27. Mai

Nachts allein mit der Migräne. Was für eine Zweisamkeit. Codein. Opiumtinktur. Obwohl ich kaum zum Schlafen komme, unterlaufen mir scheinbar endlose Träume. Je schärfer der Schmerz, desto weniger dauert er an. Soll Epikur oder einer der Epikureer gesagt haben. Entspricht aber nicht meiner Erfahrung. Der Migräne-, der Bauchschmerz bleibt in mir stecken wie ein Messer, dauert an, ist aber in der Dauer so unerträglich, dass wohl der Körper selbst ihn irgendwie aufhält, ihn abweist. Weiß nicht. Manchmal wünsche ich mir … manchmal hoffe ich dann, dass mir meine exzessive Schmerzerfahrung mit der Todesangst verrechnet wird. – Noch ein Versuch mit den ›Carnets‹ von Pierre Bergounioux. An die dreitausend Seiten hat er nebst seiner umfangreichen Arbeit als Lehrer, Grammatiker, Übersetzer, Essayist und Plastiker in dreißig Jahren Tag für Tag niedergeschrieben. In makelloser, »klassisch« zu nennender Prosa wird hier unentwegt über Beiläufiges, Selbstverständliches, Unerhebliches, Allzuprivates berichtet – wann und mit wem gefrühstückt, wo das Auto vollgetankt, wie lange Schularbeiten korrigiert, was im Antiquariat gefunden, warum den Arzt aufgesucht, leider den Regenschirm vergessen, die Uhr verloren, worüber mit dem Sohn geplaudert, bei wem zu Besuch gewesen, was zu Abend gegessen usf. Die Beschreibungen geben fast durchweg die Außenansicht des Geschehens wieder und werden nicht kommentiert, ein Gleiches ließe sich anhand von Videoaufnahmen notieren, der Schreibende müsste nicht wirklich dabeigewesen sein. Was bei dieser Monotonie gleichwohl auffällt und beeindruckt, ist die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem stilistischen und rhetorischen Aufwand einerseits, der Sujet- und Spannungslosigkeit anderseits. Aber die Spannung entsteht eben daraus, dass hier soviel Formwille für so wenig Erkenntnisgewinn aufgebracht und umgesetzt wird. Die Bedeutungsleere des Geschriebenen lässt umso mehr die Anstrengung und das Ethos des Schreibens hervortreten. – Noch nie hab ich ein Buch von Jean Paulhan zu Ende lesen können. All seine Erzählungen und kleinen Romane ziehen sich, so erfahre ich es jeweils, in verquälter Prosa dahin, wirken überanstrengt und bleiben doch nach Aussage und Darstellung flach, sprachlich unfrei, oft ungeschlacht. Mir fällt dies im Vergleich mit Paulhans Briefen, von denen es offenbar Zehntausende gibt, besonders eklatant auf. Habe neulich seine Korrespondenzen mit Marcel Arland, Francis Ponge, Giuseppe Ungaretti gelesen, erinnere mich auch an jene mit Gide, Suarez, Belaval, Leiris u. a. m. Jetzt eben erscheinen bei Gallimard auf mehr als tausend Druckseiten die Briefe an Marcel Jouhandeau, eine Korrespondenz, die eigentlich »Roman« genug ist, wenn man bedenkt, dass Jouhandeau, im Gegensatz zu Paulhan, ein Rechtsextremist, Antisemit und Nazisympathisant gewesen ist; und mehr als dies – Paulhan ist von Jouhandeaus Frau Elise bei der Gestapo denunziert worden … Dennoch wurde die Männerfreundschaft und mit ihr auch der Briefwechsel fortgeführt, als wäre nichts Derartiges vorgefallen und als hätten die beiden Beteiligten die Okkupation in wechselseitigem Einverständnis völlig schadlos überdauert. Was wird da über Hunderte von Seiten hin verschwiegen? Wo ist das Geheimnis, worin besteht es? Man kennt Paulhans aktive Rolle in der Résistance, seine Sympathien für die Linke, für avancierte und »schwarze« Literatur, und man kann … ich kann mir schwerlich vorstellen, dass und weshalb er die Zumutungen Jouhandeaus wortlos hat kassieren können? Oder war da