Eugen Gomringer und Peter von Matt: Zu Eugen Gomringers Gedicht „ODE an ZÜRI“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Gedicht „ODE an ZÜRI“. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

ODE an ZÜRI

odei
nhun
dert
zeic
hena
nzür
izwi
ngli
füss
ligo
ethe
jung
yoga
joyc
efoe
hnut
otok
yohö
nggd
adao
deon
rämi
str.
baur
aula

 

ODE an ZÜRI

mit der ode an züri wollte ich meiner vater-
stadt ein loblied widmen. ich bin davon
ausgegangen, dass „züri“ unvergleichlich
in mundart den charakter der stadt ein-
fängt. es ist das „i“ am wortende – auch
sonst als diminutiv ein typisches merkmal
der zürcher mundart –, das leitend durch
das loblied führen soll. warum ich auf die
zahl 100 für den umfang der ode gekom-
men bin, weiss ich nicht. ich nehme aber
an, dass ich eben eine runde zahl wollte.

Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018

Der Schweizer Indianer

Er ist der Letzte von den grossen Gründergestalten unserer Nachkriegsmoderne, und er sitzt so vergnügt und hellwach da, als hätte er eben einen Preis für seinen Erstling erhalten. Er ist ein Schweizer und ein Indianer und ist im Urwald geboren und wuchs in Zürich auf und lebt in Deutschland und wird gefeiert rund um die Welt. Wie bei allen Köpfen, die das Mittelmass übersteigen, wissen die meisten Schweizer nicht, was sie an ihm haben, und das geschieht ihnen recht. Ignoranz bestraft sich selbst. Sie tut es aber auf humane Art; man merkt nichts davon.
Es gibt die Geschichte von seiner Begegnung mit einer andern grossen Gründergestalt, Friedrich Dürrenmatt. Gomringer hatte ein Feeling für die eigentümliche Phantasie des Dramatikers und erzählte ihm, sein Bruder sei in Bolivien von einer Schlange gefressen worden. Das machte Dürrenmatt auf der Stelle produktiv; er witterte ein Geheimnis und stellte die Theorie auf, dass nicht der Bruder von der Schlange gefressen worden sei, sondern Eugen Gomringer selbst, und der Bruder habe daraufhin die Namen getauscht. Genau wegen dieser anrüchigen Operation aber sei der Mann später zur Entdeckung gelangt, dass man als Künstler auch Wörter tauschen und verschieben und neu kombinieren könne. So sei die konkrete Poesie entstanden – eine Frucht des schlechten Gewissens. Cornelius Schnauber, ein Augenzeuge, berichtet, dass Dürrenmatt damals ernsthaft an eine literarische Gestaltung des Geschehens gedacht habe.
Den Bruder gab es nicht. Eugen Gomringer ist immer noch das Original. Aber die konkrete Poesie gibt es und auch die eigentümliche Kreativität ihres Erfinders. Um dieser näher zu kommen, ist die exotische Anekdote aufschlussreich. Wenn man von der konkreten Poesie und ihrer Geschichte wenig weiss, könnte man denken, die Konkreten seien phantasiearme Bastler, die mit den Wörtern umgehen wie Buben mit ihrem Baukasten. Wo uns doch richtige Dichtung angeblich schon mit dem ersten Vers vom Stuhl hebt. Aber erstens sind die Buben mit ihrem Baukasten keineswegs phantasiearm, und zweitens hat Eugen Gomringer mit seiner Bruder-Geschichte aus dem Stegreif eine Fabel von lapidarer und unerschöpflicher Plastizität geschaffen. Er hätte also auch ein bunter Erzähler werden können, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte. Und tatsächlich ist es so, dass seine KONSTELLATIONEN, wie er die Gedichte von Anfang an nannte, eine Tiefendimension haben, die an uralte lyrische Formen gemahnt, solche, bei denen die höchste Verknappung ebenfalls mit einer bedrängenden Komplexität zusammengeht – das japanische Haiku zum Beispiel oder die Zweizeiler des Angelus Silesius aus dem 17. Jahrhundert. Man sieht es ihnen allen nicht auf den ersten Blick an. Eher hält man sie zunächst für Kuriositäten. Erst wenn man sie länger betrachtet, öffnet sich ihre dritte Dimension.
Betrachtung ist ein kostbares Wort der deutschen Sprache. Es meint sowohl das Anschauen einer Sache als auch die Meditation darüber. Und tatsächlich gerät man beim ruhigen Betrachten von Gomringers KONSTELLATIONEN in ein Meditieren, das bald den Intellekt beschäftigt, bald wieder Herz und Zwerchfell. Es ist dies ein im Sinne Nietzsches fröhliches Geschäft. Wie dieser von einer „Fröhlichen Wissenschaft“ gesprochen hat, könnte man bei Gomringer von einer „Fröhlichen Meditation“ sprechen – wobei es hier wie dort um eine sehr ernsthafte Tätigkeit geht. Jeder kommt anderswohin, aber jedem geht etwas auf dabei.
In einem berühmten theoretischen Text von 1955 hat Gomringer auf die Etymologie des Wortes ,Konstellation‘ hingewiesen, auf den Kernbegriff ,stella‘, der Stern. Dieser wird durch das ,con‘ / ,cum‘ dynamisch und meint nun ein Zusammenfinden von Sternen, zu Deutsch also, wenn ich es so sagen darf, eine Zusammensternung. Die Zusammensternung gibt es in unserer Sprache leider nicht, aber in Gomringers Texten können wir sie erleben.
Vor 58 Jahren, 1957, sass ich in einer Klosterschule tief in der Innerschweiz. Der Deutschlehrer war ein frommer Kapuziner, aber auch ein fulminanter Kenner der Literatur, ein Appenzeller, nicht viel höher als ein Stuhl, und der schrieb nun eines Tages dies an unsere Wandtafel:

schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen

Das sei ein ganz modernes Gedicht, sagte der Lehrer, und er erklärte es uns. Wie er das tat, weiss ich nicht mehr. Wir waren zuerst verblüfft, dann fasziniert. Seither ist mir Eugen Gomringer ein Begriff, und ich habe immer auf alles geachtet, was mit ihm zu tun hatte, und dass ich ihn vor ein paar Jahren unerwartet persönlich kennenlernen durfte, hat mir das Herz gewärmt. Da stand mir altem Mann plötzlich eine Jugenderinnerung leibhaftig gegenüber.
Die Konstellation SCHWEIGEN gehört zu seinen berühmtesten; keine Literaturgeschichte kommt um sie herum. Sie ist ein Klassiker wie Der Besuch der alten Dame oder Stiller. Der Ruhm hat seinen guten Grund. Denn wir können vor diesem Text an uns selbst verfolgen, wie die Betrachtung vom Anschauen ins Meditieren hinübergleitet. Da ist zunächst ein Paradox, wie in vielen mystischen oder okkulten Texten. Wer schweigen sagt, der schweigt ja gerade nicht. Im Gegenteil, das Gedicht dröhnt förmlich von diesem Wort. Nur in der Mitte, in der Leere, kann das Gebilde, indem es nichts sagt, sagen, was es sagen möchte. Hier ist es totenstill. Auch das Weiss dieser Leere ist eine Spur weisser als das Weiss um das Gedicht herum. Unsere Augen verstärken den imaginären akustischen Prozess. Dieser leere Raum beginnt in der Betrachtung zu vibrieren. Die Öffnung eröffnet etwas. Lautlose Epiphanie. Es ist schwer, darüber zu reden.
Das ist Literatur und bildende Kunst zugleich, Gedicht als Gebilde. Gomringer weiss, in welcher Tradition er damit steht. Die Buchstaben haben immer schon versucht, in die Bilder zu gelangen, selbst zu Bildern zu werden. Mit Mallarmé und Marinetti geschah der Durchbruch; Hugo Ball, Hans Arp, Kurt Schwitters führten es weiter, gleichzeitig mit Apollinaires „Calligrammes“. In Paul Klees Gemälde „Villa R“, im Basler Kunstmuseum, wird der Buchstabe im Bild triumphal. Der Faschismus schüttete das alles zu. Als das dumpfe Gebrüll der Diktatoren vorbei war, gab es einen grossen Hunger nach einer neuen Klarheit. Die Präzision der Mathematik sollte sich mit der Freiheit der spielenden Hand verbinden. Hier setzte Gomringer ein. Er hatte seine Lebensarbeit gefunden.
Wir sind in Zürich. Gomringers ODE AN ZÜRI müsste in dieser Stadt eigentlich jedes Kind kennen, tut es aber nicht. Die unverbundenen Buchstaben fügen sich in dieser Konstellation frei zu einer schlanken Stele, und es zeigt sich, dass sie wie nebenhin auch noch Wörter bilden. Aus diesen erscheint vor jedem Betrachter eine andere Vision der Stadt. Man sollte die Stele am Bellevue aufstellen. Sie ist schön und witzig. Man beachte insbesondere den kostbaren Punkt in der drittletzten Zeile. Die Stele hat dort eine Scherbe ab. Wahrscheinlich vom Verkehr auf der Rämistrasse.

ode
a3

odei
nhun
dert
zeic
hena
nzür
izwi
ngli
füss
ligo
ethe
jung
yoga
joyc
efoe
hnut
otok
yohö
nggd
adao
deon
rämi
str.
baur
aula

In meiner Vorlesung über „DADA in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ bin ich jeweils am Schluss auf Gomringer zu sprechen gekommen und auf diese Ode. Ich wies darauf hin, dass die konkrete Poesie auch eine prophetische Dimension besitze. Die Vorlesung fand nämlich in der Aula der Universität statt. Obwohl der Dichter nicht wissen konnte, dass seine Ode einmal dort gelesen und erläutert werden würde, habe er, sagte ich, aus einer geisterhaften Ahnung heraus sein Gedicht mit dem Namen dieses Raums beschlossen, so dass die Studierenden mitsamt dem Professor schon jahrelang ein Teil des Werks gewesen seien, bevor sie sich zum Nachdenken darüber in der Aula versammelt hätten. Die Studierenden haben es mir leider nicht geglaubt. Bei Gomringer, dem Propheten, könnte ich es mir vorstellen.

Peter von Matt, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018

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