4. September

Um sieben aufgestanden, Frühstück und Gratiszeitung in der Bäckerei, dann weiter zu diversen Besorgungen nach Orbe – Schuhmacher (neue Absätze für die Laufschuhe), Blumenladen (Bukett für die Posthalterin), Drogerie (Fußsalbe, Ingwertee), Frischmarkt, Kiosk (›Magazine littéraire‹). Am Nachmittag bei milder, leicht dunstiger Witterung im Garten; Adalbert Stifters ›Sonnenfinsternis‹ und ›Turmalin‹ wiederlesend … wieder mit höchster Bewunderung und in finsterem Glück. Dann die Prosa vom Tag sichtend – Rechnungen, Mahnungen, unerbetene Sonderangebote. Gegen fünf wird’s kühl, im schwindenden Licht rangieren schwere Wolkenbänke. Zurück nun ins Haus mit ein paar Scheiten (aus meinem Holzschuppen) zum Einheizen. Zwei Stunden mit Potocki (gegenlesen, korrigieren), danach bei Martin Heidegger, in ›Sein und Zeit‹, die penetranten Seiten über Da-Sein und Rede und Hören und Schweigen wiedergelesen – schon hier ist die Schreibbewegung deutlich determiniert durch das Sprechen der Sprache, die Heidegger auf Assonanzen abhört und nach Volksetymologien befragt, um daraus eine Quasiargumentation zu entwickeln und sie als schlichte Behauptung mit Wahrheitsgeltung durchzusetzen. Die Sprache, der er solcherart nachspricht, liegt seiner »Auslegung und Aussage schon zugrunde«, wodurch deren behauptender Charakter erklärt und die »Befreiung der Grammatik von der Logik« gerechtfertigt ist: »Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.« Im Hinhören auf Lautähnlichkeiten, Redensarten, Wortverwandtschaften bringt Heidegger die Sprache zum Reden, verknüpft er (und differenziert gleichzeitig) sagen-aussagen-heraussagen-sich aussprechen-zu sagen haben-auslegen oder hören-hörig-zugehörig-horchenaufeinander hören. Also kann … also darf eine alogische Behauptung wie diese durchaus als wahr gelten: »Das Dasein hört, weil es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitdasein und ihm selbst ›hörig‹ und in dieser Hörigkeit zugehörig.« – Auftritt mit Stanley Chapman und Klaus G. Renner im Cabaret Voltaire mit dem Projekt ›11000 verben 100 virgeln‹. Der niedrige Veranstaltungsraum ist mit obszönen Graffiti verschmiert, Türen, Fenster stehen wegen der drückenden Hitze offen, die bereitstehenden Klappstühle, vielleicht achtzig insgesamt, sind zu drei Vierteln besetzt. Statt unter einer Leselampe trage ich die Texte gemäß Anweisung eines unwirschen Kurators in frontalem Scheinwerferlicht vor, das mir den Schweiß auf die Schläfen treibt und den Saal mit dem Publikum in meinen Augen völlig ausblendet. Ich rede ins Schwarze, muss stehend rezitieren, dazu ein schweres Mikrofon in der Hand halten und mit dem Knie den schwankenden Notenständer stützen, den man mir statt eines Lesepults hingestellt hat. Mit einer hochkomplexen Textpartitur rhetorisch zurechtzukommen, fällt unter solchen Bedingungen besonders schwer, ist ungemein anstrengend, gelingt hier aber zumindest auf mittlerem Niveau. Nach der Lesung treffe ich am Büchertisch Yvan Farron, Simon Morris, Wolfram Malte Fues, und später ergibt sich bei Wein und Brot ein gutes Gespräch mit Jürg Amann, der unprätentiös davon berichtet, wie er es schafft, jährlich zwei Bücher zu schreiben, davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und darüber hinaus immer mal wieder eine Erstausgabe von Franz Kafka oder Robert Walser zu erstehen. Bis zum Wirtshausschluss unterhalten wir uns in der lärmigen Kneipe, dann trete ich zu Fuß den Heimweg an, bin gegen zwei Uhr zu Haus, merke, dass ich die Aktentasche mit den Skripten und Büchern im Cabaret vergessen habe, bin nun aber zu müde, um mich darüber zu ärgern; und ohnehin ist es zu spät, um noch einmal … ja, was? – Bin abgesprungen … bin abgeworfen worden über grünem Gelände, zumindest wird sich hier etwas zum Ernten finden, zum Essen. Weit gefehlt. Der Landstrich wird von militanten Affenmenschen oder Menschenaffen kontrolliert und systematisch verheert. Das repressive Regime – so erklärt’s mir mein Retter – ist darauf angelegt, das Bevölkerungswachstum in Bevölkerungsschwund zu verkehren. Blutrache, Bruder- und Vatermord, Messerduelle und vorentschiedene Einzelkämpfe gegen den Krebs gehören hier zur schlechten Alltäglichkeit und werden auch, wie mir drastisch vor Augen geführt wird, tatsächlich weithin praktiziert. Offenbar geht es dem despotischen Anführer darum, seine Untertanen sich selbst ausrotten zu lassen, um morgen die Herrschaft über die Toten anzutreten. Doch worin bestünde denn dann seine Macht? Über die größeren Heere der Toten zu gebieten oder über sich selbst als den letzten Überlebenden? Und wäre ich nicht, falls ich als Einziger überlebe, so gut wie tot? Ich … ich schrecke aus dem Traum auf, bin sofort hellwach, es ist halb fünf, viel zu früh für den kommenden Tag; einschlafen kann ich nicht mehr, versuche zu lesen (geht nicht), notiere diese paar Zeilen, gehe in den Garten hinüber, schreite drei Runden ab, überlege, wie es wäre, der Letzte und der Einzige von allen zu sein; bis sich der erste Hahn, dann der erste Hund vernehmen lässt und ich ganz hiesig bin – einer von beliebig vielen Zeitgenossen.

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