noch etwas, über das womöglich nicht geschrieben, nur gesprochen wurde? – Der Kammerdiener des Papsts ist im Vatikan verhaftet worden, ihm drohen bis zu dreißig Jahren Freiheitsstrafe wegen illegaler Weitergabe interner Dokumente an die Presse. Dass der Beschuldigte daraus materiellen Gewinn generieren wollte, liegt nahe, scheint aber nicht der Beweggrund gewesen zu sein. Vielmehr ging es dem Mann darum, interne kriminelle Machenschaften in der Umgebung Benedikts XVI. aufzudecken oder aufdecken zu lassen. Die Dokumente sind inzwischen publiziert, sie belegen Betrügereien der Vatikanbank, Machtgerangel in der Kurie und andere Missstände. Doch die Wahrheit an den Tag zu bringen, ist in dieser Kirche, die für den Papst weiterhin Unfehlbarkeit beansprucht und ihren eigenen Wahrheitsanspruch dogmatisch hochhält, ein Verbrechen, das schwer geahndet werden muss. Wer der offiziellen Wahrheit als loyaler Diener die Wahrheit der Fakten entgegenhält, kann mit dieser aufrichtigen Geste zum Lügner mutieren und soll auch noch büßen dafür. – TV-Talk zum Gedenken an Gunter Sachs, der sich gemäß einer hinterlegten Notiz wegen einer unheilbaren Erkrankung das Leben genommen hat. Ich selbst kann mir einen würdigen Freitod nicht vorstellen, wenn er aus Schwäche, aus Verzweiflung geschieht und also der Vermeidung dienen soll. Für mich hätte diese Todesart nur dann eine Berechtigung und einen Sinn, wenn das Sterben im Zustand der Ausgeglichenheit, der Stärke und Souveränität vollzogen würde. Heute beim Waldgang kam mir dazu der Gedanke, dass hier – gleich jetzt – ein morscher Baum umstürzen, ein schwerer Ast herabfallen und mich erschlagen oder zum Krüppel machen könnte; dass ich ohne mein Zutun einem Unfall erliegen könnte; dass eine plötzliche akute Krankheit mich erledigen könnte usf. Das alles wäre mehr oder minder naheliegend und könnte auch jederzeit geschehen. Inwiefern (und für wen eigentlich?) kommt es darauf an, ob ich vom Fehlschuss eines Jägers niedergestreckt werde oder von dem Schuss, den ich mir selbst verpasse? Die schmachvollste Niederlage besteht allerdings darin, aus einem Selbstmordversuch gerettet zu werden. – Ich hebe beim Austritt aus dem Wald, nach langer Nachdenklichkeit, den Kopf und traue meinen Augen nicht – statt der strotzenden hochstehenden Wiese breitet sich dem Waldsaum entlang und bis zum Schießstand am Ende der weitläufigen Lichtung ein regloses, völlig von Algen und Schlamm und allerlei Blattwerk zugedecktes Gewässer aus; es kommt mir vor wie eine Ansicht des Gartens von Giverny bei Monet, aber gleichzeitig realisiere ich, dass die gesamte Fläche frisch abgemäht worden ist – die langen Halme liegen, von der Maschine säuberlich gefällt, kreuz und quer durcheinander wie ein Mikadospiel; das Grün, das ich von gestern in Erinnerung habe, hat sich dadurch, dass das hohe Weidegras nicht mehr steht und also auch keine Schatten mehr wirft, völlig verändert, hat einen fahlen, mit Grau untermischten Ton von Oliv und Petrol angenommen. Bloß einen Sekundenbruchteil dauerte die Täuschung, aber für diesen Sekundenbruchteil war sie … entsprach sie der Wirklichkeit. – Recht, Gerechtigkeit – die Ungerechtigkeit der Rechtsprechung, die auf Täterschutz soviel Wert legt, wirft die Frage auf, was denn gravierender sei, die Verurteilung eines Unschuldigen oder der Freispruch (bei offenkundigen Indizien, aber mangels Beweisen) eines Schuldigen; oder gibt es vielleicht so etwas wie ausgleichende eigengesetzliche Gerechtigkeit?

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