegenüber, der unter seinem Gewicht merklich schwankte und dabei leis quietschte. Zuvorderst prangte und klaffte sein gewaltiger Bauch, umspannt von einem teilweise aufgeplatzten hellen Hemd und beidseitig gehalten von den kleinen molligen Händen. Die Knie und die auffallend schlanken Beine waren unter dem Bauch irgendwie verschränkt, den blassen Rundkopf maskierte zur Hälfte eine schwere schwarze Brille, die den Mann insgesamt zu entrücken schien. Vordergründig vermittelte Dürrenmatt den Eindruck unerschütterlicher Behäbigkeit und Mächtigkeit und Überlegenheit, den er durch seine bedächtige Art zu reden … seine Art, gleichsam aus dem Hinterhalt zu reden, noch verstärkte. Ich mochte diese Redeweise nicht, dieses autoritäre Radebrechen, das nichts als Behauptung war und nie eine Frage hervorbrachte. Der Maler Varlin Guggenheim, seit langem mit Dürrenmatt befreundet, verstand sich problemlos mit ihm, gab ihm durch sein fortwährendes Kichern zu verstehen, dass er jedes Wort für einen gelungenen Witz hielt. Ich fand damals so gut wie jedes Wort von Dürrenmatt ziemlich banal, umso mehr, als er selbst sich beim Reden aufmerksam zuzuhören und sich darin zu gefallen schien. Schien! Denn was sich mir dort im Atelier präsentierte, war nicht Dürrenmatt in Person, war bloß ein Bild … ein großartiges Ganzkörperbild Dürrenmatts, das Varlin kurz zuvor mit leichthändigen Pinselhieben auf die unpräparierte Leinwand gebracht hatte. In Wirklichkeit kannte ich den erfolgreichen Literaten schon viel länger, kannte ihn seit den ausgehenden 1960er Jahren, als ich beim Basler Theater ein Volontariat absolvierte und er als Inszenator seiner eigenen Stücke am Haus arbeitete. Einen prägenden Eindruck – gespielte Prädominanz, unterstrichen durch entsprechende Körperfülle – hatte er schon damals bei mir hinterlassen, der Mann kam mir auf den Proben wie in privatem Kreis (mit Düggelin, Beil, Holliger usf.) gleichermaßen peinlich vor. Nicht die Bretter der Theaterbühne bedeuteten ihm die Welt, vielmehr sah er die wirkliche Welt als eine monumentale Bühne, eine einzige welttheatralische Inszenierung, zu deren Personal auch er selbst gehörte, als Strippenzieher, als Beleuchter, als Souffleur, als Narr, als Intrigant, als Provokateur. Die Rollenvielfalt war sein Faszinosum in dieser verkehrten Welttheaterwelt, die Vielfalt der Masken scheint er aber auch benötigt zu haben, um seine durch Zynismen verfremdete Empfindlichkeit und Empfindsamkeit zu schützten. Von daher ist vielleicht auch seine Irritation gegenüber Max Frisch zu erklären, für dessen »ewige Identitätssuche « er nur Spott übrig hatte. Was mir damals wohl entging … dass ich damals Dürrenmatts betont clowneskes, genauer noch: sein ubueskes Verhalten nicht als bewusstes alltagsweltliches Rollenspiel durchschaute, wurde mir erst viel später … wird mir erst jetzt richtig klar, da ich, fünfundzwanzig Jahre nach Dürrenmatts Tod, endlich seine späten ›Stoffe‹ (»Turmbau« usf.) unter der Hand habe. In diesen bemerkenswerten, zwischen Selbstbiografie und Werkbiografie vermittelnden Texten lässt Dürrenmatt die aufgesetzte quasitheatralische Rhetorik, die ich aus den Gesprächen mit ihm wie auch aus seinen Stücken in Erinnerung habe, völlig fahren, verzichtet gänzlich auf sein irritierendes Rollenspiel und bemüht sich erfolgreich um die diskursive Engführung und Differenzierung von Leben und Werk. »Es gibt Gelände«, so heißt es im Schlussteil der ›Stoffe‹, »da hat Kunst nichts zu suchen.