6. September

Der Sieger eines Kakerlakenwettfressens im US-Staat Florida ist gestorben, nachdem er Dutzende von lebenden Küchenschaben und Würmern verzehrt hat. Die genaue Todesursache des zweiunddreißigjährigen Mannes solle durch eine Autopsie ermittelt werden, teilte die Polizei am Montag mit. An dem Fresswettbewerb in einem Reptiliengeschäft in Deerfield Beach siebzig Kilometer nördlich von Miami hatten am Freitagabend rund dreißig Konkurrenten teilgenommen, mit dem Ziel, ins Guinness Buch der Rekorde einzugehen. Außer dem Sieger sei nach der Veranstaltung niemand ernstlich erkrankt, meldet dazu ergänzend die Nachrichtenagentur Reuters. – Die Fischer als letzte Erzähler hienieden? Einst hatten Jäger und Ammen die Funktion, erzählend oder lullend mögliche Welten für ein paar Minuten Wirklichkeit werden zu lassen. Doch nun sind, nach Harry Altwasser, auch die Fischersleute am Ende: ›Letzte Fischer‹. Mathilde und Robert sind das letzte Paar der letzten Walfängergeneration. Luise, die Tochter der beiden, fährt als Sicherheitsexpertin und Nahkampfspezialistin ebenfalls zur See, sie begleitet einen Walfangtrawler, den sie vor Piratenangriffen (im hohen Norden!) schützen soll. Die junge schlagkräftige Frau entwickelt ein exaktes Verteidigungsdispositiv, verliebt sich beiläufig in den jüngsten Mann der Crew und … aber tatsächlich tritt der Ernstfall ein, als der Trawler von Greenpeaceaktivisten verfolgt und fast gekapert wird. Es kommt zu harten Prügeleien, zu Schusswechseln usf. Gleichzeitig stirbt anderswo auf der Welt, wie Altwasser uns wissen lässt, Luises Vater, was sie nach ihrer Rückkehr zu einem radikalen Gesinnungs- und Frontwechsel veranlasst. Luise heuert bei Greenpeace an, um nun mit den gleichen Waffen und Taktiken gegen Walfänger vorzugehen, die sie zuvor aus Gründen der Familientradition verteidigt hat. Damit sind gut fünfhundert Druckseiten resümiert. Wozu denn aber, frage ich mich, fünfhundert Seiten lesen, wenn ich deren »Inhalt« auf wenigen Zeilen zusammenfassen kann? Der Text müsste über das Inhaltliche … über den Plot hinaus von Interesse sein – stilistisch und kompositorisch, psychologisch oder philosophisch. Doch es gibt bei Altwasser nichts zu unterstreichen, es gibt keine Einzelsätze oder Textpassagen, bei denen man innehalten möchte und aus denen – abgesehen von wiederholten Bonmots zur Geschlechterfrage – etwas zu gewinnen wäre: Man liest nur einfach eine versiert abgefasste, stellenweise spannende Familien- und Hochseestory, die man sich genau so gut und noch spannender als TV-Film vorstellen könnte. Es ist eine Leseerfahrung, die ich mit jüngeren zeitgenössischen Romanautoren des öftern und immer häufiger mache – dass ich mit professionell ausgearbeiteten Plots in gängiger Sprachform konfrontiert bin und mich frage: Was an diesem Text spricht für den Autor? Was an diesem Text … was an diesem Autor macht seinen Personalstil aus, ist einzigartig und ist unverwechselbar? Die Frage mag falsch gestellt sein. Denn unverwechselbar … einzigartig zu sein, ist heute in künstlerischen Dingen weit weniger relevant als Konsensfähigkeit, Aktualität, Trendorientierung, Unterhaltsamkeit usf. Bleibt als Alternative das Wiederlesen der abgelegten Originale, die so einzigartig und unverwechselbar geblieben sind, dass ihre Titel den Autorennamen überflüssig erscheinen lassen: ›Moby Dick‹, ›Madame Bovary‹, ›Anna Karenina‹, ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, ›Ulysses‹, ›Locus solus‹, ›Das öde Land‹, ›Der Process‹, ›Hotel Savoy‹, ›Der alte Mann und das Meer‹, ›Der Leopard‹, ›Herzog‹, ›Jakob der Lügner‹. Um nur diese zu nennen und … und um es gut sein zu lassen. – Nach zwei relativ ruhigen Wochen heute wieder der üble Triumph der Migräne über Kopf und Bauch, die nun gleichermaßen verrückt spielen und … oder ich bin verrückt, und sie spielen nur mit mir? Der Schmerz fühlt sich an wie ein glühender Stahlhelm … wie ein brennender Lendenschurz; oder so ähnlich, oder auch ganz anders. Ich kann’s nicht mehr unterscheiden, kein Vergleich passt, und doch trifft jeder Vergleich irgendwie zu. Soviel Schmerz ist eine Schmach und eine Schande … ist eigentlich ein Affront gegen die Menschenwürde. Anderseits weiß man ja … anderseits kann ich ja nicht einmal wissen, ob diese mörderische Schmerzerfahrung eine Strafe, ein