9. Juni

Fernsehtheater ist gefälschtes Theater, die Zoomeffekte – gerade sie – lassen es flach und plakativ erscheinen. Die Optik der Aufnahmekamera zwingt mir die Blickperspektive der Regie auf, stört und verhindert meinen eigenen Augenschein. Das Fernsehen reduziert … primitivisiert die Theaterkunst auf den Status eines Schaukastens, eines Puppentheaters, einer Peepshow. Was auf dem Theater präsentisch und authentisch geschieht, gerinnt auf der Mattscheibe zu peinlicher Künstlichkeit. – Habe von Nikolaj Berdjajew antiquarisch eine seltene Schrift ›Über Selbstmord‹ erworben, 1931 auf Russisch in Paris als Broschüre publiziert. Alle »möglichen« Gründe für den Suizid, die von Berdjajew hier aufgeführt werden, sind negativer Art: Einsamkeit, Krankheit, Alter, Traumatisierung usf. Kein einziger Anlass wird positiv in Erwägung gezogen – der Autor vermag Selbstmord nicht mit Freitod zusammenzudenken. Der Freitod ist ein ungeheurer Kraftakt und setzt entsprechend positive Energien voraus. Dass diese Energien nicht aus dem Vollen zu schöpfen sind, dass sie vielmehr der Schwäche abgerungen werden müssen, macht den Selbstmord zu einem eigentlich heroischen Akt. – Der serbische General Mladić (»Schlächter von Srebrenica«) steht in Den Haag vor Gericht – ein jämmerlicher uneinsichtiger Greis, der sich über die Justiz wie auch über die Opfer der von ihm befehligten Massenexekution lustig macht und sich weigert, die Anklageschrift anzuhören, der aber umso ausgiebiger über seine Altersbeschwerden und die Haftbedingungen Klage führt. Nicht zu leugnen ist allerdings, dass der Prozess – ein Monsterprozess! – auf einer höchst problematischen Prämisse beruht. Der General mag die Ermordung von achttausend jungen Männern – die Aktion wurde in wenigen Tagen durchgeführt – geduldet oder auch befohlen haben, als persönlich engagierter Täter kann er allerdings nicht überführt werden. Die Anklage des Internationalen Gerichtshofs hält ihn jedoch für schuldig an den massenhaft begangenen Mordtaten, derweil seine Helfershelfer, mithin die eigentlichen Täter, unbelangt bleiben. Wie … wo greift da die Gerechtigkeit? Zu Hunderten können sich jene Täter bis heute in Serbien frei bewegen, und jeder von ihnen wird sich jederzeit darauf berufen, bloß dem Befehl des Generals gefolgt zu sein. Ist denn aber ein Täter, der auf Befehl mordet, kein Töter? Wer wird jemals die Schuldigen, mithin die realen Täter des ruandischen Völkermords ausfindig machen oder gar zur Verantwortung ziehen? Damals wurden rund achthunderttausend Menschen hingemetzelt, und es braucht nicht viel Fantasie und noch weniger gesunden Menschenverstand, um sich vorzustellen, dass für einen Massenmord dieses Ausmaßes Tausende, vielleicht Zehntausende von Tätern aktiv gewesen sein müssen. Die Opfer werden für immer ein anonymes Kollektiv bleiben, dessen einziges Erkennungszeichen die Zahl 800 000 ist. Ihre Mörder leben unbelangt weiter, gründen Familien, machen Geschäfte, engagieren sich in politischen Gremien … leben weiter, als wäre nichts geschehen oder als hätten Andere die Verantwortung für das Geschehene zu tragen. Ja. Und was ist aus der hunderttausendfachen Mordclique des sowjetischen Staatsterrors geworden? Keiner der damals Verantwortlichen und auch keiner der damaligen Täter ist jemals formell abgeurteilt worden. Manche von ihnen bessern heute ihre Rente auf, indem sie sich für Interviews bezahlen lassen und die Gelegenheit nutzen, sich als bloße Befehlsempfänger darzustellen und zu entlasten … gelegentlich auch als »wahre Patrioten« und »treue Kommunisten«, die stets nur dem Sowjetvolk, der Partei, dem Führer gedient hätten. – Der