Dionisis Karatzas: Selbstmord des Reservemonats

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dionisis Karatzas: Selbstmord des Reservemonats

Karatzas/Wendisch-Selbstmord des Reservemonats

DIE BITTERKEIT DER KONSONANTEN

Bedacht sprachst du aus was du entschieden
mit Lippenlauten voller Empörung,
aaaaamit nasalen Lauten der Verweigerung
und gaumenfeuchten Abschiedsworten.
Auf welche Zähne reduzierst du
mein wäßriges Schweigen?
Du hörst immer auf beim Sigma
auf das Lichtes und Winterliches enden.

Du verschärfst die Trennlaute und übersetzt
die Lippenunmöglichkeiten in solche der Nase, das fürcht ich
und gaumenfeucht will ich dich.
Mein speichelnasses Zischen
unterscheidest du von welchem deiner Symptome
aaaaafür Zahnschmerz?
Du hörst immer auf beim Sigma
auf das Lichtes und Winterliches enden.

 

 

 

Trialog über Dionisis Karatzas,

der 1950 in Patras geboren wurde. Er studierte an der Philosophischen Fakultät der Athener Universität und begann seine berufliche Laufbahn als Lehrer. Dionisis Karatzas war an verschiedenen Oberschulen der Peloponnes tätig. Heute ist er Stellvertretender Direktor eines Gymnasiums in Patras. Seinen Einstieg in die griechische Literaturszene hatte er 1972 mit dem Lyrikband Tagesanbruch auf Erden. Seitdem publizierte Dionisis Karatzas mehrere Gedichtbände, und längst gilt seine Poesie in der Literaturlandschaft seiner Heimat als unverkennbar. Zur Zusammenarbeit mit dem Komponisten Mikis Theodorakis kam es daher nicht zufällig. Theodorakis hat mehrere der Gedichtzyklen von Dionisis Karatzas vertont („Gesichter der Sonne“, „Wie ein antiker Wind“). Darauf folgten Projekte mit anderen Komponisten wie z.B. mit Ilias Adrianopoulos und zuletzt mit Giorgos Andreou. Dem deutschen Publikum sind Gedichte von Dionisis Karatzas bereits bekannt durch den Liederzyklus „Poetica“ von Mikis Theodorakis, gesungen von Maria Farantouri.

