5. September

Dass sich ein Frosch in die »üppigen Flanken« einer Kuh verguckt, ist Anekdote … ist Fabel, scheint aber hin und wieder seine Richtigkeit zu haben: Dostojewskijs prägendes Vorbild als Erzähler war der Feuilletonliterat Eugène Sue; Tolstojs Lieblingsdichter war der Chansonpoet Pierre-Jean de Béranger; Pasternaks bevorzugter Romancier war der Modeschriftsteller John Galsworthy. Bleibt die Frage: Wer ist da Kuh und wer ist Frosch? – Mit Krys in Basel zur Entgegennahme des Lyrikpreises im Literaturhaus. Viele Bekannte im Publikum, Freunde aus der Schul- und Studienzeit. Akademische Preisrede von Wolfram Malte Fues, Bouquet- und Diplomübergabe durch Kathy Zarnegin. Ich biete nach kurzem Dank ein kleines dreiteiliges Leseprogramm an: Chapman / Steinlese / Alephbet. Das Publikum bleibt aufmerksam. Das Preisgeld gebe ich öffentlich zurück zu Gunsten der Veranstalter – zur Erhöhung der allzu bescheidenen Summe in den kommenden drei Jahren. Es gibt weder Beifall noch Dank dafür, als wäre die Spende ein Fauxpas gewesen. Den Blumenstrauß bekommt Krys. Wir verabschieden uns bald, schlendern zum Münsterplatz, kehren bei Isaak ein; später stoßen Christine von Planta, Laura Weidacher, Reinhard Stumm, Werner Lutz, Stefan Hulliger, Carl Gustav Malmström dazu. Hulliger lädt mich im Rahmen des Basler Arthur-Lourié-Festivals zu einer Lesung ein. – Fortschrittsskepsis und Traditionsbewusstsein gelten heute als »politisch inkorrekt«, wenn nicht als zutiefst reaktionär. Autoren wie George Steiner, Mario Vargas Llosa oder Botho Strauß gehören zu den Protagonisten eines angeblich obsoleten Denkens, das der allgemeinen Gleichmacherei mit der Forderung nach Differenzierung und kritischem Vergleich begegnet. Es kann schon nachdenklich stimmen, dass jeder Einspruch gegen den Nivellierungsdruck des Globalismus, der Multikulturalität und Multioptionalität als elitär abgewiesen wird, denn wo generell »alles möglich«, »alles kompatibel«, wenn nicht gar zusammengehörig sein soll, müsste eigentlich auch ein Platz für Elitäres vorgesehen sein. Der Trend tendiert aber schon seit längerem zum Prinzip der unkritischen Durchmischung und Vermengung des Nicht-Zusammengehörigen, was naturgemäß das Nebeneinander des Disparaten oder Gegensätzlichen erschwert. Die so erzeugten Dreckeffekte haben sich in der Alltags- und Hochkultur gleichermaßen ausgeprägt, am deutlichsten in der Oper und im Schauspiel, deutlich genug in der Literatur, der Bildkunst und Architektur, wo Kunst- und Kitschanspruch weitgehend in eins fallen und gleichsam organisch zusammenfinden – im Trash. Beispiele dafür sind Jeff Koons, Damian Hirst, die russische, die chinesische Kitschkunstproduktion, die normierte literarische Kurzware der Publikumsverlage, die synkretistische, stil- und kulturübergreifende Großstadtarchitektur oder multimedial inszenierte Bühnenspektakel. Das Bedürfnis nach Kunst und das Bedürfnis nach Kitsch sind gleichermaßen berechtigt, müssten aber getrennt zum Zug kommen und auf unterschiedlichen Bühnen … in unterschiedlichen Medien abgegolten werden. Weil dies kaum noch der Fall ist, verlieren sich auch die jeweils spezifischen Kriterien und Werte – statt Kitsch und Kunst klar auseinanderzuhalten, aber auch uneingeschränkt koexistieren zu lassen, wird ohne jede kritische oder gar selbstkritische Reflexion Kunstkitsch und Kitschkunst gleichsam am Laufband produziert. Der marktwirtschaftlich funktionierende Kulturbetrieb hat zu liefern, und was er liefert, muss etwas bringen. Da die Angebote der von dieser Entwicklung längst überholten »Hochkultur« nicht mehr markttauglich sind, können sie – falls denn überhaupt – nur noch als Nischenprodukte für ein kleines anspruchsvolles Publikum realisiert werden. Solche Angebote, solche Produkte bleiben vom herrschenden Betrieb weitgehend ausgeschlossen; sie werden wegen mangelnder Bewerbung und Besprechung kaum noch wahrgenommen, können deshalb auch nicht mehr zur Kontrastbildung und damit zum kritischen Vergleich mit der dominanten Quasikulturproduktion beitragen: Man hat sie abgeschrieben und vergisst darüber auch ihr Innovationspotential. Denn noch nie haben Kitsch und Massenkunst zum kulturellen Fortschritt beigetragen. Kultureller Fortschritt hat seine Impulse seit Jahrhunderten aus der Leistung