« Zu diesem Gelände gehört auch die schlichte Alltagswirklichkeit. Dürrenmatts ›Turmbau‹ eröffnet mir eine neue, stellenweise eklatante Perspektive auf seine reale Lebenswelt ebenso wie auf die möglichen Welten der Kunst. – Bin zu Besuch bei den Eltern an der Grendelgasse. Die Straße ist völlig zugebaut mit neuen oder neu renovierten Häusern, auch unser eigenes Haus ist großzügig umgebaut worden. »Erinnerst du dich«, frage ich meine Mutter, »wie es gewesen ist, als du selbst noch dort oben gewohnt hast, erinnerst du dich an dein Schlafzimmer, an den großen Balkon mit dem Kunstrasen – alles weg jetzt! Am Gartenzaun bewegt sich, mit der kleinen welken Hand sich vorantastend, ein kleiner alter Mann; der Mann ist eine Frau … der Mann ist die Nachbarsfrau, trägt Hut, führt Hund, absolviert den üblichen Kontrollgang. Auf der Magerwiese, gekrümmt auf der Seite liegend, summt mein Vater wie ein Bienenvolk, Mutter hat Wäsche aufgehängt, und am Bildrand spielen die Schwestern. Ich habe eben ein Buch von Ajgi übersetzt, bin gestern kurz noch mit seiner Frau in Prag zusammengetroffen. Mutter, noch im besten Alter, sorgt sich, ich könnte sie »ohne Frau« überleben, Vater spornt mich zu weiteren Übersetzungen an, ich finde aber, ich sollte viel mehr Eigenes schreiben und endlich auf mein Projekt zur Fliegerei zurückkommen. Erstaunt bin ich darüber, dass so viele italienische Kardinäle in kleinen jüdischen Nischen Unterschlupf gesucht haben sollen. Damals zu Friedenszeiten. – Der Wald ist heute wie ein heiliger Hain, ich bewege mich gemächlich auf den labyrinthisch verschlungenen Pfaden, außer einem hundertfältigen raschelnden Grün scheint es keine Farben mehr zu geben. Es geht gegen Mittag. Alles scheint plötzlich stillzustehen. Kein Passant weit und breit, keine Diana, kein Hufgetrappel, nur manchmal eine leichte Brise, die durch die Wipfel fährt und das strotzende Laub kurzfristig zum Rascheln bringt. Vögel … Vogelstimmen sind nur noch vereinzelt, meist in weiterer Ferne, zu hören; sie markieren die Stille mit fahrigem Gesang. Ich setze mich hin, höre zu, überlasse mich dem Schauen, bin umgeben, fühle mich aufgehoben, fühle mich oben. Auf dem Rückweg, kurz vor Premier, stoße ich auf einen riesigen Haufen Pferdemist – Dutzende von spröden, wie von Hand geformten Kugeln sind zwischen den ausgetrockneten Radspuren aufgetürmt und … und die Kugeln … und auf den Kugeln hocken flügelschlagend Hunderte von Schmetterlingen … Hunderte von kleinen schwarzen Schmetterlingen mit spitz auslaufenden, weiß gestreiften Schwingen haften an den aufgehäuften Mistkugeln, klappen die straffen Schwingen mit unregelmäßigen Schlägen auf und zu, und nun, da ich länger und genauer hinsehe, verwandeln sich die Pferdekugeln in blinzelnde Augäpfel … in einen Haufen blinzelnder und zwinkernder Kulleraugen, die alle gleichzeitig auf mich gerichtet sind. Soviel Schönheit. Soviel Dreck. Ich fühle mich ertappt … ertappt beim Gesehenwerden.– In einer Bücherkiste der Buchhandlung Payot in Yverdon bin ich kürzlich bei eher desinteressiertem Stöbern auf die amerikanische Erstausgabe von John Ashberys Großgedicht ›Flow Chart‹ gestoßen. Habe mir den 1991 bei Knopf in New York erschienenen Band zum Einheitspreis von drei Franken gekauft, bin nun am Lesen und auch schon am Resignieren. Das weithin gerühmte und vielfach ausgezeichnete Gedichtbuch, das eigentlich ein Buchgedicht ist, erweist sich mit seinen weit über sechstausend Versen als eine öde, durchweg unergiebige Lektüre – die angestrengte Kolloquialität