Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Schreiben in Haft (Teil 3)

Schreiben in Haft

Teil 2 siehe hier

Andrerseits und letztlich sollte allerdings nicht übersehen oder verdrängt werden, dass in Haft verfasste Dichtwerke in aller Regel von dürftiger Qualität sind, konventionell und klischeehaft verfertigt, also ohne irgendwelche innovativen Ansätze – das gilt gleichermassen für die berühmten «Dreiunddreissig Sonette», die Jean Cassou 1941/1942 als Häftling des Vichy-Régimes jeweils in der Nacht notierte, für Aleksandr Solshenizyns grosse Verserzählung «Preussische Nächte», entstanden zwischen 1947 und 1952 in sowjetischer Lagerhaft als mündliche, einzig im Gedächtnis festgehaltene Dichtung, oder für Josef Čapeks sorgsam aufgezeichnete «Gedichte aus dem KZ» (Sachsenhausen, 1942-1945), die auf wundersame Weise erhalten geblieben und schon bald nach seinem Tod in hoher Auflage veröffentlicht worden sind; hier eine Musterstrophe daraus:

Am Grund des Lebens war ich, unten, in der Tiefe,
wo zwischen Leben und Entsetzen, Tod
schon keine Grenze mehr besteht; ob Tag, ob Nacht,
ob Frühlingszauber oder Winterkrallen,
dort war kein Unterschied; ein Leben ohne allen
Gehalt und Form; und es war keine gute Macht,
nein, Strafe, Fluch; ob nächte- oder tagelang,
ob sommerglühend oder frühlingsmild,
das Leben glich in nichts mehr seinem Bild,
kein stetiger Beginn, nur steter Untergang.

(deutsch von U. Heftrich)

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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