3. September

… als bewegten sich die Darsteller in ihrem alltäglichen Lebensraum. Wie er sich kämmt, aufs Fahrrad steigt, die Bürotür aufstößt, »Morgen!« sagt; wie sie sich die Milch einschenkt, die Zigarette anzündet, die Beine übereinander schlägt, sich durchs Haar fährt, das Kind an sich drückt, sich im Auto … im Rückspiegel die Lippen nachzieht usf. Und ich denke mir, dass das meiste von all dem Beiläufigen, was ich da vorgespielt und zu sehen bekomme, nicht inszeniert, nicht vom Regisseur vorgegeben, sondern unmittelbar und unreflektiert aus der eigenen … aus der automatisierten Alltagswelt der Akteure übernommen wird; dass also vieles gar nicht bewusst dargestellt wird, sondern einfach in die Darstellung der jeweiligen Figur einfließt. Dies wiederum lässt mich fragen (oder wenigstens überlegen), wie denn ein Schauspieler, eine Schauspielerin von engen Vertrauten und nächsten Bekannten in der Rolle gesehen wird, in die er oder sie soviel Privates und Intimes investiert hat – kleinste Gesten, irgendwelche Marotten, der vertraute Augenaufschlag, die Gewohnheit, den kleinen Finger als Zeigefinger zu verwenden, die vertraute Art, das Haar aus dem Gesicht zu schütteln oder sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn zu wischen usf. Die eigene Frau, den eigenen Mann auf dem Monitor beim Liebemachen mit dem Rollenpartner zu beobachten und festzustellen – sie oder er streichelt, küsst, röchelt, windet sich vor einem Millionenpublikum genau so wie in der Intimität zu Hause. Damit ist zumindest zeitweise die Demarkationslinie zwischen Realität und Fiktion aufgehoben. Wie reagiert man darauf? Wie hält man das aus? Wie rechtfertigt man es? Und: Wie redet man mit dem Partner, der Partnerin darüber? Es muss ja keineswegs eine Bettszene sein. Es genügt ja, wenn er oder sie auch bloß ein paar beiläufige Eigenheiten aus der persönlichen Erfahrungswelt in die Inszenierung, in die Rollengestaltung übernimmt und somit öffentlich und für jedermann einsehbar macht, was sonst strikt privat bleibt … genügt doch, um sich in irgendeiner vagen Weise verraten zu fühlen? Ich selbst bin ja aber, als Beobachter, auf einer Außenposition. Mir kann es egal sein, ob und inwieweit in all diesen Fällen das Alltagsverhalten mit dem Rollenspiel verschränkt ist. Ich weiß es nicht, ich stelle es mir lediglich vor, und meine Vorstellung präzisiert sich von Mal zu Mal: Da ich die Darsteller – über Jahre hin – in immer wieder andern Rollen beobachten und sie gewissermaßen mit sich selbst vergleichen kann, entwickle ich … gewinne ich ein fast schon familiäres Verhältnis zu ihnen. Ich sehe ihnen beim Altern zu, sehe, wie sie grauer und langsamer werden, erwische sie bei Durchhängern und Abwesenheiten, stelle fest, wie sie an Präsenz verlieren, wie das darstellerische Engagement und Interesse bei den meisten von ihnen schwindet, derweil sie sich mit immer kleineren Rollen zufrieden geben müssen. Zuletzt wird ihnen auch nur das reale abgeblühte Leben bleiben, dazu ein paar DVDs mit den »Staffeln«, in denen sie ihre größeren und großen Auftritte hatten. Dass wir alle, jeder in seiner überschaubaren Welt, so fortleben und dabei unentwegt abbauen, erklärt wohl die Faszination, mit der wir noch die trivialsten Staffeln und Serien oft über lange Zeit hin verfolgen: Ich muss mich weder mit gewissen Rollen noch mit bestimmten Schauspielern identifizieren, um mir darüber klar zu werden, dass ich auch … dass auch ich im realen Leben bloss ein Darsteller bin. – Im Antiquariat der Buchhandlung Klio am Central hat Krys mein Buch über ›Dostojewskij und das Judentum‹ entdeckt, fast neuwertig, noch in Plastik abgepackt – für ganze drei Franken. Nun legt sie’s mir auf den Tisch, damit ich … »damit du es signieren und mir schenken kannst.« Tatsächlich besitze ich seit langem kein Belegstück mehr von dieser schön ausgestatteten Publikation, die ich 1981 zum hundertsten Todestag Dostojewskijs beim Insel Verlag vorgelegt hatte. Das Buch fand damals verhältnismäßig breite Beachtung, Claudio Magris schrieb dazu eine große positive Besprechung. Auf jüdischer Seite wurde verschiedentlich moniert, ich hätte Dostojewskij zu wenig klar als Antisemiten herausgestellt; ein namhafter Kritiker warf mir allen Ernstes sogar vor, Dostojewskijs »zoologischen Judenhass« verharmlost zu haben. Wenige Jahre zuvor hatte David Goldstein in Paris eine Monografie herausgebracht, mit der er eben diesen Hass als eine Konstante von Dostojewskijs Weltanschauung zu behaupten versuchte. Dagegen argumentiere ich in meiner Untersuchung – soll ich das nun Krys tatsächlich erklären? – mit der These, Dostojewskijs unzweifelhaft antisemitischer Diskurs sei nicht monologisch, nicht bekenntnishaft, auch nicht als Grundsatzerklärung angelegt, sondern als eine von zahlreichen, sich wechselseitig widersprechenden Stimmen, zu denen nicht zuletzt die eines expliziten Philosemitismus gehört. Wenn Dostojewskij die Juden einerseits aus der Gemeinschaft der »arischen Rasse« ausgeschlossen sah, so erkannte er, anderseits, in ihrer Gottesfreude und Heilserwartung ein messianisches Engagement, das er bei den christlichen Völkern längst verloren gab. Heute würde ich, falls mein Buch neu erscheinen sollte, auf Dostojewskijs ›Aufzeichnungen aus dem Untergrund‹ zurückgreifen, um seine paradoxale Haltung gegenüber dem Judentum nochmals zu erhellen und weiter zu differenzieren. Weder lässt er sich grundsätzlich als Antisemit ausweisen, noch kann er als Philosemit gelten, vielmehr hat er – durchaus gleichrangig – sowohl seine antisemitische wie auch seine philosemitische Stimme erhoben und damit deutlich gemacht, dass der Widerspruch unabwendbaren Anteil an der Wahrhaftigkeit hat. – Kalte, mondklare Nacht, Sterne aller Größen scheinen … sie scheinen ganz leicht greifbar zu sein. Das harte milchige Licht gräbt tiefe Schatten am Fuß der Bäume und Schuppen. Die leicht bewegte Luft ist klar, schwerelos strömt sie, als wäre sie flüssig. In der Ferne ist das Doppelhorn eines Polizei- oder Notfallwagens zu hören, anschwellend, abschwellend, sich verlierend in der mitternächtlichen Stille. – Seit längerem hat die Migräne nichts mehr zu fressen. – Krys meldet sich aus Oslo von ihrem Workshop zurück; sie habe, sagt sie, manches zu berichten – klingt wie eine Drohung.

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