der dichterischen Rhetorik und die Prätention des Autors, sein Leben, seine Epoche, sein Weltbild in einem versifizierten opus magnum zu vergegenwärtigen, passen an kaum einer Stelle wirklich zusammen, laufen leer in unverbindlichem Plauderton und ineffizienten quasiphilosophischen Zuspitzungen. Ashbery, den man in diesem Werk zweifellos mit dem lyrischen Ich gleichsetzen darf, dichtet mit grafomanischem Furor auf dem Niveau eines Bloggers, der seiner Community ungefragt alles mitteilt, was ihm an Gedanken, Einfällen, Erinnerungen, Zweifeln, Träumen durch den Kopf geht, mit dem Unterschied nur, dass hier das unentwegte Brabbeln zu einer großen … zu einer bedeutenden Dichtung synthetisiert werden soll. Seit Jahren gehört John Ashbery zu den Anwärtern auf den Literaturnobelpreis, und als solcher kann er sich auf ein Kartell von Kritikern und Exegeten verlassen, die jedes seiner Bücher für einen Glücksfall halten. Mir selbst kommt nun aber ›Flow Chart‹ – der Text ist längst in den Kanon zeitgenössischer Weltpoesie eingegangen – eher wie die missglückte Summa eines Autors vor, der an seine eigenen früheren Leistungen (ich denke an ›Selfportrait in a Convex Mirror‹) nicht mehr anzuknüpfen vermag, der aber auch mit einem ambitionierten Neuansatz wie ›Flow Chart‹ künstlerisch im Hintertreffen bleibt. Was ich dazu an dieser Stelle notiere, ist zugegebenermaßen nicht viel mehr als eine persönliche Meinung, hergeleitet aus der aktuellen Lektüre des Werks. Es fiele mir allerdings nicht schwer, diese Meinung argumentativ zu festigen und durch beliebig viele Textbeispiele zu stützen. Doch das ist heute nicht mein Ding, und mein Ding würde die Sache auch nicht besser machen. Besser machen? Vielleicht lohnt sich fürs Erste der folgende Versuch: Ich gehe Ashberys Text durch, unterstreiche jene Verse, die mich auf Anhieb überzeugen, exzerpiere und übersetze sie, um daraus in der Zielsprache ein formal völlig andersartiges, wenn auch Wort für Wort von Ashbery übernommenes Gedicht herzustellen. Meine Funktion bleibt auf die des Übersetzers und Arrangeurs beschränkt, erbringt aber einen hybriden Text, der gleichermaßen eigenartig und fremdartig ist – eigenartig, weil ja sämtliche Bauteile vom Autor vorgegeben sind, fremdartig, weil diese Bauteile in einer Weise kombiniert werden, die vom Autor nicht beabsichtigt war. Meine Übersetzung, die zugleich als Kürzung und Neufügung des Originaltexts bewerkstelligt wird, ist demnach mehr als eine Übersetzung und ist weniger als ein eigenes … als ein eigenständiges Gedicht. Wer wäre denn nun der eigentliche Autor des mit diesem Verfahren generierten Texts? Kann man … sollte man vielleicht von doppelter Autorschaft reden? Oder darf in diesem Fall die manipulierte »Übersetzung« als ein Sonderfall dichterischer Originalität gelten? Ich will diese Fragen an dieser Stelle nicht beantworten, will sie aber zumindest gestellt haben, um womöglich bei anderer Gelegenheit darauf zurückzukommen. Hier folgt nun das Gedicht, das weder von Ashbery noch von mir ist, das mithin keinen individuell bestimmbaren Autor hat, sondern entstanden ist aus der Kombination eines technischen Verfahrens mit vorgegebenem beziehungsweise vorgefundenem Sprachmaterial: – Man rügt den Horizont dafür,
aaaaadass er nichts Besseres zu bieten hat.
aaaaaNur ist im selben Augenblick
aaaaader ganze Tanz oder was auch immer
aaaaavorbei. Wobei mir einfällt:
aaaaaIch hätte gerne deine Aufmerksamkeit,
aaaaanicht bloß deine Augen plus
aaaaaGesicht.

