8. September

Die Aufgabe der Geschichtsschreibung, lese ich heute in einer Kolumne des Perlentauchers, sei es, »die Gegenwart erzählerisch mit Sinn zu versorgen«. Vergangenes, Unwiederbringliches durch dessen Nacherzählung zu vergegenwärtigen, ist eins; aus solcher Vergegenwärtigung Sinn zu gewinnen – etwas anderes. Der Geschichtsschreiber kann mir, indem er den Vergleich von Einst und Jetzt ermöglicht, eine Sinnperspektive geben, doch »mit Sinn versorgen« muss ich mich selbst. Sinn kann, egal durch wen, weder gestiftet noch gehortet werden. Sinnbildung ist dort gefährdet, wo bei Autoren wie bei Lesern die Überzeugung vorherrscht, verstanden zu haben; denn was einer zu verstehen gibt oder verstanden zu haben meint, ist nie nicht etwas Abgeschlossenes, und gerade das Abgeschlossene, Vollendete, vermeintlich Vollkommene ist das, was die Entstehung und Entfaltung von Sinn verhindert. »Das Verständnis«, bestätigt diesbezüglich Hans-Jost Frey, »verschüttet das Fest der Sprachentfaltung.« In künstlerischen, vor allem in literarischen Dingen sind Unverständnis oder Missverständnis oft sehr viel produktiver als der ephemere Triumph des Verstandenhabens. Denn das Verstehen kennt, im Unterschied zur Sinnbildung, immer nur eine Richtigkeit. – Friedrich Nietzsches ›Antichrist‹, im Zusammenhang gelesen, ist eine schwachsinnige Kampf- und Kitschschrift; manches daraus konnten die Nazis tatsächlich unverändert übernehmen, um die Liquidierung der Schwachen und Andersartigen zu rechtfertigen. Traurig und ärgerlich, dass aus einem solchen Kopf soviel Dummheit und Niedertracht in die Bücher und, über die Bücher hinaus, in die Welt gekommen ist. Aber wie? Und woher rührt das anhaltende Faszinosum und damit auch die anhaltende virtuelle Gefährlichkeit derartigen Denkmülls? Wie kommt es, dass die antisemitischen Hetzschriften des russischen Philosophen Wassilij Rosanow noch heute – ob zustimmend oder ablehnend – weit häufiger zitiert werden als der gesamte Rest seines bemerkenswerten dreißigbändigen Werks? Warum vermag ein Alain, ein Valéry, ein Adorno oder Ernst Bloch nicht auch ein breiteres Publikum zu faszinieren? Und breitere, auch politische, auch pädagogische Wirkung zu zeitigen? Vermutlich weil hier die Idee die Phrase dominiert. Vermutlich weil ein breiteres Publikum ohnehin nur auf Phrasen reagiert und alles, was Idee ist, scheut, fürchtet, verachtet. Werden nicht auch heilige Schriften und kanonisierte Klassiker mehrheitlich auf jene Phrasen hin gelesen, die man sich am leichtesten zu eigen machen kann und die sich auch am leichtesten zitieren lassen? »Sein oder Nichtsein …« – das ist in William Shakespeares ›Hamlet‹ keineswegs die Hauptfrage; es ist bloß – letztlich trivial – die Hauptphrase. Doch außerdem gibt’s in dem Stück beliebig viele Verse, die Gewichtigeres zu besagen haben und die Gewichtiges noch besser sagen. – Heutzutage eröffnen André Gide und Paul Valéry mit ihrer Korrespondenz – ein Volumen von weit über fünfhundert Druckseiten – eine Welt von gestern. Keine bessere Welt, aber sicherlich eine stilvollere. Stilvoll auch dort, wo es um Privates, um Triviales geht. Auch Nichtssagendes ist auf solchem Niveau der Rede wert! Die Brillanz, die hohe Differenziertheit im Ausdruck und Argument, das überzeugt und überzeugend eingesetzte Interesse an der jeweils verhandelten Sache – all das könnte … das müsste in diesen weit dürftigeren Zeiten als Denk- und Schreibschule nach wie vor beispielhaft sein.

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