Egon Schwarz: Zu Christian Morgensterns Gedicht „Anto-logie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christian Morgensterns Gedicht „Anto-logie“ aus Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder. –

 

 

 

 

CHRISTIAN MORGENSTERN

Anto-logie

Im Anfang lebte, wie bekannt,
als größter Säuger der Gig-ant.

Wobei gig eine Zahl ist, die
es nicht mehr gibt, – so groß war sie!

Doch jene Größe schwand wie Rauch.
Zeit gab’s genug – und Zahlen auch.

Bis eines Tags, ein winzig Ding,
der Zwölef-ant das Reich empfing.

Wo blieb sein Reich? Wo blieb er selb?
Sein Bein wird im Museum gelb.

Zwar gab die gütige Natur
den Elef-anten uns dafur.

Doch ach, der Pulverpavian,
der Mensch voll Gier nach seinem Zahn,

erschießt ihn, statt ihm Zeit zu lassen,
zum Zehen-anten zu verblassen.

O „Klub zum Schutz der wilden Tiere“,
hilf, daß der Mensch nicht ruiniere

die Sprossen dieser Riesenleiter,
die stets noch weiter führt und weiter!

Wie dankbar wird der Ant dir sein,
läßt du ihn wachsen und gedeihn, –

bis er dereinst im Nebel hinten
als Nulel-ant wird stumm verschwinden.

 

Die Suche nach Sinn

Die Philologie ist in mehr als einem Sinn eine brotlose Kunst, auch in dem Sinn, daß selbst Philologen in Amt und Würden oft ratlos sind, wie sie mit ihrem Beruf dieser poesielosen Welt dienen können. Hier hilft aber vielleicht die Besinnung auf den ursprünglichen Wortsinn, denn Philologie heißt ja nichts weiter als Liebe zum Logos, Dienst am Wort, und es scheint mir nicht der schlechteste Sinn dieser Tätigkeit zu sein, Dichtungen, die unsere Vorfahren entzückt haben, der reißenden Zeit ein wenig länger zu entreißen.
Zu deren intensivsten Freuden gehörten aber die Unsinn-Dichtungen Christian Morgensterns, und wir können dem Wort nicht besser dienen, als indem wir den Sinn in diesem Unsinn aufstöbern. Das Gedicht „Anto-logie“ eignet sich besonders gut dafür, weil sich an ihm deutlich machen läßt, wie der schöpferische Poet aus Nichts etwas, in Hofmannsthals Formulierung „aus niedrigen Erden Gold“ zu machen versteht.
Zugrunde liegt eine unerwartete Gegenüberstellung, nämlich der beiden heterogenen Begriffe „Gigant“ und „Elefant“. Sinn aber, und vor allem poetischer Sinn, entsteht dort, wo zwei scheinbar disparate Erscheinungen in überzeugender Weise miteinander verbunden werden. An dieser Stelle setzt auch Morgensterns dichterisches Genie an, sein philologisches Gehirn beginnt zu kreisen, und wie in einer sich drehenden Elektrisiermaschine die zackigen Blitze von einem Pol zum anderen knattern, so spinnen seine Geistesblitze ein Netz von Sinn zwischen den beiden Wörtern: Der gemeinsame Bestandteil „Ant“ wird zum Urtier, „Elef “, leicht retuschiert, zur Zahl, und in Analogie zu dem schon Geleisteten wird „gig“ zur Urzahl. Bei dieser Erzeugung von neuem Sinn wird allerdings der alte Sinn von „Gigant“ verdrängt. Daß das aber nicht ganz gelingen kann, daß die alte Bedeutung immer noch ein wenig mitklingt, ist ein Teil unseres Amüsements. Jetzt ist es einfach, die dazwischenliegenden und weiterführenden Stufen, das, was in der hier vorwaltenden Mischung von Witz und kosmischer Phantasie zu den „Sprossen einer Riesenleiter“ umgedeutet wird, mit weiteren, diesmal ganz geläufigen und banalen Zahlen zu besetzen, freilich in gewollt alberner Nachahmung der überflüssigen Silbe zu „zwölef“, „zehen“ und „nulel“ erweitert.
Das Gerüst ist fertig und nun muß zum eigentlichen poetischen Geschäft, zur Ausführung geschritten werden. Ideen sind nämlich, wie ein anderer Dichter, Grillparzer, gesagt hat, wohlfeil. Da ist aber keine Gefahr, Morgenstern hat, was sein geistesverwandter Kollege Erich Kästner „Musik im Bauch“ genannt hat. In unscheinbaren, aber ungemein suggestiven und melodisch-rhythmischen Knittelversen wird nun der Weg von „gig“ zu „null“ zurückgelegt.
Auch bei dieser Klangarbeit bleibt der Dichter seinem Gesetz des Absurden treu, indem er neben den vielen perfekten und teilweise originellen Versen den Reim Natur/dafur nicht scheut. Dadurch, daß die ganze groteske Evolution einen gelehrt naturgeschichtlichen, ja musealen Anstrich bekommt, erreicht der Dichter dreierlei: Dem Gedicht wird eine intellektuelle Einheit aufgezwungen, diese wird auf den Menschen bezogen und, was eben noch amüsanter Einfall, unverbindliches Spiel war, verwandelt sich in rationale Mitteilung.
Vielleicht bedarf es gewisser moderner Erfahrungen, um den Ernst, ja den Pessimismus dieser Botschaft zu spüren, um die erschreckende Aktualität des Gedichtes zu erkennen. Denn die „Evolution“ ist ja eine unzweifelhaft verkehrte, rückläufige. Sie führt nicht zum überleben der Fähigsten, sondern von der unermeßlichen Größe des „gig“ zur Null. Was immerhin nach menschlichen Maßstäben ein gewaltiges Geschöpf ist, der Elefant, wird im Fortschreiten dieser anti-darwinistischen Reihe zu einer quantité negligeable reduziert, noch geringfügiger als sein bedeutenderer Vorgänger, der Zwölefant, der selbst nur mehr „ein winzig Ding“ war. Und in diesen erhabenen Gang der Natur greift der Mensch als gewalttätiges, affenartiges Wesen ein, aber bloß, um den Ruin zu beschleunigen. Eine drastischere Bezeichnung als die hochironische „Pulverpavian“ für die wohlbekannte, waffenschwingende Bestie, deren tölpelhafte Zerstörungswut den Fortbestand der Welt gefährdet, könnte auch ein heutiger umweltbewußter Dichter nicht erfunden haben.
Ist das wirklich noch der Unsinn, auf den der Leser der Galgenlieder Anspruch zu haben glaubt oder ist das bereits der halb beabsichtigte, halb unwillkürliche Tiefsinn jeder großen Poesie? Ich gebe mich mit der Vokabel „Unsinn“ zufrieden, aber nur, wenn wir ihr die gleiche Doppelbedeutung zubilligen, die auch das Wort „Untiefe“ befähigt, unentschlossen zwischen der Oberfläche und den unauslotbaren Abgründen des Weltmeeres zu schweben.

Egon Schwarzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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