… hier passiert Meer
Je öfter ich die Gedichte von Dionisis Karatzas las, desto rätselhafter wurden sie mir, wurden zu einer merkwürdigen „Angelegenheit“, zu einer Sache für sich, wurden Ding, Geschichte, wurden zu seltsamen Augenblicken. Diese Gedichte machten mehrere Stadien durch, meinte ich, bis mir klar wurde, dass ich es war, die diese Metamorphosen vollzog.
Zuerst war mir, als hätte ich einen einzigen langen Text gelesen, später, als seien es zwanzig verschiedene zu immer dem gleichen Thema, und noch später, als würden beinahe jedes Mal die gleichen Worte benutzt, um damit immer wieder etwas anderes zu sagen. So als hätte jemand Karatzas eine Grundausstattung für dessen poetische Unternehmungen ausgehändigt, mit der Bemerkung: Damit musst du auskommen und nun kannst du loslegen. Himmel, Wasser, Herz, Blick, Traum. Und, falls die Kraft dafür noch reicht: Wind, Licht, Tod, Inseln plus einige Mikrogramm Undsoweiter, falls du eine Schwäche dafür haben solltest. In fast jedem dieser Gedichte: Wasser, hauptsächlich salziges, wenn ich mich recht entsinne. Und weil es Gedichte eines Griechen sind, der noch dazu in einer Stadt am Meer wohnt, drängte sich mir die Frage auf: Wie könnte es auch anders sein?
Es brauchte eine ganze Weile, bis ich wusste, dass diese Poesie unspektakulär ist, im besten Sinne des Wortes. Eingedenk der fliegenden Händler, des Hafenbetriebs, des Durchgangsstationsnaturells des Ortes, aus dem Karatzas sich nicht weg zu bewegen, sondern im Gegenteil: an dem er geradezu auszuharren scheint, eingedenk der vielen Wege, auf denen man in diese Stadt hineinkommen und sich von ihr wieder entfernen kann, eingedenk auch des vielen Lärms, der sich dabei erzeugen lässt, wirkte es auf mich phänomenal, dass Karatzas schreibt, als sei er irgendwo lebenslang im Urlaub und habe die Welt um sich her vergessen, die Sensationen, das Gedränge, den Höllenlärm, womöglich selbst zwei Drittel des Periodensystems der Elemente. Von Hitze kein Wort. Eher von Winter und Regen.
Wohnte er in einer Stadt an einem fließenden Gewässer, dann würde man vielleicht sagen: Nun gut, niemand schreibt zweimal über den gleichen Fluss. Doch weshalb sollte dieses Prinzip nicht auch für die Auseinandersetzung mit dem Meer gelten?
Karatzas ist jemand, der beständig über den Wandel reflektiert, die Unbeständigkeit der Erscheinungen und Beziehungen. Wieder und wieder. Meermals. Viel Wasser, wenig Erde, oft Wind, Verzicht auf Flugzeuge, Herbeibemühen des Himmels. Wenig City wird verlangt. Landarbeiter nennt Karatzas sich, und an dieser Stelle war mir beim Lesen, als wäre Feigenbaumholz zu riechen gewesen und Seegrasfeuer. Den Dichter sah ich – Wassermann auf freiem Feld. Kein Supermarkt weit und breit, kein Postamt, größere Wohngemeinschaften glänzten durch Abwesenheit. Nur er und seine Freundin, die ihn ab und zu am langen Arm verrecken ließ, ihn an der langen Leine führte, auf Abstand hielt, dann aber plötzlich an sich riss und um den kleinen Finger wickelte, mit Worten überhäufte, mit der Zunge schnalzte und ihn gesprächsfügig machte. Manchmal band sie die Leine irgendwo an und ging schwimmen, Ertrinken spielen, zog die Aufmerksamkeit des Dichters mit sich in die Untiefe, machte sie zu ihrer Rettung, wurde Gegenspieler ihrer selbst, wurde seine Gegenwart, sein Wortschatz, silbenreicher Ansturm, der dem Dichter in den Ohren lag, jähes Verstummen, schwacher Vers, flacher Atem, hoher Mut, Über Unter Durch. Ein beständiges Annähern und Entfernen, der Rhythmus des Meeres, verinnerlicht, ein Schürfen und Seufzen, Aufschrecken, Einschläfern, das durchzieht diese Gedichte.
Im Gegensatz zum Wasser des Flusses hat das des Meeres die Eigenschaft, in Wellen zurückzurollen, die Flaschenpost, in die man die Botschaft steckte, wieder ans Ufer zu werfen. Karatzas ist imstande, anstatt darüber zu verzweifeln, dies als Aufforderung zu verstehen: die Flasche öffnen, die Botschaft mit eigenen Augen nochmals lesen, mit anderen Augen, wie man inzwischen wissen kann, sie umschreiben, zerreißen, hinunter schlucken, vergessen, erinnern, die Flasche mit Atemwind meerseufzen machen, sie in Papier wickeln, eingraben, aus dem Blick verlieren, von jemand anderem finden, ausgraben lassen, auf diese Flasche und dieses Stück Land als seinem Eigenem bestehen, auf beides verzichten, beides in sich wissend, schwimmend unter dem Himmel gehen, da dieser sich selten spiegelt im Meer. Ja, der Herr Karatzas, er kommt mir allmählich wie ein Flaschenteufel vor, der seine Gedichte doch niemals zu Meerchen werden lassen wird. In allen Wassern ist er zuhause, gewaschen und getränkt sind seine Verse mit dem Nass der FIüsse und Seen, des Himmels, der Augen, Brunnen, Tümpel, Becken, bis die Farben sich aus ihnen lösten, bis sie ausbluteten, bis die Verse schwarz zu werden begannen und die Farben sich in sie stürzten.
Man legt diese Zeilen beiseite, vergräbt sie unter denen anderer Dichter, und dann sind sie plötzlich wieder da, in ihrer soundsovielten Verkörperung – lärmend, aufgeheizt, penetrant, mit starkem Eigengeruch, Geburtsschweiß einer Stadt, der gegenüber das Meer sich seit ewiger Zeit vergeblich zu verschließen sucht. Und eine Flasche liegt auf dem Boden und das Meer wird weiter untergraben und erntefrisch zerredet. Dionisis Karatzas will nichts wissen von Rettung. Immer bleibt er und immer nimmt eine wie Calypso Reißaus.