einzelner, zumeist randständiger Protagonisten gewonnen, die sich bewusst und radikal von den dominanten Trends abgesetzt und im Gegenzug dazu Neuland erschlossen haben. Dem nachzutrauern ist ebenso unergiebig wie die Kritik an den heutigen Zuständen. Die heutigen unterscheiden sich von den früheren, noch vor einem halben Jahrhundert beobachtbaren Zuständen dadurch, dass Innovation und Evolution in künstlerischen Dingen nur noch in technischer Hinsicht von Interesse sind, ansonsten aber die Stagnation auf mittlerem Niveau bevorzugt und nun auch schon seit längerem beibehalten wird. Seit längerem, das heißt genauer – seit dem postmodernen Mentalitätswandel zum Prinzip der Gleichgültigkeit … der gleichen Gültigkeit von Kultur und Alltag (als Alltagskultur), von Kunst, Kitsch, Unterhaltung, Sport, von Fremdem und Eigenem, von Öffentlichkeit und Intimität, stets nach der Devise »Allin-One«, diktiert vom Beliebigkeitsbegehren nach »allem und noch viel mehr«. Man sehe nach, was heute in den führenden Informations- und Modemagazinen unter dem Stichwort »Kultur« rubriziert wird – der Horizont reicht von den Künsten bis zum Alltagsdesign, zur Kosmetik und Urlaubsmode, zum Computerspiel, zum Familienauto, zum Extremsport, zur Ästhetik des Schrebergartens, und tatsächlich wird hier auf einem gemeinsamen Nenner unterschiedslos manches zusammengeführt, was vor nicht allzu langer Zeit als unvereinbar galt. Während sich die Vereinheitlichung und Nivellierung des einst Unvereinbaren im erweiterten Kulturbereich definitiv durchgesetzt hat, stößt sie in der sozialen und politischen Praxis auf wachsenden Widerstand – hier wird das Eigene vom Fremden sehr wohl unterschieden, hier werden Pauschalisierungs-, Unifizierungs- und Integrationsmaßnahmen vielfach konterkariert durch regionale, kommunale oder auch individuelle Interessen. Allerdings macht es, dem darin liegenden Konfliktpotential zum Trotz, den Anschein, als gehörte auch diese Gegenläufigkeit zu einer Normalität, die alles zu gleicher Gültigkeit heruntermoderiert. – »Verschwunden der Glaube, der zu bauen erlaubt.« Um es diesmal mit Michel Houellebecq zu sagen. – Wir bereiten uns auf den Weltuntergang vor, der wenn immer möglich ohne uns stattfinden soll. Unser Städtchen präsentiert sich wie ein Filmset. Es herrscht emsiges sinnloses Treiben. Bestehende Häuser, Straßenlaternen, Denkmäler werden abgerissen, gleichzeitig errichtet man windige Kulissen … Fassaden aus Sperrholz oder Styropor, die nun auch noch mit großflächigen Graffiti besprüht werden. Immer wieder neue unheimliche Zeichen erscheinen am Himmel und wandeln sich hienieden zu Gerüchten. Keiner weiß … jeder glaubt zu wissen, wie und wann das Ende kommen wird. Am Leitfaden des jeweils jüngsten Gerüchts ist jeder … bin auch ich damit beschäftigt, irgendwelche Gegenstände hinter den wankenden Kulissen in Sicherheit zu bringen, lauter unbrauchbare Dinge, zu denen auch meine Bücher gehören. Auffallend ist, dass all dies ohne jede Hast und Hysterie geschieht, mit bedächtigen Bewegungen und Gesten tut und bedeutet jeder das Seine … tut jeder, was nottut. Was nottut ist, dass dieses Endspiel weitergeht. Dass es niemals endet. Nur sehr allmählich lässt mich der Traum los. Oder ich ihn. Gern hätte ich drüben das Ende miterlebt. Nun muss ich es (da es doch unzweifelhaft mein Ende ist) hierzulande finden. – Unter dem Titel ›Mathematik‹ notiert Michail Gasparow seine Existenzformel wie folgt – Frage: »Ist mein Volk ohne mich unvollständig?« Antwort: »Nein, es ist vollständiger ohne mich; denn ich bin eine negative Größe, ich bin überzählig in ihm.« Desolate Vorstellung! Doch warum braucht Gasparow den Vergleich mit dem Volk, um die Negativität seines Ichs zu erkennen und dessen Größe zu bestimmen? Was mich angeht, so ist mir überzählig zu sein lieber als dazuzugehören. Als Zugehöriger gehöre ich. Als Überzähliger zähle ich. Doch wie kommt der Kalauer dazu, von mir soviel zu wissen? Da war sich der deutsch-russische Dichter Athanasius Foeth seiner Sache sicherer; auf die Frage, welchem Volk er angehören möchte, sagte er ohne zu zögern: »Keinem.« Bei aller Geistesgegenwart hebt er damit in eine mögliche Welt ab, die nur das Unmögliche als Möglichkeit kennt.

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