Zeitgeist als Antichrist

Bin enthusiasmiert von Joseph Roths Antichrist (1934), den ich in diesen idyllischen Maitagen zum erstenmal lese; ein Text wie von heute, wie für heute, einer der stärksten von ihm überhaupt, dazu philosophisch von höchster Aktualität – Thematik der Fake News, der ideologischen Verblendung, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, der generellen Unkultur, der Infantilisierung im Zeichen Hollywoods, im Stil Disneys. Die Schreibgeräte sind hier nicht mehr zum Schreiben, nur noch zum Streichen da; die Zungen darauf trainiert, beim Lügen die Wahrheit zu sagen und auch umgekehrt; die Menschen im Begriff, „den Göttern das Wunder abzusehn und es sogar verständlich zu machen“, wobei unablässig ein Wunder durch das andre „entweiht“ wird; und alles darauf angelegt, „das Blühende in Wüstes zu verwandeln und uns derat zu verblenden, dass wir glauben, just das Wüste sei das Blühende“ usf.
Ein auf grossartige Weise desolates, um Jahrzehnte vorweggenommenes Fazit dieser (unsrer) Zeit: „Erst seitdem ich angestellt und dafür bezahlt werde, die Wahrheit mitzuteilen, lüge ich. Und auch Sie werden eines Tages tun wie ich. Sie werden, auch wenn Sie sich weigern zu lügen, dennoch Ihre Wahrheiten derart verunstaltet finden, dass Sie es vorziehen werden, lieber selber gelogen zu haben.“ Joseph Roth spricht von der Heraufkunft einer babelschen „Verwirrung innerhalb der Klarheit“ und davon auch, dass bereits „die Wirklichkeit selbst eine Fata Morgana“ geworden sei. Der vielgesichtige Antichrist ist für ihn nichts anderes als der gestern wie heute dominante Zeitgeist, die Mehrheitsmeinung, der Massengeschmack, die Übermacht der Mediokrität, generell − die Masse Mensch.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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