9. September

Zwei Tage mit Krys unterwegs im Zug durchs Wallis, dann per Postauto über Domodossola nach Gondo. Übernachtung im Cielo Mare. Ein abgelegener, ständig von Bergstürzen und Erdrutschen bedrohter Ort, verhockt zwischen gigantischen, senkrecht aufragenden Felswänden. Schräg gegenüber dem Hotel sind, eingelassen in eine massive Stützmauer aus Beton, hinter Panzerglas die Bruchstücke einer großen Glocke ausgestellt, die beim letzten Bergsturz zusammen mit dem Kirchturm auf den Dorfplatz geschleudert wurde und zerschellte. Nun liegt sie vor unsern Augen im gläsernen Safe und bezeugt ihren einstigen nutzlosen Alarm – unwillkürlich ziehen wir die Köpfe ein, gehen geduckt weiter, schielen dabei immer wieder nach oben zu den überhängenden Steinmassen, die in diesem … die wohl in jedem Augenblick auf uns herabbrechen könnten. Warum … wozu sind wir eigentlich da? Den Ort hatte mir einst Adrien Pasquali empfohlen – hier sei er nach einem Selbstmordversuch vom Dorfarzt gerettet worden und habe seinen Lebensmut wiedergefunden. Wie das? Droht doch hier, wo alles auf Rettung angelegt und durch Betonsperren, Geröllnetze, Notunterkünfte, Überlebensbunker abgesichert ist, permanent der Untergang. Krys und ich sind heute die einzigen Gäste. Zu wenig Publikum für eine Katastrophe. Das Essen kommt mit großer Verzögerung aus der Mikrowelle und duftet und schmeckt auch entsprechend. Danach werden wir in hochtönendem Dialekt auf den riesigen Flachbildschirm im getäferten Aufenthaltsraum verwiesen. Als einziges Kassettenangebot steht eine Staffel aus der TV-Reihe ›Der Bergdoktor‹ zur Verfügung. Wir ziehen uns bald aufs Zimmer zurück. Ich lese Krys ein paar Gedichte aus Sylvia Plaths postumem Lyrikbuch ›Ariel‹ vor. Die Übersetzung von Erich Fried wirkt auf mich – ich wage den Vergleich – wie ein ziemlich derber Holzschnitt, angefertigt nach einer furiosen Kohlezeichnung. Gut und recht. Besser jedenfalls als die meisten andern Eindeutschungen, die es von dieser singulären Autorin gibt. Krys liest mir sehr langsam den Originaltext ›You’re‹ vor; ich skizziere dazu eine Neuübersetzung: BistWie ein Clown am glücklichsten auf deinen Händen,
aaaaaSteckst die Füße in die Sterne, hast dein Mondgesicht,
aaaaaTrägst Kiemen wie ein Fisch. Ein Allerweltsdaumen
aaaaaWeist nach unten, lässt dem Dodo keine Chance mehr.
aaaaaBist in dich selbst verdreht wie eine Spule,
aaaaaWie eine Eule schleppst du dein Dunkel mit dir fort.
aaaaaBist stumm wie eine Rübe zwischen viertem Juli
aaaaaUnd erstem April, o du mein kleiner Laib,
aaaaaDer sich mächtig reckt und bläht.