Ina Kutulas, Herbst 2005

… hier passiert Musik
Ich schätze und bewundere Dionisis Karatzas, was sich auch in meiner umfangreichen Zusammenarbeit mit ihm zeigt: „Die Gesichter der Sonne“, „Beatrice“, „Gleich einem antiken Wind“, „Die lyrischsten Lieder“. Vier auf Gedichten von Dionisis Karatzas basierende Liederzyklen, die die Hinwendung meiner Musik zum lyrischen Leben bedeuten, also des Lyrismus’ absolute Herrschaft über mein Denken, mein Leben und mein Werk.
Dabei half mir die Art und Weise, mit der Karatzas dem dichterischen Wort begegnet: seine Poesie ist voller überraschender Bilder und Bedeutungsinhalte, die direkt zum Wesen einer idealen Welt hinführen, der der lyrische Extrakt des Lebens immanent ist.
Mein Versuch, den Klang dieser vielfarbigen Sensibilität einzufangen und hörbar zu machen, ließ mich zu neuen melodischen und harmonischen – horizontalen wie vertikalen – Ausdrucksweisen finden und offenbarte damit ein völlig anderes Gesicht meiner Musik, ein mir selbst bis dahin verborgen gebliebenes, was den fundamentalen Einfluss des Wortes auf die Musik beweist.
Aus all diesen Gründen möchte ich Asteris Kutulas dazu beglückwünschen, dass er den Versuch gewagt hat, das deutschsprachige Publikum mit diesem herausragenden Repräsentanten der neueren griechischen Dichtung bekannt zu machen, ein Autor, der – trotz der Unkenrufe über den Verfall der modernen Kunst den Beweis antritt, dass die wahrhaftige Dichtung immer existiert, um die Befindlichkeit des wahrhaftigen Menschen, der voranschreitet, auszudrücken, zumal der Ozean der Gefühle, der in ihm wogt, stets geheimnisvoll und unerforschlich ist und bleiben wird.

Mikis Theodorakis, 12.9.2005

… hier passiert Sonne
Als ich zum ersten Mal Gedichte von Dionisis Karatzas las, dachte ich, mit dieser, seiner poetischen Welt hätte die meine nichts zu tun. Zu weit entfernt schien mir die erfrischende Meeresbrise seiner Patras-Landschaft von meinem wolkenverhangenen Prenzlauer Berg. Nicht, dass mich seine Lyrik nicht berührt hätte, aber ich nahm sie nicht wahr als „Kunstwelt“. Bis ich herausfand, dass Karatzas es damit ernst meinte: Für ihn war es nicht nur eine Kunstwelt, sondern ein von ihm gelebter „Kosmos“. Diese Erkenntnis offenbarte mir schlagartig neue Einzelheiten, bis dahin wie hinter einem Berg, vielleicht dem Prenzlauer Berg, verborgene, über den ich erst hatte steigen müssen, mich hinwegsetzen über meine literarischen Vorlieben. Trotz ihrer blendenden Helle nahm ich mit einem Mal die Tiefe seiner Bilder wahr, sah ich den Dichter hinabtauchen zum Grund der menschlichen Seele.
Dionisis Karatzas ist ein See-Reisender, er sitzt in seinem Haus in Patras, schaut auf das Ionische Meer und schickt seinen Geist auf Expeditionen. Sein Erfahlrungsschatz, den er dabei sammelt, besteht aus WORTEN. Aus sonst nichts. An jedem Werktag geht Karatzas morgens in die Schule und lehrt griechische Literatur. Auch diese, seine berufliche Mission besteht im Dienst an den Worten, bei dem er sich übt in Respekt vor ihnen und ihrer Wirkung. Wie ein mediterraner J.S. Bach widmet er sich, fast nie seine Heimatstadt Parras verlassend, der „Kunst des Wortes“.
Es ist ein eigenwilliges, flutendes Allseitsgriechenland, in das Karatzas mich hinüber lockt, sehr verschieden von meiner zweiten, weiter nördlichen Heimat, in der ich jetzt lebe. Schlafwandelnd ging ich vielleicht schon oft durch die des Dionisis Karatzas. Sie ließ Eros in mir aufschrecken und etwas wachküssen: des Liebesgottes erschreckend jungenhaftes Spiegelbild, das eines Frauenverführers und Kleinmädchenverwirrers, eines Herzerfrischers und Nacktbaders, der dem Papiertiger und Bürohengst Paroli zu bieten vermag und sie aussöhnt mit mir als dem Süßwassergriechen und Grauhimmelberliner, der ich geworden bin, dass ich daran nicht kranken muss.
Die Uhr in meinem Herzen hab ich eingetauscht gegen einen Kompass, dessen Nadelstich mich versöhnlich stimmt bezüglich meiner kühlen Bergbewohnergelüste. In Patras regnet es nun fast das ganze Jahr, möchte ich meinen, und Dionisis Karatzas beginnt sein Ortsgespräch mit der Wasseruhr. Oder war es ein anderer Dichter, der aus den Bergen herabstieg, ans Meer kam und sich erinnerte, dass manches Sprechen Speichelspritzer erzeugt. Landsmann, sei mir gegrüßt, lass deine Schüler Meerdiktate schreiben!