Glaube an … der Wunsch nach Gerechtigkeit ist nicht weniger spekulativ als der Gottglaube. Gerechtigkeit mag sich da und dort durchsetzen, mag da und dort missachtet werden, mit dem kodifizierten Recht steht sie meistens in Konflikt. Das zeigt sich besonders eklatant in dem zwischen Notwendigkeit und Zufall akuten Moment des Sterbens. Als Sterbender … als Gestorbener bin ich in jedem Fall Opfer. Opfer eines Verkehrsunfalls, eines Arztfehlers, einer Naturkatastrophe, eines Kriegsereignisses, eines Mordanschlags, einer eigenen oder fremden Unachtsamkeit, einer Verwechslung, eines Fehltritts, einer Fehlentscheidung oder auch Opfer meiner selbst im Freitod. Wie verhalten sich in solchen Situationen Recht und Gerechtigkeit? Was ist an einem … an meinem Tod gerecht oder rechtens? Kann es mit dem Tod, wie auch immer er erfolgt, seine Richtigkeit haben? Inwiefern kann eine Todesstrafe oder kann ein Suizid ein Akt der Gerechtigkeit sein? Ist der durch einen herabfallenden Ziegel verursachte Tod gerechter … ist er weniger gerecht als der Tod durch einen Heckenschützen oder durch eigene Hand? Oder sind Recht wie Gerechtigkeit im Angesicht des Tods suspendiert? Was hat angesichts des Tods überhaupt noch Relevanz? Relevanz für wen? Wozu? Was hat mein sicherer Tod mit der unsichern Unsterblichkeit Gottes oder der Götter zu tun? Worin besteht angesichts des Tods meine Freiheit? Worin besteht der Sinn meiner Frage nach dem Tod und nach dem Gerechtigkeitsfaktor des Tods und nach dessen Relevanz? Lässt sich … ließe sich darüber mehr sagen als – zum Beispiel – »der Tod ist grün« oder »Gott ist rot«? In seinem Erstlingsdrama, der blutigen Farce des ›Titus Andronicus‹, lässt William Shakespeare seinen Protagonisten, der ein vielfacher ruchloser Killer ist, zornige Klage führen über den Tod einer Fliege. Das ist so, als betrauerte man angesichts des Tods Gottes den Tod eines Menschen wie du und ich. – Staats- und Armeechef Muammar al-Gaddafi statte seine Mörderbanden, wie man heute aus diversen Internetquellen erfahren kann, vor dem Ausschwärmen mit Cash und Viagra und LSD aus. – Die monströsen Geschichten von Abraham, von Hiob sind für die Weisheit und Güte Gottes ebenso exemplarisch wie die Folterung, Kastration und Abschlachtung eines dreizehnjährigen Steinewerfers durch syrische Soldaten gestern in Aleppo. Der Unterschied liegt freilich darin, dass es sich hier um einen realen, durch Zeugen beglaubigten Einzelfall, dort aber um mythische Erzählungen handelt. Hat nicht auch Sokrates die Leiden der Aufständischen im pharsalischen Stier als irrelevant bezeichnet angesichts der Aufrechterhaltung von Tugend und Wahrheit? – Moralischer Imperativ: Werdet wie die Kinder (oder die Kamele). – Ich fürchte, ich bin für den Freitod nicht lebensfroh genug. – Im TV ein Filmessay über Agota Christof, die Vielgerühmte, deren Bücher angeblich in fünfunddreißig Sprachen zu lesen sind und die jetzt mit dem Verzicht auf die sogenannte schöne Literatur ein Fazit ihres Lebens und Schreibens zu ziehen versucht. Desolater Auftritt. Mit schwer erträglicher, geradezu aggressiver Wehleidigkeit macht sich hier eine valable Autorin zum Gespött, eine alte Frau, die sich in stumpfen Trübsinn zurückgezogen hat, die kaum noch der Sprache – welcher Sprache nur? – mächtig ist und der es offensichtlich genügt, unglücklich zu sein und der Welt und dem Leben die Schuld dafür zu geben. Gefragt, wofür sie sich denn interessiere, sagt sie: Für nichts, sie stehe irgendwann am späteren Vormittag auf, drehe den Fernseher an, und damit habe es sich für den Rest Tags. Das Lesen habe sie seit langem aufgegeben, sagt sie und zeigt mit