Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Die …

Aufs Wort (genau) – Teil 31

 

Teil 30 siehe hier

Die assonantische Entfaltung von Einzelwörtern haben mit besonderem Elan Michel Leiris und Georges Perec ins Werk gesetzt. Leiris hat damit über viele Jahre hin seine Methode des Glossierens angewandt und verfeinert, ausgehend vom surrealistisch inspirierten «Glossaire j’y serre mes gloses» (1939; etwa: Glossar grosse Wortschar rare Rose) über «Bagatelles végétales» (1956; Vegetalbagatellen) bis zu «Langage tangage» (1985; etwa: Sprachschwank).
Als «Wörter ohne Gedächtnis» bezeichnete Leiris die von ihm glossierten Vokabeln, mithin als Wörter ohne konventionellen Bedeutungshintergrund, die durch verschiedenartige Manipulationen (Anagramm-, Palindrom-, Assonanzbildung usf.) in gänzlich andere Zusammenhänge übergeführt werden: WAGON – boîte où l’on vague (erweitertes Anagramm; Waggon, wörtlich: Schachtel zum Streunen); THÉORÈME – la mort m’est restée (Theorem, wörtlich: blieb mir der Tod); DÉTRESSE – trop terrestre déesse (Ungemach, wörtlich: allzu irdische Göttin); DIEU – hideux (Gott: Scheusal); DESTINÉE – si tôt dessinée (Schicksal – so früh schon vorgezeichnet). Usf.
Wenn Leiris seine späten Wortarbeiten kommentiert als das, «was die Wörter mir sagen», ist dies sicherlich zutreffender als die ursprüngliche Definition der «Wörter ohne Gedächtnis», da hier ja buchstäblich Wörter durch ihre lautliche Transformation «zum Sprechen» gebracht werden.
Unter den zahlreichen Schreibtechniken von Georges Perec verdient an dieser Stelle ein Projekt besondere Beachtung. Es handelt sich dabei um seine «heterogrammatischen» Elfzeiler (onzains), die aus strengen buchstäblichen beziehungsweise lautlichen Vorgaben zu kleinformatigen Klangteppichen entfaltet werden («Alphabets», 1976). Darin kehren bestimmte Phoneme in ständig sich verändernder Konstellation wieder: Anagrammatik und Phonetik werden ingeniös verschränkt, jede Zeile besteht aus dem immer gleichen, aber jedes Mal neu zusammengesetzten Buchstaben- beziehungsweise Silbenbestand, und alles fügt sich autopoetisch zum Gedicht. Auch in diesem Fall fungiert das Einzelwort kraft seiner Lautlichkeit als Generator eines expandierenden Texts.
Übersetzbar sind Perecs Wortgebilde nicht, beschreibbar nur annäherungsweise. Da es aber nicht um deren Bedeutung und Verständnis geht, vielmehr darum, sie als Klangereignisse wahrzunehmen, mag die französische Originalfassung eines der Gedichte als Beispiel genügen und als solches auch nachvollziehbar sein; aus dem Leitwort LORSEJAUNIT ergibt sich durch simple (allerdings systematische) Anagrammierung der vorgegebenen Lettern der folgende Text:

L’or se jaunit.
Jason rutile:
le jusant,
Orient sur la joie,
Juin,
Ors, Atlantis …

J’ourle estran où j’illusionne art-jeu.

Jason rit.
L’an sort, junien: est-il à jour?

Dominant sind hier der stimmhafte Zischlaut «j» (gesprochen: sch > jour, jeu, Jason, je, joie usf.), der Laut «r» in unterschiedlichen Konstellationen (> ar, ra, ri, or usf.) sowie der Vokal «o» (französisch gleichlautend mit «au»): sort, -onne-, or(s), orient, Jason, jaunit. – Das so erstellte Gedicht liesse sich womöglich auch durch einen Computer generieren, nicht aber genau in der Art, wie Perec es dartut, zur Darstellung bringen – mit Wortabständen, Zeilenbrüchen, Interpunktion und Neologismen. Zumindest als Arrangeur bleibt der Dichter unentbehrlich.

… Fortsetzung hier

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