aaaaaIdiotisch, findest du nicht?
aaaaaKomm schon,
aaaaasprich mit mir hinter dem holophanen
aaaaaSchirm des Wasserfalls, wo’s spukt und Utopien
aaaaain einem Sekundenbruchteil scheitern
aaaaakönnen. Es ist Zeit, aus eigner Kraft loszugehn.
aaaaaNicht um das Aufdämmern neuer Blüten
aaaaazu erleben, denn öd ist nicht öd
aaaaagenug, solang die Nacht und ihre Lichter noch
aaaaanah sind. Ich denke, ich geh jetzt,
aaaaaehrlich, ich tu’s – jetzt oder Schluss. Bis
aaaaazum verpatzten Akkord. – Der Mann … das »Mann!« als Interjektion – in der Alltagsrede, in TV-Filmen, Theaterstücken usf. kreischt und raunzt und zischt man sich dieses »Mann!« ins Gesicht: »Mann, hör auf damit …« – »Hau ab, Mann!« – »Mann, was bist du für eine doofe Zicke!« Früher … vor gar nicht so langer Zeit sagte man für »Mann« gewöhnlich einfach »Mensch«: »Du bist ja bekloppt, Mensch!« Usf. Dass nun der Mensch … dass nun sogar Frauen im automatisierten Sprachgebrauch den Menschen auf den Mann reduzieren, ist einigermaßen überraschend nach der feministischen Bereinigung des Wörterbuchs in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten. Man stelle sich vor, dass in jedem zweiten, dritten Satz statt »Mann!« ein »Frau!« herbeizitiert würde! Dass Männer wie Frauen in stillschweigender Übereinkunft bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein »Frau!« verlauten ließen … was sich doch eigentlich, auf heutigem Bewusstseinsstand, als gleichrangige Alternative anbieten würde – würde es wohl, und doch ist es nicht vorstellbar, nicht auszudenken. Sind wir noch nicht Fraus genug!? – Ky… Kry… Krys… Wandern Falten erst mal ins Alter – in aller
aaaaaRegel geschieht’s von den Rändern her und
aaaaaläuft allmählich auf die noch lichte
aaaaaMitte des Spiegels zu – sind sie mit Lachen
aaaaanicht mehr aufzuhalten. Es sei denn
aaaaaman erkennt in ihrer Reihenfolge das Naturgesetz
aaaaaund realisiert mit aller Augen
aaaaadass man unter Menschen ist. Dass man zum Beispiel
aaaaadies sieht:
(Die Ky… die Kry… die Krys, wie sie aus dem Bus steigt und auf das Haus mit der gehissten Fahne am Ende der Straße zugeht, derweil sie in ihrer Bauchtasche nach dem Schlüssel wühlt. Krystyna, die seit gestern Kurzhaar trägt, weil ihr jemand eine neue Rolle auf den Leib geschrieben hat. Sie, die unter diesem grauen Himmel für viele da ist, muss also nach vielen Schlüsseln suchen, und sie sucht und sucht, bis sie, angekommen vor dem längst geräumten Haus, offenbar merkt, dass sie die Schlüssel gar nicht bei sich hat. Wider besseres Wissen ruft sie mit Josefines Stimmchen nach dem Vater ihrer Tochter. Don! Elm! Walt! Szcz! Kerle! Wo seid ihr? Wo bleibt unsre Daphne? Und aber in diesem Moment wird ihr klar, dass auch sie, die Kry… die Chrys… die Styna, für keinen mehr da ist.) Fragt sich bloß ob die Falten wandern weil man sie erwartet oder
ob man wandert weil umgekehrt die Falten am Ende der blühenden
Landschaft schon immer vor Ort sind. Und dort
verraten sie womöglich die wahre Klus zum Jammertal an jene
die wissen und trotzdem nicht zweifeln. Eifern sie
rasch wechselnden Tendenzen nach bis sie zu Methoden werden und schließlich an sich selbst versagen. Wie soll einer anderseits noch Mut beweisen wenn ihm dazu die Verzweiflung fehlt. Sehe man doch lieber hinüber zur Mehrheit. Dorthin also wo auf keinen Menschen keiner von den ungezählten Wölfen lauert denen es nie nicht an Wut noch an Biss fehlt. Nur eben (weil sie so viele sind) fast immer an Hunger.

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