verquältem Lächeln auf das Bücherregal hinter ihr, das ausschließlich Belegstücke ihrer eigenen Publikationen enthält – Bücher in vielen Übersetzungen, die nun geschlossen mit dem Rücken zu ihr stehen, zu denen sie nichts zu sagen weiß und die ihr offenbar auch nichts mehr bedeuten. Agota Christof hat ihr Werk und damit sich selbst definitiv abgeschrieben. – IWF und G8 beraten über die globale Finanzkrise. Die Teilnehmer sind mit Sonderflügen aus aller Welt angereist. Verhandelt wird in einem Luxusetablissement in der kanadischen Provinz. Vorab ist klar, dass alle angedachten Neuerungen durchfallen werden. Man wird sich in dem Hotel, das zur Festung umgebaut ist, über nichts einigen, jeder weiß es; die Kosten der Tagung inklusive Sicherheitsvorkehrungen belaufen sich auf 800 Mio US$. Potjomkinsche Kulissen sind keine russische Besonderheit und typisch nicht nur fürs 18. Jahrhundert. Immer häufiger manifestiert sich Fortschritt als Rückschritt. Und kaum einer sieht hin. – Seit ein paar Tagen hat sich hier hochsommerliche Hitze etabliert, das diffuse Flimmern wirkt ermüdend, bedrückend – Helligkeit wie Hitze haben etwas Unausweichliches, fast Bedrohliches. Der Juni mit seinen stetig länger werdenden Tagen scheint auf Stillstand zu tendieren … scheint alles gleich zu machen, präsentiert sich auch in diesem Jahr so, als wäre er der letzte Monat überhaupt, als käme nach ihm nichts mehr. Doch solang immer wieder die Migräne kommt, kann das Ende nicht nah sein; man wünscht es sich nur. – Auch hier in der jurassischen Provinz ist das Kreuz des Südens aufgerichtet. Kreuz? Süden? Aufgerichtet? Nichts davon ist zu sehen, und doch sieht alles danach aus. Alles scheint in der Senkrechten zu stagnieren, überhaupt scheint alles zu scheinen. Über allem scheint reglos das Licht zu stehen, das Licht scheint die Schatten zu tilgen, den Raum zu verflachen – es scheint tatsächlich zu lasten. Die Blumendüfte werden von der feuchten Luft niedergehalten, selbst die Geräusche – das Zirpen, das Summen, das Piepsen, das Rascheln – bleiben gedämpft. Alles ist stumpf in sich gekehrt, alles scheint bei diesem vollen, verstockten Mittagslicht unmerklich zu krepieren. Aus New York ruft Krys an und berichtet vom dortigen Sommer – von gestauter feuchter Hitze, kurzen Wolkenbrüchen, Frischluft vom Meer her, Nächten ohne Kühlung, Tagen angestrengter Arbeit. Zu meinem Geburtstag Ende Juli will sie zurück sein. Meinen Traum von gestern erzähle ich ihr nicht, werde ihn vielleicht irgendwann mal vorlesen: Zufällig komme ich kurz vor dem Waldausgang bei der Quelle vorbei und sehe grade noch, wie ein bläulicher Windhauch die Wasseroberfläche streift. Das momentane Kräuseln glättet sich rasch, und ich erkenne, dass der Hauch … dass die luftige Bläue nicht über die Quelle hinweggegangen, sondern in sie eingegangen ist. Da liegt die Frau (Aglaja? Krys?) in ihrem blaugeblümten Kleidchen rücklings im Wasser, ihr Kopf ruht von mir abgewandt auf einem bemoosten Stein am Rand des Quellbeckens, Hüften und Beine schweben locker unter dessen Oberfläche, hin und wieder klatscht ein Wasserstoß an den leblosen Körper und bauscht den leichten Rock und lässt ihn wieder auf die Glieder sinken. Wenn es das ist, denke ich mir, könnte es auch schlimmer sein. Nämlich für die Rettung zu spät. – Was die Vorbilder und Wegbereiter angeht – sie ließen sich auf meine kakanische Corona beschränken: Kafka, Mauthner, Musil, Rilke, Roth, Wittgenstein. Es gab deren sehr viel mehr, es gab die Russen, die Franzosen; doch nur die Kaiserlich-königlichen haben ihre Autorität bis heute bewahrt.

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