7. September

Der September könnte in diesem Jahr auch als »Märzember« im Kalender stehn – er bietet ein ständiges Auf und Ab und Hin und Her zwischen frühlingshaften heftigen Aufhellungen mit kurzen Hitzeschüben und spätherbstlichen Sturm- und Kälteeinbrüchen. Für Kopf und Bauch bringt diese Wechselwitterung die optimalen … die unfehlbaren Impulse zur Auslösung entsprechender Migräneschübe. Ungute Tage. Nächte nicht besser. Da waren … da müssen Nacht und Tag zu Johann Gottfried Herders Zeiten freundlicher gewesen sein, freudvoller, ruhiger, ausgeglichener, beständiger – langweilig und schmerzfrei: Goldenes, süßes Licht der allerfreuenden Sonne,
aaaaaUnd du friedlicher Mond, und Ihr Gestirne der Nacht,
aaaaaLeitet mich sanft mein Leben hindurch, Ihr heiligen Lichter,
aaaaaGebt zu Geschäften mir Muth, gebt von Geschäften mir Ruh,
aaaaaDass ich unter dem Glanze des Tags mich munter vergesse,
aaaaaAber mich wiederfind’ unter dem Schimmer der Nacht!
aaaaaNieden am Staube zerstreun sich unsre gaukelnden Wünsche;
aaaaaEins wird unser Gemüth droben, Ihr Sterne, bei Euch.
– Paradiesische Befindlichkeiten! Kaum zu glauben, dass unter solchen, unmittelbar ans Ideale grenzenden Existenzbedingungen auch noch Verse wie diese entstehen können. Wozu? Wo doch alles … wo wirklich alles seine Richtigkeit und Ordnung hat! Wo Kunst nur noch Lob und Dank ist und nichts mehr da, was kompensiert, beklagt, gefordert werden müsste – könnte man meinen! Aber ich lese das großartige Gedicht (eins der schönsten, im Deutschen, neben dem ›Abendlied‹ von Matthias Claudius) als ein Sehnsuchts- und Jenseitsgedicht, das die schlechte Alltäglichkeit im Wort transzendiert, alles Üble über acht Zeilen hin gänzlich ausblendet, so dass sich der Dichter – »ich« – munter vergessen kann. Ein Todesgedicht? Ein Gedicht, das aus der Negativität der Welt und der menschlichen Geworfenheit in diese Welt seinen schönrednerischen Impuls gewinnt! Sanft lässt sich der Geworfene durch sein Leben ins glückliche Nachleben geleiten; nach dem unergiebigen Mut »zu Geschäften« wünscht er sich nur noch Ruhe, Selbstvergessen, das schimmernde Dunkel der Nacht, Errettung aus der Trümmerlandschaft zerschlagener Wünsche, Zugang zu einem Reich, wo alles eins und alle gleich sind. Das ist, ich verkenne es nicht, eine Lektüre gegen den üblichen Strich, doch nur so gelesen … nur in seinem offenkundigen Widersinn macht das Gedicht noch Sinn – aus der Nacht der hiesigen Welt mag mich der Tod … kann mich nur der Tod zum ewigen Tag befreien. Die ungewöhnliche Reihenfolge der Titelwörter – »Nacht und Tag« – scheint diese Lesart einzuspuren und auch zu rechtfertigen. – Habe heute, hinter der grauen rauschenden Regenwand, bis vier Uhr nachmittags geschlafen; ich ging … ich gehe durch mehrere Träume einer unbekannten Frau nach, in der ich manch eine Bekannte erkennen kann … erkennen kann ich sie an ihrem Blick, an einer Geste, an ihrer Nackenlinie, ihrem Schritt, ihrer Stimme. Doch wie ungeheuer fremd mir diese vielfache Frau ist, obwohl jede ihrer Mitläuferinnen ein Kind an der Hand hält oder auf der Brust trägt, dessen Vater – also ich – angeblich verschwunden ist und nun von ihnen allen … von jeder einzelnen gesucht wird, immer nicht gefunden wird, eigentlich auch nicht vermisst wird, nur einfach gefragt ist. Irritierende Ambivalenz von Selbst- und Fremdgefühl, aus der ich nicht herausfinden kann, bis … bis ich endlich (es ist genau sechzehn Uhr zwölf jetzt) erwache und wieder bei mir bin … bei Sinnen. – Auf einen Sprung besuche ich den ambulanten Büchermarkt, der jedes Jahr um diese Zeit in Envy oberhalb von Romainmôtier stattfindet, organisiert von einigen Antiquariatsbuchhändlern aus der näheren Umgebung, die eine Auswahl ihrer Bestände – jeweils zwanzig-, dreißigtausend Bände – in der Veranstaltungshalle der Gemeinde auf Wühltischen zum Kauf anbieten. Ich bin regelmäßig dabei, finde unter sehr viel Ramschware fast jedes Mal irgendein Rarum, vor Jahresfrist war’s die französische Erstausgabe von Blaise Cendrars’ Roman ›Gold‹ und eine spätsurrealistische Erstpublikation von Marcel Duchamp. Diesmal genügt eine knappe Stunde, um bei ziellosem Stöbern reichlich fündig zu werden. Dann marschiere ich mit drei Tragsäcken voller Trouvaillen wieder ab, die meisten Fundstücke entstammen gemäß Ex Libris der Bibliothek eines gewissen André Bonard, darunter vor allem Klassiker der französischen Moderne in Erstausgaben – Valéry, Alain, Jouhandeau, Frénaud, Apollinaire, Péret usf., dazu wie