31. Juli

In der Straßenbahn finde ich auf einem leeren Sitz eine alte zweisprachige, schon reichlich zerlesene Schulausgabe (erschienen bei Teubner in Leipzig) von Pindars Oden. Ich blättere die unschöne Broschur auf, lese da und dort einen Vers, stelle betrübt fest, wie brüchig mein Schulgriechisch geworden ist – ohne die parallel abgedruckte deutsche Prosafassung hätte ich zu dieser Dichtung keinen Zugang mehr. Da mein Wortschatz wie mein grammatisches Wissen weitgehend geschwunden sind, fallen mir umso mehr die bei Pindar dicht gesetzten Orts- und Personen- und Völkernamen auf, die manche seiner Oden gleichsam vernetzen, so als hätte er sie als Koordinaten vorgegeben, um danach das Gedicht als deren Kontext zu entfalten. Wenn ich beispielsweise aus der Pythischen Ode für Arkesilaos von Kyrene nur einfach die Namen herausgreife und sie aneinanderreihe, ergibt sich daraus so etwas wie ein Lautgedicht, das die Klangstruktur der Ode insgesamt wesentlich mitbestimmt: Letokinder, Pytho, Zeus, Apollon, Batto, Thera, Medea, Aietes, Kolcher, Iason, Epaphos, Ammon, Euphemos, Kronion, Argo, Eurypylos, Ennosiden, Tainaron, Poseidon, Europa, Tityos, Kephisos, Danaer, Lakedaimon, Mykene, Phoibos, Kronos, Nil, Minyer. Da mehrere dieser Namen mehrfach wiederkehren, ergibt sich aus ihrer gleichsam musikalischen Verwendung eine Art Klangteppich, aus dem die Ode ihre Intonation gewinnt. Gerade soviel vermag ich mit meinem Restgriechisch dem Originaltext zu entnehmen; dessen Bedeutung allerdings kann ich nur am Leitfaden der Übersetzung erschließen. – Am späteren Abend TV mit Scobel und Gästen im Gespräch über neurologische Programmierung von Stimmungen und deren evolutionäre Bedeutung. Warum bin ich schon wieder verliebt? Warum stehe ich so häufig mit schlechter Laune auf? Warum ist Glück kein Dauerzustand? Warum haben auch erfahrene Bühnenkünstler oder Musiker Lampenfieber? Warum gehören Eifersucht und Neid zu den stärksten Gefühlen überhaupt? Warum? Die Fragen scheinen beantwortet zu sein, sobald unterm Gesichtspunkt der menschlichen Evolution entsprechender Nutzen, ein Überlebensvorteil eruiert werden kann. Da Eifersucht und Neid nicht zu meinen Stärken gehören, muss ich mich nun also selbst fragen: Warum kann ich so problemlos auf diese evolutionären Vorteile verzichten? Oder auch: Welche Nachteile muss ich dafür in Kauf nehmen? – Nord- und Schwarzafrikaner sind in diesem Kanton auffallend zahlreich unterwegs, in größeren Kommunen ebenso wie in abgelegenen Winzerdörfern. Die Waadt hat für Immigranten überdurchschnittlich viele Anlaufstellen und Unterkünfte. Auch hier in meiner Nachbarschaft gibt es inzwischen eine kleine afrikanische Kolonie, Kinder, meist junge Frauen und Männer, alle modisch gekleidet, H & M kombiniert mit bunten Tüchern, die meisten mit modischen, ins Haar geschobenen Sonnenbrillen und weißen Turnschuhen. Niemand von ihnen hat (oder bekommt) offenbar irgendetwas zu tun, sie gehen entweder stundenlang im Städtchen auf und ab, einzelne von ihnen stellen sich an dieser oder jener Hausecke in die pralle Sonne, bleiben ruhig stehn, halten die Augen meist gesenkt. Gehe ich an ihnen vorüber, lächeln oder staunen sie vor sich hin, sie grüßen nicht zurück, vielleicht nehmen sie mich auch gar nicht wahr. Vielleicht überlegen sie nur, worauf sie warten, worauf sie hoffen sollen. In den Kulissen dieser cluniazensischen Siedlung – Abteikirche, Mönchshaus, Ökonomiegebäude, Mühle, Schmiede – nehmen sie sich aus wie vor einem halben Jahrtausend die Pilger, die hier Station machten auf dem Weg von oder nach Santiago … Station machten, um sich auszuruhen von der Reise, um Kleider und Schuhwerk zu reparieren, um sich die Füße pflegen zu lassen. Der Vergleich hinkt. Denn schwarze Migranten gab’s damals hierzulande nicht. – Der hinkende Vergleich ist aufgehoben im mythologischen Kentauren, der Ähnlichkeit und Kontrast des Ungleichen in sich vereinigt und sich so auf paradoxale Weise als ein ausgeschlossenes Drittes konstituiert. Das Doppelmonster – halb Mensch, halb Pferd – ist mehr als die Addition zweier gegensätzlicher Hälften zu einem hybriden Ganzen, es steht zugleich für ein Ganzes, in dem das logisch Unvereinbare vereint ist und das die Gegensätze also nicht bloß koexistieren lässt, sie vielmehr versöhnt, um aus ihnen etwas Neues, ganz Anderes, nie Dagewesenes entstehen zu lassen. Diese arationale Versöhnung dürfte dem entsprechen, was Fjodor Dostojewskij der »russischen Seele« als deren »universelle Einfühlungsgabe« und