Zufall, ein Missverständnis, vielleicht auch ein Verdienst, eine Auszeichnung, eine Chance ist und … aber wofür? Und warum und von wem sollte gerade ich damit gemeint sein? – Noch ein Rückfall! Der Frühherbst regrediert zum Hochsommer, die Temperatur steigt am frühen Nachmittag auf dreißig Grad, und die jetzt viel längeren Nächte lassen sie um kaum zehn Grad absinken. Doch die Hitze schafft die Feuchtigkeit nicht aus der Luft, die Atmosphäre lastet, Müdigkeit behindert mich – ich muss die Korrekturen von Fink (›Faszination des Fremden‹) liegen lassen, bin auch schon zu müde, um mich über den Umschlagentwurf zu dem Buch zu ärgern: Vergoldete Kirchenkuppeln aus dem Moskauer Kremlrevier, dahinter … darüber stahlblau und wolkenlos der Himmel, alles wie üblich ins Bild gesetzt, passend als Ansichtskarte oder als Illustration zu einem Reiseführer. Doch mein Titel bezieht sich gerade nicht auf das Fremde, das uns an Russland zu faszinieren vermag, sondern umgekehrt auf das Faszinosum, das der »fremde« Westen wie der »ferne« Osten für Russland seit tausend Jahren darstellt. Es geht also um den russischen Blick nach außen und dessen Rückwendung nach innen; um das charakteristische russische Begehren, das Fremde zu verinnerlichen und so vollständig zu vereinnahmen, dass es als Eigenleistung ausgegeben werden kann. – September. Berg du! Das phrygische Flachland ist Puszta!
aaaaaIst aufgeweicht nach strengen Frösten.
aaaaaKann beackert werden. Takt um Takt spürst
aaaaadu den Furchen nach. Von Kehre zu Kehre. Von Westen
aaaaanach dem nahen Osten. So wahr Ostern
aaaaasüdlicher als jeder Frühling blüht. Auch ein erster
aaaaaJuli kommt für Wiederkehr in Frage. O Stern!
aaaaaDer – da! – verblasst in einer weißen Nacht. Schwerster
aaaaaAbgang des notwendigsten Engels. Länger
aaaaaals bis zum Schnee vom achtundzwanzigsten Oktember
aaaaadauert keine Sehnsucht und kein noch so teurer Spaß. Verdränger
aaaaadu! Ob August oder Mai oder Mittwoch. Idem semper.
– (Traum, über Mittag:) Mit Oswald Egger bin ich irgendwo in Rumänien unterwegs. Wir transportieren in einem Oldtimer mit offenem Verdeck einen Haufen Hausrat, ohne zu wissen wozu … ohne zu wissen, wohin wir den Ramsch bringen sollen. Eigentlich möchten wir die Ladung ja entsorgen, möchten das unnütze Zeug loswerden, doch je weiter wir uns verfahren, desto höher türmt sich der Krempel auf der Ladefläche. Klar, wir brauchen einen größeren Pickup, auf den wir die wertlose Fracht umladen können. Stunden- oder auch wochenlang kurven wir durch ruinöse Städte, durchqueren wüste Landstriche, machen schließlich Halt bei einem kleinen Provinzbahnhof, wo es nur gerade ein Gleis und einen Bahnsteig gibt. Der nächste Zug wird für Mitternacht erwartet. Wir laden unsere Sachen aus und stellen sie … legen sie in langer Reihe neben dem Gleis hin – zentnerweise fadenscheinige Bett- und Küchenwäsche, Altkleider, Gehstöcke, Säbel, Türklinken, Reisewörterbücher, verstaubte und zerschlissene Ahnenbilder, elektrische und mechanische Haushaltsgeräte, Radios, Spielzeug, fleischfarbene Schnürkorsette, Nachttischlampen, Fotoalben, Einmachgläser usf. Egger verabschiedet sich beiläufig und schlendert mit gesenktem Kopf auf dem Bahnsteig davon, wobei er viel zu laut – als müsste er es sich einreden – »for good! for good!« vor sich hin spricht. Ich muss nun allein weitermachen, lege den Ramsch, ein Stück neben das andere, am Boden aus. Eine Computerstimme kündigt die Ankunft des Zugs an, bereits ist das Prusten und Paffen der Dampflok zu hören, und auch ich entschließe mich nun, die Sache gut sein zu lassen. Noch einmal gehe ich die Auslage durch, überlege, welche Stücke ich allenfalls mitnehmen sollte und … und immer wieder fällt mir dabei der Säbel mit der bunten Kordel auf, doch ich lasse ihn liegen, gehe mit leeren Händen fort … gehe hinaus ins verdämmernde, mir völlig unbekannte Gelände. – Was viele … was die meisten Literaten als Schreibblockade kennen, ist bei mir der Effekt eines ebenso trivialen wie machtvollen Dämons, der es auf nichts anderes abgesehen hat als auf Widersinn, darauf nämlich, mich von einem vorgefassten Sinn (einer vorgegeben Richtung) abzubringen und mir statt dessen etwas beliebt zu machen, was ich nicht will. Dieser Dämon kommt dann ins Spiel, wenn ich einen schwierigen Anfang zu machen, eine schwierige