immer ein paar Bände der Bibliothèque de la Pléiade, diverse bibliophile Drucke wie ›The Raven‹ von Edgar Allan Poe in den parallel gedruckten Übersetzungen von Baudelaire und Mallarmé, schließlich ein zweibändiges Riesenwerk mit dem Titel ›L’esprit dans l’image‹ (Geist im Bild) eines mir unbekannten Autors namens Pierre-Albert Girard, der (gemäß Auskunft des Antiquars) dieses – sein einziges – Buch in einer Auflage von (sage und schreibe:) einem Exemplar hat drucken lassen … Das war 2005, bald danach sei Girard gestorben. Ob das die Zukunft von Autor und Buch ist? Jedes Werk ein Lebenswerk, ein Unikum und Unikat – Vollendung von Werk und Leben in einem; und irgendein hergelaufener Leser wie ich oder du macht es zufällig ausfindig (denn suchen kann man es nicht, weil keiner weiß, dass und wo es existiert …), um damit möglicherweise etwas anzufangen. Bin gespannt, was die Lektüre bringt. Nach dem Inhaltsverzeichnis zu urteilen, legt Girard, ein weithin belesener Autodidakt, einen Welt- und Menschenbildentwurf vor, der wesentlich (und ohne jeden theoretischen Anspruch) in der Erfahrung des Sehens und Gesehenwerdens begründet ist. Ein paar hundert Franken habe ich für die Bücher liegen lassen, und eigentlich muss … eigentlich könnte ich mir sagen, dass dieser kleine Vorrat – auch der großartige Maurice de Guérin gehört dazu – für mein Restleben ausreicht. Vielleicht ist er sogar des Guten zu viel. – Mit Krys zum Frühstück im Priorshaus; der Samowar ist noch nicht aufgeheizt, die Brote aus der Dorfbäckerei lassen auf sich warten. Krys greift, um die Wartezeit zu überbrücken, nach dem ›Omnibus‹ (dem regionalen Tagblatt), liest mir im neutralen Tonfall und mit der hyperkorrekten Artikulation einer Computerstimme eine zufällige Auswahl aktueller Titel und Leads vor. Tragikomische Meldungsübersicht: Die verlorene Ehre der koreanischen Trostfrauen. Missliche Lage bei Zwangsausschaffungen. Die Schweiz am kürzeren Hebel. Wer kulinarische Reize sucht, wird auch in Vallorbe fündig. Braune Rhetorik. Schwedisch in Finnland unter Beschuss. Gut siebzigtausend Tote im syrischen Bürgerkrieg. Gewissensbisse des US-Justizministers. Moratorium für Kampfdrohnen gefordert. Neue Konfliktlinien in Zentralasien. Nationalistische Haarspalterei in Japan. Rückkommen undenkbar. Gemeinsame Wege von Waffen- und Frauenhandel. Wirksame Drohkeule im Steuerstreit. Mehr Langsamkeit wagen. Gegen Insektizidverbot zum Schutz der Bienen. Neue Mitte endgültig zersplittert. Weltliteratur nur noch in Kurzform. Gott und Teufel sitzen im Detail. Die freie Szene rezykliert sich. Streben nach Glück ist energieintensiv. Mehr Schub für E-Mobilität. »Barbara« fordert drei Todesopfer. Aus vier Cent werden 65 881 Euro. Lex Margelisch als Knacknuss. Topmodel unter Krebsverdacht. Cheftrainer unter Kokainverdacht. Liechtenstein will nicht verhandeln. Chinas unstillbarer Appetit auf deutsches Schweinefleisch. Rom nicht aus dem Schneider. Genfer Standortschwäche kostet Arbeitsplätze. Repressalien und Razzien gegen Menschenrechtsorganisationen in Moskau. Heikle Energiegeschäfte mit den Kurden. Rand verliert 15 Prozent. Avancen trotz Sorgen. Red Wings erneut gescheitert. Viktorianisches Frauentennis. Neues Geschäftsmodell für den Handel mit Spitzenpferden. Feigenblatt der Immobilienspekulation. Ägyptens Opernsänger protestieren. Billigflieger buhlen um Business Traveller. Der Herr der Spannungskiste. Genug für heute! Nur noch dies: Meteo warnt vor Sintflut im Waadtländer Jura und … aber das wäre ja gleich hier vor der Tür! Endlich kommt das Frühstück. – Sechsundsechzig neue Titel hat Matthes & Seitz im Herbstprogramm, drei Viertel davon (und damit mehr als bei jedem andern Publikumsverlag) kann ich mit eigenen Interessen in Verbindung bringen und sollte ich mir also genauer ansehen. Wie das? Woher nehme ich die Zeit dafür … Lesezeit, Lebenszeit? Und außerdem gibt es bei andern … bei vielen in- und ausländischen Verlagen noch einmal Dutzende von Neuerscheinungen, die ich gerne lesen würde und … oder die ich, um auf dem Laufenden zu sein, lesen müsste. Da ist es fast schon eine Erleichterung, an die vielen tausend, wenn nicht zehntausend kommenden Bücher zu denken, deren Lektüre ich mir getrost ersparen kann – es ist die überwiegende Mehrheit. Sollte man sich … soll ich mir jene längst vergangenen Zeiten zurückwünschen, da es noch menschenmöglich war, sämtliche Neuerscheinungen der Saison seriös zur Kenntnis zu nehmen?

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