Asteris Kutulas, 11.12.2009

Ein erhabener Unspektakulärer

Die Wege, die mich als Leser zur griechischen Poesie führten, waren vorgezeichnet: von den tiefen Spuren eines Jannis Ritsos, Odisseas Elitis, Konstantinos Kavafis. Von Kavafis hörte ich erst recht spät, als ein Athener Freund mir dessen Gedicht „Warten auf die Barbaren“ – das ich auch als handschriftliches Manuskript zu sehen bekam – zu lesen gab.
Was ich damals nicht wusste: dass ein deutscher Übersetzer des von mir verehrten Jannis Ritsos in Dresden lebte; oder zumindest hin und wieder nach Dresden kam, etwa, um die von ihm edierte Untergrund-Zeitschrift Bizarre Städte vorzustellen. Asteris Kutulas ist, zusammen mit seiner Frau Ina, auch der Übersetzer von Dionisis Karatzas, der im deutschsprachigen Raum jetzt seinen Auftritt haben wird. In der kleinen Dresdener „Edition Raute“ erscheinen unter dem Titel Selbstmord des Reservemonats erstmals Gedichte dieses noch wenig bekannten Griechen, der in seinem Land indes gar nicht so unbekannt ist. Der Komponist Mikis Theodorakis hat vier Liederzyklen nach Gedichten von Karatzas geschaffen (z. B. „Poetica“, gesungen von Maria Farantouri) und in einem Geleitwort für die Raute-Edition diese Poesie für ihre „überraschenden Bilder und Bedeutungsinhalte“ gelobt.
Es ist in der deutschsprachigen Lyrik (und von deutschsprachigen Lyrikern) viel vom Erhabenen gesprochen worden; aber erst wenn ich die Gedichte von Karatzas jetzt lese, glaube ich zu ahnen, was damit gemeint sein könnte.
Der polnische Lyriker Adam Zagajewski ist der Ansicht, dass wir heute in einer „zweiten Wirklichkeit“ leben und die Poesie die Aufgabe habe, „die erste, die eigentliche Wirklichkeit wiederzufinden“.
Wenn ich nun diese Gedichte lese, ist jenes Du, an das sie fast ausnahmslos gerichtet sind, zunächst das einzige Vergängliche, Heutige, Alltägliche in ihnen. Alles andere erscheint groß, unendlich, zeitenthoben. Die Berge, das Meer, Sonne und Mond, die Nacht und der „harsche Nordwind“, alles Dinge, die uns überleben werden.
Asteris Kutulas sagt über Karatzas, er habe anfangs den Eindruck gehabt, dessen poetische Welt habe mit seiner nicht viel zu tun. Mir erging es ähnlich. Doch dann ist plötzlich mitten in dieser arkadischen Welt vom Zahnschmerz die Rede („Die Bitterkeit der Konsonanten“) und von Kindern, die „Träume schälen auf den Straßen / mit des Regens Spielzeug“, von „Lippenunmöglichkeiten“ und dem 18. Buchstaben im griechischen Alphabet, dem Sigma. Den ganz alltäglichen, wunderlichen Dingen, die ebenso Teil des poetischen Kosmos dieses Dichters sind, wie dessen Vision der Schönheit, die ihn „vom Dunkel ins Licht / vom Schweigen ins Wort“ führt.
Blicke können bei Karatzas „in grüner Nacht verbraucht“ werden oder sich „glitzernd / auf nichtsnutzigen Göttern“ niederschlagen wie Tropfen – und immer wieder ist von der Liebe die Rede, ihrem „harschen Rhythmus“, ihrer „ätzenden Herbheit“.
Ina Kutulas nennt die Gedichte des 1950 geborenen Dionisis Karatzas „unspektakulär im besten Sinne des Wortes“, aber sie habe doch „eine ganze Weile“ gebraucht, um darauf zu kommen. Vielleicht also ist dieser Dichter zu gleichen Teilen ein Sänger des Erhabenen und ein großer Unspektakulärer; das eine gerade erst wegen des anderen? Einen „Landarbeiter der See“ nennt Karatzas sich selbst, der heute in der quirligen peloponnesischen Hafenstadt Patras lebt und als stellvertretender Direktor an einem Gymnasium angestellt ist.

Volker Sielaff, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 193, März 2010

 

 

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