Rezension zu schreiben, einen schwierigen Brief zu beantworten, eine schwierige Kolumne abzufassen, die erste Seite eines neuen Buchs auszuführen habe. Statt das Anstehende zu beginnen, zwingt mich der Dämon, etwas völlig Überflüssiges, Nebensächliches, oft ganz und gar Absurdes zu unternehmen … ohne Motiv und mit dem einzigen Ziel, das Wichtigere oder vielleicht Wesentliche nicht zu tun. Ich weiß, ich müsste heute den Brief an NN oder die Einleitung zu meinem Buch über XY schreiben, und ich bin darauf auch vorbereitet, aber ohne jeden Beweggrund fahre ich nach Orbe, kaufe eine Packung Klopapier und eine Spaghettizange, obwohl ich bis auf Weiteres weder das eine noch das andre brauche, und setze mich anschließend ins Café du Nord, bestelle einen Pernod und lese noch einmal die Zeitung, die ich schon in der Früh zu Hause gelesen habe. Ich tue, was in keiner Weise nottut, und mehr – oder weniger? – als das: Ich tue etwas, das ich mir überhaupt nicht vorgenommen habe, mit dem ich nichts erreiche, das mich nur einfach von dem abhält, was ich eigentlich und dringend in diesem gleichen Moment tun müsste. In Momenten des Schreibbeginns neige ich fast unweigerlich zu derartigen Gratisakten, jener Dämon ist aber auch allgemein aktiv dort, wo es darum geht, etwas Neues, Gewichtiges, vielleicht Einmaliges und Definitives auf den Weg zu bringen. Die Bewerbung. Die Kündigung. Die Anklage. Den Vertrag. Die Scheidung. Das Testament. So kommt es (jedenfalls meiner Erfahrung nach), dass Wesentliches entgegen aller Vernunft und Notwendigkeit immer wieder zu Gunsten von Unerheblichem aufgeschoben wird. Eine härtere, möglicherweise schon pathologische Variante dazu bilden jene Momente, da man ohne jedes Motiv und Interesse genau das tut, was man nicht tun will. In diesem Fall ist also keine Alternative gegeben und keine Kompensation möglich: Ich handle, weil ich nicht handeln will; ich tue gänzlich freiwillig und ohne jede äußere Versuchung genau das, was ich vermeiden möchte. Ich tue das Widerwärtige, um nicht nichts zu tun. So wie der junge Lew Tolstoj beim Radfahren ausgerechnet jene wunderbare junge Frau zu Fall bringt, in die er verliebt ist, deren Nähe er aber sorgfältig meidet aus Furcht, sie zu Fall zu bringen: »Und während ich zu ihr hinsah, näherte ich mich ihr unwillkürlich mehr und mehr, und obwohl sie, als sie die Gefahr erkannte, wegzukommen versuchte, habe ich sie angefahren und umgeworfen, das heißt, ich habe genau das Gegenteil dessen getan, was ich wollte, und nur deshalb, weil ich verstärkt auf sie geachtet hatte.« Ich denke auch an den Fürsten Myschkin in Fjodor Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹, der »ausgerechnet« jene kostbare chinesische Vase umwirft, von der er sich in Kenntnis ihrer Rarität und ihres materiellen Werts strikt fernzuhalten versucht. Als Supplement kann ich dazu auch noch eine kleine persönliche Reminiszenz beibringen: Als ich in meinem ersten Studienjahr bei Phoebus Publishers als Korrektor arbeitete, bekam ich zum Gegenlesen ein Buch mit dem Titel ›Die Predigt der Säulen‹ auf den Tisch, eine theologische Deutung der Säulenkapitelle im Basler Münster. Der Verleger und nach ihm auch die Lektorin warnten mich explizit vor den »Säulen«, aus denen allzu leicht »Säulein« werden könnten! Klar. Es durfte gelacht werden. Als dann zwei, drei Wochen später die Andrucke des Buchumschlags aus der Druckerei kamen, fiel uns das Lachen sehr viel schwerer, denn da stand nun in dicken Lettern tatsächlich der Titel, der unbedingt zu vermeiden war: »Die Predigt der Säulein«. Der Lapsus, den wir befürchtet und vermeintlich gebannt hatten, musste einer eigenen, uns übersteigenden Gesetzmäßigkeit gefolgt sein und hatte sich gegen unsern kollektiven Willen durchgesetzt. Vermutlich hatte mich die Warnung vor der Fehlleistung dazu veranlasst, das korrekt gesetzte Wort fehlerhaft zu korrigieren und somit das Richtige durch das Falsche zu »verbessern«. Der Zwang, das Falsche, das Nichtgewollte zu realisieren, statt ganz einfach nichts zu tun, ist wohl einer der seltsamsten Zwänge überhaupt, hat aber meines Wissens noch nicht mal einen Namen. Oder ist er identisch mit dem, was die Angloamerikaner »the imp of the perverse« nennen? Wäre gar nicht so unpassend.

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