Integrationsfähigkeit zugesprochen hat und was er mit der skandalösen Evidenzformel 2 x 2 = 5 in den ›Aufzeichnungen aus dem Untergrund‹ mit unvergleichlicher Prägnanz auf den Punkt brachte. – Seit dem Zusammenbruch des monolithischen Sowjetsystems und der Verabschiedung des eindimensionalen Sowjetmenschen hat in Russland das Paradoxon des Kentauren neue Aktualität gewonnen. Der einstige Unifizierungs- und Normdruck (durch Staatsideologie, Planwirtschaft, Sowjetmoral, Pressezensur usf.) ist gewichen … wurde abgelöst durch einen neuen politischen wie auch alltagsweltlichen Dualismus, der wiederum dem Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem, besonders zwischen Russland und Europa eingeschrieben ist. In dieser Situation, da Neureiche und Altkommunisten, Neofaschisten und Liberale, Neoslawophile und Internationalisten, Neopagane und Eurasier problemlos in ein und derselben Interessengemeinschaft aufgehen, erweisen sich auch manche Einzelpersonen als »eigentliche Kentauren, die in ihrem Bewusstsein und durch ihr Verhalten gegenseitig sich ausschließende Ansichten und Phänomene zur Geltung bringen«. So zu lesen in der Zeitschrift ›Probleme der Philosophie‹, einem Organ der Russländischen Akademie der Wissenschaften, die schon verschiedentlich »das Kentauren-Problem als Sonderfall eines paradoxen gesellschaftlichen Bewusstseins« zur Diskussion gestellt hat. Dass seit einigen Jahren auch an der Moskauer Humanwissenschaftlichen Universität die »Kentauristik« als eine soziologische Disziplin zur Erforschung der russischen Kultur und Gesellschaft gepflegt und in einschlägigen Publikationen erprobt wird, macht deutlich, dass man in der »Vereinigung des Unvereinbaren« das Ziel eines spezifisch russischen Wegs in die Zukunft erkannt hat oder – erkennen möchte. Generell wird aber kentaurisches Denken immer auch dort provoziert, wo es um den Andern, die Andern, ein Anderes geht. Die Frage nach dem Andern und das Problem von dessen »Bewältigung« – sei’s durch Integration und Anpassung, sei’s durch Abweisung oder Separation – stellt sich angesichts massiver Einwanderung mit zunehmender Dringlichkeit auch im westlichen Europa. Das Andere wird hier vor allem als das Fremde wahrgenommen, mithin als das ganz Andere, und nicht bloß als eine Variante des Eigenen. Fremdes mag exotisch wirken und Neugier wecken, doch statt zum Faszinosum wird es – begriffen als etwas Unbegreifliches, deshalb Unheimliches oder gar Bedrohliches – mehrheitlich zu einer negativen Herausforderung. Während Katholiken und Protestanten ihre dogmatischen Antagonismen ökumenisch zu versöhnen suchen, verschärft sich der Gegensatz zwischen Christen und Muslimen, »nördlichen« und »südlichen« Zivilisationen, aber auch zwischen Muslimen und radikalen Islamisten, zwischen zionistischen und kosmopolitischen Juden, zwischen Globalisten und Nationalisten, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen kapitalistischen und antikapitalistischen Fraktionen aller Art. Das paradoxale, in sich notwendigerweise widersprüchliche Denkmodell des Kentaurismus könnte sich in dieser Situation als brauchbar … könnte sich von daher als hilfreich erweisen, dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass auf die Bequemlichkeiten formaler Logik und Dialektik verzichtet würde zu Gunsten eines experimentellen Denkens des Unmöglichen, das den ausgeschlossenen Dritten beziehungsweise das ausgeschlossene Dritte als eine Möglichkeitsform anerkennt und ihr als solcher einen eigenen Wirklichkeitsstatus zugesteht. Um die Grenzen des Wirklichen und Machbaren zu erweitern, müsste Mögliches wie Unmögliches gleichermaßen bedacht werden. – Noch eins dieser Großgewitter mit ungeheuren Wolkenbauten, wallenden Regenbahnen und endlos variablen Grautönen. Dazu … dabei die Faszination von Blitz und Donner, die als elementare und vertraute Naturphänomene immer wieder in Bann schlagen, weil sie sich auf jedes Mal andere Weise in Raum und Zeit ausleben. Nie ist für den Betrachter der Beginn und das Ende eines Blitzes und … oder die Herkunft, die Laufrichtung, die Schallentwicklung eines Donnergrollens abzusehen, für mich heute schon gar nicht, da sich der Blitz nur indirekt als fahles weiträumiges Aufflammen hinter den Wolkenwänden erkennen lässt und der Donner mit gewaltiger Erschütterung gleichzeitig in verschiedene Richtungen auseinanderzurollen scheint. So kann das Staunen – auch meins! – immer wieder kindlich werden.

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