aaaaaBist unstet wie Nebel, ersehnt wie die Post. Weiter fort als Australien.
aaaaaBuckliger Atlas, unsre Krabbe, weitgereist.
aaaaaMollig wie eine Knospe und daheim
aaaaaWie eine Sprotte im Einmachglas.
aaaaaEin Korb voller Aale, ein dichtes Geschlinge.
aaaaaPrallst wie eine mexikanische Bohne.
aaaaaBist korrekt wie eine fertige Rechnung.
aaaaaBlanker Schiefer und drauf dein Gesicht.
– Und schon gibt’s keinen Grund mehr für Ärger und Frustration! – Peer Steinbrück, Bundestagsabgeordneter und Kanzlerkandidat der SPD, legt seine Nebenverdienste offen – rund anderthalb Millionen Euro in den vergangenen zwei Jahren, alles erarbeitet durch Vortragstätigkeit. Wobei Steinbrück aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Vorträge, sondern seinen Vortrag gehalten hat. Mehrfachverwertung als Prinzip. Üblicher Honoraransatz für eine derartige Veranstaltung auf der Prominentenetage – fünfzehntausend Euro. Da kann man sehen, was wirklich zählt. Auch noch so schöne Literatur gehört nicht dazu. – Wenn es mal wieder zwischen Zweien »funkt« und die entsprechende Nachricht via Facebook ins Internet geht, wird jedes Mal eine schöne alte Metapher ad absurdum geführt. Denn Funken, wie es sie früher noch beim Morsen oder auch beim Telefonieren gab, springen längst keine mehr, wenn heute kommuniziert wird. Doch die Metapher hält sich, jeder versteht ihren Sinn, auch wenn das Bild des Funkensprungs nicht mehr zur Alltagserfahrung gehört. Metaphern, die in solchem Verständnis überholt, aber noch immer in Kraft sind, gibt es viele. Noch heute, da so gut wie jeder auf dem PC schreibt, stammen die meisten Texte »aus der Feder« von NN, die Wirtschaft wird weiterhin »angekurbelt«, in Verwaltungsräten und Provinzparlamenten kann es nach wie vor zum »Köpferollen« kommen, und weiterhin »funkt es« eben, wenn sich zwei Zeitgenossen plötzlich verstehen. – Krys berichtet via iPhone aus Abu Dhabi, wo sie an diesem Wochenende – gesponsert von ihrem Bruder, der dort seinen Firmensitz hat, ein kleines Familientreffen absolviert; im Gepäck … auf dem Nachttisch im Hyatt’s habe sie mein ›Geballtes Schweigen‹. Gedichte in Pillenform! Schlafmittel? Fitmacher! – Wir fahren nach Stony Point (oder Stony Land) hinaus, wir, das sind einige frühere Schulkollegen und ich, fahren, das heißt wir sind mit verschiedenen Autos auf schwierigen Routen unterwegs – Schotterstraßen, Spitzkehren, Baustellen, plötzlich auslaufende Highways in abgelegenen Gegenden. Geplant ist ein stressfreies Treffen in klösterlicher Einsamkeit. Wir sind Gäste in einem tschechischen Kloster: biederer Backsteinbau, stickige Innenräume, winzige Gästezellen, unwirtliches Refektorium. Beim gemeinsamen Essen stellt sich heraus, dass das Männerkloster auch drei Frauen beherbergt. Die Frauen – alle in den Dreißigern, alle recht unansehnlich, aber wissenschaftlich ambitioniert und offen im Gespräch – bewohnen, im Unterschied zu uns, eigens für sie eingerichtete luxuriöse Suiten. Eine von ihnen ist Krys, die mit ihren kleinen Töchtern ein Appartement mit Blumentapete bewohnt, wo ich sie nach Mitternacht besuche. Doch der Trubel ist zu groß, um mit ihr zu reden oder zu schlafen. Tatsächlich taucht nun unerwartet der Kollege Wunderlich auf, der sein ganzes Seminar mitbringt, sich sofort breit macht, mich zur Tür drängt, mich beschimpft und verhöhnt. Ich kann mich nicht behaupten gegen die Übermacht der Eindringlinge, ziehe mich, Krys vor mir herschiebend, in die Eingangshalle zurück, draußen wartet schon der Reisecar, man kämpft gesittet um die verbleibenden Sitzplätze. Ich verabschiede mich von Krys, steige als Letzter ein, nur der Fahrersitz ist noch frei. Als ich den Motor anlasse, gibt es Applaus, aber auch einige böse Pfiffe, und tatsächlich will die kurvenreiche Rückfahrt nicht enden.

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